Das Bleiben der anderen akzeptieren

Frieden im Heiligen Land? Ein Blick aus palästinensischer Perspektive
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"Wird nie Frieden im Heiligen Land?" Diese Frage stellen wir angesichts des Terrorangriffes der Hamas und der Gegenwehr Israels mehreren kundigen Menschen aus Kirche, Religion und Politik. Hier die Antwort von Jens Nieper. Der Theologe war viele Jahre Referent der EKD und des Berliner Missionswerk mit dem Schwerpunkt Naher Osten.

Die widerlichen Angriffe von Schergen der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Djihad auf Israel sind gerade zehn Tage her. Die militärische und politische Lage kann jeden Tag, ja jede Stunde eine andere sein. In dieser fragilen Situation hat mich zeitzeichen gefragt, aus meiner Perspektive über die palästinensische Sicht der Dinge zu schreiben. Dem komme ich schweren Herzens nach, denn ich weiß, dass es diese Perspektive im Moment schwer hat.

Als ich für die EKD tätig war, habe ich gelernt, dass es eine sinnvolle Rolle der Kirche in einem Konflikt sein kann, den Konfliktparteien jeweils die Sichtweise der Gegenseite nahezubringen. Denn von dritter Seite hört man offenbar Argumente anders als vom Gegenüber selbst. Diesen Kurs setze ich gerne fort und versuche daher, während sich bei uns absolut verständlich die große Mehrheit an der Seite des brutal angegriffenen Israels versammelt, die palästinensische Perspektive einzubringen, wie ich sie kennengelernt habe. Anderen Denkmustern mit Offenheit zu begegnen, ohne diese gleich zu akzeptieren. Zuhören, ohne gleich zu urteilen. Auch befremdliche Argumente wahrzunehmen und zu bedenken. All dies sind wichtige Verhaltensweisen in der ökumenischen, ja interkulturellen Arbeit.

Schüler erschossen

Mit palästinensischen Oberstufenschüler:innen habe ich vom Dach ihrer Schule in Beit Jala nach Westen geblickt. Die Luft war klar, man konnte bis zum Mittelmeer blicken. Dort, am Meer, war noch keiner dieser jungen Menschen. Keine und keiner hat dazu je eine Erlaubnis durch die israelische Militärverwaltung erhalten. Weshalb? Vom Haus eines christlichen Palästinensers in Bethlehem, der mich eingeladen hat, kann man bis zur Altstadt Jerusalems blicken. Mein Gastgeber ist in meinem Alter, Anfang Fünfzig. Mit meinem deutschen Pass kann ich in zwanzig, dreißig Minuten dort an den heiligen Stätten sein. Er hat noch nie die Genehmigung erhalten, die Orte des Todes und der Auferstehung Jesu Christi zu besuchen. Weshalb?

In einer nahen Schule eine Trauerfeier: Ein Schüler ist bei einer Razzia des israelischen Militärs in dem Flüchtlingslager, in dem er lebte, erschossen worden – wohl, weil ein Soldat die Cola-Dose in seiner Hand für eine Waffe hielt. Nicht viel später die Trauerfeier für einen anderen Schüler: er wurde am Straßenrand aus einem vorbeifahrenden israelischen Fahrzeug erschossen. Strafermittlungen gab es meines Wissens in keinem der Fälle. Und in den deutschen Medien wurde über diese Toten auch mit keinem Wort berichtet. Weshalb?

Die Liste solcher Episoden ist lang: die Familie, die am israelischen Grenzübergang jede Nuss aus einer Tüte, die ein Mitbringsel für deutsche Freunde sein soll, aufknacken muss; eine andere Familie, deren Garten enteignet wird, weil das Tal, in dem das Grundstück liegt, von Israel zum Naturschutzgebiet erklärt wird – und nun entsteht genau dort eine jüdische Siedlung …

Wie kocht man einen Frosch?

