Das verschwundene Böse

In der Geschichte ist viel Böses. Die Geschichtswissenschaft aber tut sich schwer damit. Warum?
Bartolomeo Manfredi (um 1587–1620/21): „Kain erschlägt Abel“, Öl auf Leinwand um 1610. Kunsthistorisches Museum Wien.
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Bartolomeo Manfredi (um 1587–1620/21): „Kain erschlägt Abel“, Öl auf Leinwand um 1610. Kunsthistorisches Museum Wien.

Es ist ziemlich leicht, das Böse in der Geschichte zu finden, nicht zuletzt das 20. Jahrhundert ist voll damit. Dennoch ist es als Erklärungsmuster in der Geschichtswissenschaft weitgehend verschwunden. Gefragt wird vielmehr nach Ursachen, Intentionen und Strukturen, nach Ereignissen, Handlungen und Folgen. Einen Überblick über eine schwierige Diskussion gibt der Historiker und ehemalige Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin, Paul Nolte.

Das Böse in der Geschichte? Aber natürlich, die Geschichte ist voll davon, nicht zuletzt von Menschen, die das Böse personifizieren. Man denkt an gewalttätige und unberechenbare römische Caesaren wie Nero oder Caligula. Noch im Jahr 2020 beschäftigte sich in Wien eine Ausstellung mit ihnen; ihr Titel: „Böse Kaiser“. Viel näher liegt die Geschichte des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt die deutsche Geschichte: der Nationalsozialismus, Adolf Hitler, Vernichtungskrieg und Massenmord an den europäischen Juden. Anfang der 1960er-Jahre erschien Hannah
Arendts Reportage vom Jerusalemer Prozess gegen Adolf Eichmann mit einem Untertitel, der zum geflügelten Wort wurde: „Ein Bericht von der Banalität des Bösen“. Das Böse war alltäglich geworden; es bedurfte des Dämonischen nicht mehr, das zuvor gerne zur Erklärung der Suggestionskraft Hitlers gedient hatte. Und in unserer Gegenwart der 2020er-Jahre erscheint das Gute oft weit entfernt, in ganz verschiedenen Perspektiven: Sei es im Blick auf aggressive Diktatoren, wie den russischen Präsidenten Putin, oder sei es in dem radikalisierten Bewusstsein, dass auch der letzte Rest dessen, was wir für Fortschritt und Segen im 20. Jahrhundert halten konnten, auf Trug und Ausbeutung gebaut war: der oftmals bescheidene Wohlstand von Nahrungsmittelsicherheit, von Heizung und warmem Wasser oder von müheloser Mobilität.

Gleichwohl: So prekär das Gute in der Geschichte geworden ist, so entschieden ist das Böse aus der Geschichte verschwunden. Moderne Geschichtsschreibung, Geschichte als wissenschaftliche Denkart und Praxis, konstituierte sich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert geradezu in der Überwindung des Bösen. Das verknüpfte sich eng mit religiösen und theologischen Veränderungen. Heinz Dieter Kittsteiner hat die Abschaffung des Teufels im 18. Jahrhundert als eine „Verinnerlichung des Bösen“ beschrieben. Das Böse war, aus menschlicher Sicht, keine externe Kraft mehr, nicht mehr der satanische Gegenspieler (oder das Alter Ego?) eines guten Gottes, sondern eine dunkle Kraft in den Menschen selber. Das war eine zutiefst protestantische Transformation, die sich eng mit der Geschichte so subjektiver und individualistischer Kategorien wie „Schuld“ und „Gewissen“ verband. Später führte sie in eine Psychologisierung des Bösen hinein, in eine Psychopathologie des krankhaft bösen Menschen, die auf gewöhnliche Verbrecher ebenso wie auf Eichmann und Stalin projiziert werden konnte.

Kompliziertes Puzzlespiel

Noch in einem anderen Sinne gründete sich moderne Geschichtsbetrachtung auf den Abschied vom Bösen und von seinem religiös geprägten Verständnis. In den Quellen nach Ursachen und Intentionen, nach Ereignissen, Handlungen und Folgen zu fragen, wie Leopold von Ranke das tat, verabschiedete die bis dahin so wirkmächtigen Theodizeen. Die Frage, wie ein guter Gott so viel Böses in der Welt zulassen könne, transformierte sich in die Suche nach menschlichen Bedingungsfaktoren, in ein kompliziertes Puzzlespiel der menschlichen Akteure. Ob man das konservativ oder progressiv auslegte, spielte erst einmal keine Rolle: Im ersten Fall verschwand das Böse in einem Chaos von Kontingenzen, im zweiten Fall in Strukturanalysen. Der historische Materialismus von Karl Marx kannte die Kategorie des Bösen nicht. Es gab Bewegungsgesetze der Geschichte, die Spannung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, Klassenkämpfe. Aber der Feudalismus oder der Kapitalismus waren nicht „böse“, umso weniger, als sie im historischen Verlauf einen Fortschritt gegenüber früherer Zeit markierten. Der Kapitalist war eine „Charaktermaske“, reaktionäre Denkweisen waren „notwendig falsches Bewusstsein“. Weil systemisch induziert, konnte daraus kein Vorwurf, kein Verdikt des Bösen gewonnen worden.

