Das ganze bunte Leben

Vom Wert des Predigtnachgesprächs

Es liegen gerade viele große Themen auf der Straße. Das liegt zum Teil daran, dass vor dem Sommerurlaub Vieles noch mehr oder weniger schnell erledigt werden sollte – Gesetze im Bundestag wie die Entwürfe zur Suizidbeihilfe und zum Heizungsgesetz, abschließende Bewertungen zum Kirchentag und seiner Predigt im Abschlussgottesdienst oder Empfehlungen zu Maßnahmen gegen die erschreckenden Austrittszahlen. „Vor den Ferien drehen viele gern durch“, pflegt eine mir nahezustehende Person in solchen Zeiten gern zu sagen. Angesichts dieser ohne Zweifel treffenden Beobachtung muss man eigentlich sehr dankbar dafür sein, dass über die Gesetzesentwürfe zur Suizidbeihilfe auf sehr hohem Niveau debattiert wurde, der Nürnberger Kirchentag ebenso wie seine Abschlusspredigt oft überaus nüchtern und sachlich analysiert wurden und viele offen Ratlosigkeit eingestanden haben angesichts neuer Schreckenszahlen von Kirchenaustritten.

 Allerdings gab es natürlich trotzdem viel unsinnige, hektische Aufgeregtheit in allen Fällen – und deswegen habe ich beschlossen, in meiner Kolumne vor den Ferien einen Beitrag zur Beruhigung der Lage zu leisten und über keines der großen Themen zu schreiben und auch nicht über das Studium der Theologie, über das ich als Theologieprofessor eigentlich auch einmal dringend angesichts einer mal mehr, mal weniger glücklichen Debatte schreiben sollte.

Ich möchte eigentlich nur in einer Miniatur von einem Erlebnis der letzten Woche berichten, das mich glücklich gemacht und fröhlich gestimmt hat. Ich war am vergangenen Sonntag als Gastprediger in einem wunderschönen mittelalterlichen Dom in der Nähe von Berlin eingeladen und erlebte einen mit viel Engagement wie Talent durch die Ortspfarrerin vorbereiteten Gottesdienst, eine großartige barocke Orgel, beeindruckend gespielt und eine ebenso muntere wie sangesfreudige Gemeinde. Schon das war begeisternd genug und hätte vollkommen ausgereicht für einen unvergesslichen Sonntag in der langen Reihe nach Trinitatis.

Zauberhafte Einrichtung

Aber es gab eine Zugabe, die es in sich hatte. Die Pfarrerin hatte schon in der ersten Korrespondenz etwas besorgt gefragt, ob ich wohl Zeit für ein Predigtnachgespräch hätte. Natürlich hatte ich. Aber ich hatte ganz vergessen, was für eine zauberhafte Einrichtung ein Predigtnachgespräch ist und darum soll es in dieser Kolumne gehen.

Ich habe im Laufe meines Lebens in vielen Kirchen Gottesdienste (mit) gestaltet und gepredigt, an meinem Wohnort, in der Gemeinde, deren Mitglied ich bin, als Gast eingeladen wie am vergangenen Sonntag, als Professor in Universitätsgottesdiensten und als Ordensdekan des Johanniterordens und seiner Werke. Ich habe es mir zur Regel gemacht, mich immer am Ausgang zu verabschieden, auch dort, wo das noch nicht üblich war (wie im Heidelberger Universitätsgottesdienst, als ich dort seit 1999 tätig war; die Väter dieser Gottesdienstform aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts empfanden Händeschütteln als „Durchbrechen der priesterlichen Rolle“ und schlossen jeden Gottesdienst mit einem gemeinsamen Sakristeigebet aller Mitwirkenden).

 Am Ausgang erlebt man immer wieder kurze Reaktionen, Worte und Gesten, manchmal auch den Versuch, zwischen zwei Händedrucken präzise Kritik an den Mann zu bringen. Viel Zeit ist nicht, denn andere warten auf ihren Händedruck – oder seit der Corona-Pandemie wenigstens auf eine Verbeugung und Segenwünsche für den Sonntag und/oder die kommende Woche.

Kaffee, Tee, Wasser, Bier

Vergangenen Sonntag schloß sich an die Verabschiedung ein Predigtnachgespräch an, das angekündigte, das vor Ort offenbar regelmäßig stattfindet. Die Pfarrerin lud dazu nicht nur in den Abkündigungen ein, sondern auch bei der Verabschiedung vor dem großen gotischen Portal des Domes noch einzelne Besucherinnen und Besucher. Man ging dann gemeinsam über den großen Hof vor der Kirche und durch ein Café am Platz zu einem abgeschlossenen Nebenraum. Eine Kellnerin erschien, man konnte Kaffee, Tee und Wasser, aber auch Bier bestellen. „Ich stamme aus Bayern, ich liebe den Frühschoppen nach der Kirche“, sagte der Mann neben mir und bestellte sich ein großes Weißbier.

Ich war nicht nur für die Möglichkeit, Kaffee nach dem Gottesdienst zu trinken, herzlich dankbar, sondern auch für die Gelegenheit, zunächst einmal einfach in der Runde um den Tisch herum (es waren vielleicht zehn Personen) ins Gespräch zu kommen. Zwei saßen an der Tafel, die wollten in dem Dom in nächster Zeit heiraten und erzählten, was sie in die Gemeinde gebracht hatte. Eine Frau, die wochentags durch den Dom führt, berichtete von ihren Erfahrungen mit den ungeduldigen wie den von Anfang an interessierten Touristen.

Das Gespräch selbst begann gar nicht bei meiner Predigt. Die Pfarrerin fragte vielmehr, wie es den Anwesenden mit dem Thema der Predigt (die zu einer besonderen Reihe eigens ausgewählter Predigttexte gehörte, die unter dem Motto „angesehen“ standen) ergangen sei in ihrem bisherigen Leben. Erst in einem zweiten Gang grenzte sie ein auf die Erfahrungen mit dem spezifischen Predigttext des Sonntags und der Predigt selbst.

Aus der Werkstatt

Die Anspannung, wie wohl der versammelten Gemeinde gefallen haben mochte, was ich für sie vorbereitet hatte, löste sich schnell. Neugierig hörte ich zu. Fragte mich auch bald nicht mehr, was wohl von meinen Gedanken wie angekommen war, sondern lauschte den so unterschiedlichen Erfahrungen mit einem zentralen Thema christlichen Lebens, der Frage, wie wir angesehen werden und andere ansehen. Man hörte einander zu, auch bei unfertigen Gedanken und ehrlichen Geständnissen. Und so machte es mir auch Vergnügen, über die Motive Auskunft zu geben, warum ich was wie gesagt hatte und welche Gedanken ich warum verworfen hatte. Darüber rede ich normalerweise eher selten, auch deswegen, weil ich niemand behelligen möchte mit Einblicken in eine Werkstatt, in der immer wieder einmal auch gehobelt wird und nicht nur Späne fallen.

Nach einer reichlichen halben Stunde beendete die Pfarrerin das Gespräch, übergab mir ein höchst aufmerksam ausgesuchtes Geschenk und verabschiedete mich. Ich musste wieder nach Berlin, aber das Gespräch innerhalb der Gemeinde ging offenbar weiter – jedenfalls stand niemand außer mir auf und folgte mir aus dem Raum. Das Predigtnachgespräch hat mich  begeistert und ich beneide die Pfarrerinnen und Pfarrer dieser Gemeinde um diese wunderbare Gelegenheit, den Gottesdienst und seine Bestandteile (nicht nur die Predigt – auch der Organist nahm am Gespräch teil) nachklingen zu lassen. Ganz gleich, ob man nun beim Bier zum Frühschoppen zusammensitzt oder beim Kaffee und Tee oder mit einem Becher in der Hand wie beispielsweise vor der erwähnten Heidelberger Universitätskirche: So bildet sich nicht nur bei Pfarrpersonen ein besseres Bild ihrer Gottesdienstgemeinde, sondern so bildet sich eine gottesdienstliche Gemeinde, jedenfalls der Kern einer gottesdienstlichen Gemeinde.