Beides, das Bohren in der Empirie der Quellen und den unendlich aufzudröselnden situativen Umständen ebenso wie der Fokus auf gesellschaftlicher Strukturanalyse, ist bis heute wirkmächtig gegen den Versuch, das Böse als Kategorie der Geschichte zu rehabilitieren. Am ehesten noch lässt sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts, besonders zwischen 1945 und den 1960er-Jahren, eine Renaissance des Bösen erkennen. Die Erfahrung des Nationalsozialismus spielte dabei eine zentrale Rolle, zunächst als Katastrophe einer Diktatur, die über die Deutschen vermeintlich hereingebrochen war, später im Bewusstsein des Judenmords, der Shoah. Den ersten Ansatz repräsentiert Friedrich Meineckes bereits 1946 publizierte Schrift „Die deutsche Katastrophe“, die über „Gutes und Schlechtes, Göttliches und Dämonisches“ in der Geschichte reflektierte und dazu aufrief, „das Giftgewächs des Nationalsozialismus auszurotten“.

Doch auch da, wo bisweilen Dämonisches dräute wie in Joachim Fests Hitler-Biografie und seinen Charakterstudien der NS-Elite als das „Gesicht des Dritten Reiches“, sucht man das Wörtchen meist vergebens. Der Untertitel von Hannah Arendts Eichmann-Buch wurde häufig missverstanden, als habe sie selber das Böse banalisieren oder mit dem Rekurs auf eine Psychologie des Durchschnittsmenschen die Frage nach Ursachen zurückdrängen wollen. Jedenfalls verschwand das Böse aus der Deutung des Nationalsozialismus sehr schnell, weil es unter Apologieverdacht geriet. Für Hans Mommsen, der wie kein anderer Historiker gegen eine Essenzialisierung des Nationalsozialismus und für eine situationistische Erklärung des Holocausts stritt, war Arendt geradezu eine Pionierin solcher Dekonstruktion des Bösen und seiner Überführung in ein Geflecht von Umständen und Opportunitätsstrukturen. Man musste nicht böse sein, um ein Ghetto „liquidieren“ zu lassen oder sich, wie Christopher Browning das für das Hamburger Reservepolizeibataillon 101 gezeigt hat, an einer Massenerschießung zu beteiligen. Als Daniel Goldhagen den Deutschen in den 1990er-Jahren einen historisch tiefsitzenden „eliminatorischen Antisemitismus“ bescheinigte, war die Kritik an solcher kollektiven Wesenszuschreibung des Bösen vehement.

Auf ähnliche Kritik stieß schon damals die „Sonderweg-These“, eine hochgradig normative, ja moralisch fundierte Sichtweise auf die deutsche Geschichte zwischen fehlender beziehungsweise gescheiterter Revolution und Nationalsozialismus: Deutschland sei nicht dem guten und richtigen Weg der westlichen Demokratien gefolgt, sondern habe sich auf einen illiberalen, autoritären, in der Konsequenz diktatorischen und gewalthaften Weg in die Moderne begeben, mit Zwischenstationen bei Bismarck und Wilhelm II. Doch so sehr die Sonderweg-Erzählung ein Gutes kannte – oder vielmehr: zu kennen glaubte, in ihrer Idealisierung zumal der Geschichte der USA –, so wenig hatte sie mit einem Rekurs auf das Böse am Hut, denn die Ursachen der Fehlentwicklung sah sie in gesellschaftsstrukturellen Konstellationen wie einer Schwäche des Bürgertums oder der Dominanz ostelbischer Adelseliten. Nur kurz flackerte ein Interesse an „Psychohistorie“ auf, denn nach individuellen Pathologien wollte man gerade nicht suchen.

Jede Naturalisierung von Verhalten war der Geschichtswissenschaft suspekt, und so ist es bis heute geblieben. Fast zeitgleich mit Hannah Arendt veröffentlichte der berühmte Verhaltensforscher Konrad Lorenz 1963 seine Schrift über „Das so genannte Böse“. Auch das war im Grunde eine Dekonstruktion: „Das Böse“ gab es nicht, sondern nur artspezifisches Verhalten, das bisweilen aggressiv sein konnte. Wenige Jahre später dominierte die Neue Linke das intellektuelle Klima; in ihr Weltbild passte eine Naturalisierung des Bösen nicht, die unter Konservatismusverdacht geriet. Heute ist allenfalls noch von einem „skeptischen Menschenbild“ die Rede: Darin mag eine letzte Schrumpfform der Zuschreibung des Bösen erkennbar sein.

Glorifizierung des Westens

Oder man sieht es so: Die Geschichte des Bösen in den letzten Jahrzehnten führt über verschiedene Weggabelungen. Dazu gehört die Differenzierung nationaler Diskurse. In den USA ist das Böse eine durchaus zentrale Kategorie der politischen Sprache, seit Ronald Reagan im März 1983 in eine Rede vor der National Association of Evangelicals (also in einem protestantischen, aber zugleich konservativen Umfeld) die Sowjetunion ein „evil empire“ nannte. Das manichäische Weltbild, in dem solches Denken verankert ist, wurzelt tief in der amerikanischen Geschichte und ist zugleich auch außerhalb des Westens zur wesentlichen Signatur des Fundamentalismus geworden, des christlichen wie des islamischen; es dient der Glorifizierung des Westens ebenso wie dem Hass auf ihn. In weiten Teilen Europas, ganz gewiss in Deutschland, ist das kaum anschlussfähig. Überhaupt ist das Böse hier aus der Welt von Geschichte, Politik und Gesellschaft ausgeschieden. Ersatzweise wird es seit einigen Jahrzehnten intensiv in der Literaturwissenschaft und in der philosophischen Ästhetik verhandelt. Seit der Zeit um 1800, vor allem seit der Romantik, sei das Böse, das Hässliche, das Gewaltsame und das Eklige als eine autonome ästhetische Kategorie möglich geworden, so haben auf unterschiedliche Weisen Karl Heinz Bohrer, Susan Neiman und Peter-André Alt argumentiert. Das ist ein Spiegelbild jenes Übergangs von Teufel und Theodizee zur Geschichtswissenschaft, von dem schon die Rede war. Die Geschichte, oder allgemeiner gesprochen: die reale Menschenwelt, hat für das Böse keine Verwendung mehr; so bleibt dem Bösen nur die Welt von Literatur und Kunst. Hier bleibt das Böse diskursfähig, und hier, in einer Theaterinszenierung oder in einer Installation zeitgenössischer Kunst, können wir unsere Sehnsucht nach dem Bösen befriedigen. Womit natürlich gemeint ist: unser Bedürfnis, über das Böse zu kommunizieren. Denn die Geschichtswissenschaft, die Soziologie, die Politikwissenschaft stehen dafür nicht zur Verfügung.

Allenfalls kann man, wie schon das „skeptische Menschenbild“ angedeutet hat, Schrumpfformen und Ersatzdiskurse benennen. In der intellektuellen Linken, wo das Vertrauen in den Fortschritt der Menschheitsgeschichte endgültig brüchig geworden ist, hört man dieser Tage häufig von der „Regression“. Statt Fortschritt zum Guten hat die Geschichte gewissermaßen den Rückwärtsgang eingelegt. Das ist normativ hochgradig aufgeladen, doch Regression ist – im Grunde nicht anders als die „Konterrevolution“ – zwar schlecht, aber nicht böse. Ähnliches gilt für die Konjunktur des Katastrophenbegriffs, selbst dann, wenn man der Gefahr widersteht, die Katastrophe als von außen hereinbrechendes Unheil zu sehen statt als Folge falschen menschlichen Handelns wie in der Nuklear- oder Klimakatastrophe. Restbestände und Transformationen des Bösen schließlich tragen auch heute noch religiöse Sprache und theologische, ja protestantische Schichten mit sich herum. Das gilt für den Ikonoklasmus der „Cancel Culture“ als Versuch einer Reinwaschung der Gegenwart vom Bösen der Vergangenheit. Und es gilt für dasjenige Surrogat des Bösen, das in der deutschen Geschichts- und Gegenwartskultur in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus seit den 1980er-Jahren so überragende Bedeutung gewonnen hat: die Anerkenntnis von Schuld – und die daraus folgende Übernahme von Verantwortung.

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