Lange habe ich gedacht, dass ein Predigtnachgespräch nur in eher intellektuell geprägten Stadtgemeinden funktioniert, beispielsweise in der Berliner Gemeinde, in der ich aufgewachsen bin und von der ich oft rede, weil sie und ihre Pfarrer mich in vielfacher Hinsicht geprägt haben. Ich war unendlich dankbar, dass es zu meiner allerersten Predigt als Student, für die ich mit zitternden Knien die alte barocke Bauernkanzel erkletterte, nicht nur ein Nachgespräch, sondern auch ein Vorgespräch gab. Predigen kann man nicht in Seminaren jedweder Art lernen, sondern nur durch lange Erfahrung und das Mitleben mit den Menschen, für die man einen Text auslegt. Die märkische Domgemeinde ist sicher keine zuerst intellektuell geprägte großstädtische Gemeinde mit Professorinnen und Beamten von Bundes- oder Landesministerien. Zugezogene, Einheimische, vom Leben eher Enttäuschte, Menschen in frischen Liebesglück, das ganze bunte Leben, nichts besonders und doch ganz besonders schön. Auch und gerade in solchen Gemeinden kann man, wie ich nun weiß, herrliche Predigtnachgespräche führen.

Klassische Formate

Ich befürchte, dass über meine Zeilen viele Kolleginnen und Kollegen herzlich lachen werden. „Man merkt, dass er in der Wissenschaft tätig ist und kein Gemeindepfarrer. Das wissen wir doch schon längst“. Mag sein. Aber übermäßig viele Kolleginnen und Kollegen können es nicht sein, denn übermäßig viele solcher Gesprächsrunden und Frühschoppen kann es nicht geben. Ich müsste es wissen, denn ich komme viel herum. Und wäre geblieben, wenn es etwas Entsprechendes gegeben hätte.

Mir ist klar, dass neunmalkluge Ratschläge zur Neuorganisation des Gemeindelebens eigentlich nirgendwo gebraucht werden und einen entsprechenden Ratschlag will ich auch gar nicht geben. Ich will nur vom Wert des Predigtnachgesprächs Zeugnis ablegen, der mir erneut und in umfassenderen Sinne am vergangenen Sonntag deutlich geworden. Und vorsichtig zurückhaltend darauf hinweisen, dass ganz klassische Formate – gute Gottesdienste, präzise vorbereitete Predigten, überlegte Liedauswahl, spezifische Gottesdienste für bestimmte Alters- und Berufsgruppen und eben ein Predigtnachgespräch – natürlich nicht die Trendwende bei den Austrittszahlen auslösen werden, aber die Gemeinde besser beieinander zu halten hilft.

In unseren Berufsanfangsjahren haben meine Frau und ich manchmal Gottesdienstbesucherinnen und Besucher zu uns nach Hause zum Kaffee eingeladen; manchmal war ich von dem Format Gottesdienst so überanstrengt, dass ich einfach nur noch in die Badewanne wollte. Natürlich können nicht alle alles, aber vielleicht stimmt auch meine Vermutung, dass mehr Predigtnachgespräch können, als es sich gegenwärtig zutrauen. Und vielleicht kostet ein Predigtnachgespräch auch weniger Kraft, als dass es vielmehr Kraft schenkt.

Am Sonntag bin ich wieder in einem Gottesdienst einer Gemeinde zu Gast und darf predigen. Es ist eine deutsche Auslandsgemeinde in einer südlichen Stadt, die ich sehr liebe, in der es im Sommer aber recht heiß werden kann. Ich freue mich aber schon jetzt auf die kühlen Getränke, die es nach dem Gottesdienst im Gemeindegarten geben wird. Da geht es um die Predigt aus dem voraufgehenden Gottesdienst, aber auch darum, was in der vergangenen Woche passiert ist und in der nächsten ansteht. So habe ich das während meiner Studienzeit in der deutschen Gemeinde der Erlöserkirche in Jerusalem erlebt, so erlebe ich es in Rom. Könnte das nicht auch für andere Orte ein Exportschlager sein, der vor Schrumpfungskitsch (so Annette Kurschus beim Johannisempfang der EKD 2023 kritisch über selbstverliebte pseudo-theologische Rechtfertigungen der abnehmenden Zahlen) ebenso bewahrt wie vor wohlfeilen, billigen Pseudo-Rezepten aus der Praxis für „die Praxis“, die auch nicht weiterhelfen. Nochmals: Ich jedenfalls freue mich auf das Nachgespräch am Sonntag.

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