Wie kocht man einen Frosch? Nicht, indem man ihn in kochendes Wasser wirft. Da springt er sofort wieder aus dem Topf. Sondern man setzt ihn in wohltemperiertes Wasser und erhöht dann schrittweise die Temperatur. Viele Palästinenser fühlen sich wie ein solcher Frosch. Seit über 56 Jahren erleben sie, wie die „Temperatur“ für sie kontinuierlich hochgefahren wird. Sie erleben Willkür und Unfreiheit, Diskriminierung und Entrechtung. Ihre Bewegungsfreiheit wird in kleinen Schritten immer weiter eingeschränkt. Mehr und mehr Land wird ihnen genommen. Fast täglich kommen Palästinenser durch israelische Sicherheitskräfte und jüdische Siedler ums Leben – und die Opfer sind keineswegs nur gestoppte Attentäter. Von diesen Getöteten wird nur noch selten in unseren Medien berichtet. Laut UNO war 2022 das opferreichste Jahr für Palästinenser seit 2005.

All dies rechtfertigt in keinster Weise die widerlichen Untaten, die am 7.Oktober stattfanden. Dafür gibt es keine Rechtfertigung, keine Begründung! Aber diese Beispiele beschreiben eine Problemlage, die durch die Massaker nicht verschwunden ist oder bedeutungslos wurde. Spätestens wenn die israelische Armee den Kampf gegen die Hamas abgeschlossen hat, stellt sich ja die Frage, wie es mit Israel und den Palästinensern weitergehen soll.

Grausiges Wüten der Hamas

Selbstverständlich ist der Staat Israel nicht an allen Missständen schuld, unter denen die Palästinenser leiden. Die Korruption und Untätigkeit der eigenen Führung, die zunehmend sich autoritär geriert, die lähmende Wirkung traditioneller Gesellschaftsstrukturen und das Fehlen jedweder palästinensischen Friedensinitiative sind nur einige der Faktoren, die zu der vermaledeiten Situation des palästinensischen Volkes beitragen. Und die meisten Palästinenser sind sich dessen durchaus bewusst. In einer unfreien Gesellschaft lässt sich dieses Wissen nicht so leicht artikulieren und schon gar nicht in Handeln umsetzen.

Das grausige Wüten der Hamas hat auch die kleinen verbliebenen Chancen für einen israelisch-palästinensischen Frieden vorerst zerstört. Auch, was dazu in Deutschland geschieht und aus Deutschland beigetragen wird. Denn es ist keine gute Zeit, um palästinensische Aspekte im Diskurs zu benennen. Differenzierungen haben es schwer. Anfeindungen und Beleidigungen habe ich in den vergangenen Tagen diesbezüglich laufend erhalten. Viele setzen aktuell augenscheinlich „Palästinenser“ pauschal mit „Hamas“ und „Terror“ gleich. Die Hamas hat nur den Extremisten gedient – den arabischen wie den jüdischen.

"Am Ende werden wir Frieden haben"

Aktuell erlebe ich, dass sich nicht nur Juden in Israel und in aller Welt, sondern auch viele Palästinenser Sorgen machen und Angst haben, wie es nun weitergehen wird. Denn die meisten Palästinenser wünschen sich eigentlich das gleiche wie die Israelis, die nur ein paar Kilometer entfernt leben: Ein Leben in Frieden und Sicherheit, Freiheit und etwas Wohlstand. Ein Leben in Würde.

Deshalb halte ich an einer Friedenshoffnung für Israel und Palästina fest. Nötig für einen Frieden ist, dass Israelis und Palästinenser akzeptieren, dass die anderen nicht verschwinden werden. Israel wird bleiben und die Palästinenser werden weiter da sein. An dieser Einsicht hapert es bei noch zu vielen auf beiden Konfliktseiten.

Und dann werden einmal zwei führungsstarke, glaubwürdige und mutige Menschen in Israel und Palästina die Macht und Möglichkeit haben zu sagen: „Wir wählen nun einen der zig Friedenspläne, die in den Schubladen liegen, aus und werden diesen konsequent umsetzen. Trotz vieler Widerstände, trotz Gewalt. Wir werden unseren Völkern sagen, dass das Verzicht und Kompromisse beinhaltet – für beide. Aber am Ende werden wir Frieden haben.“

Lesen Sie hier den Beitrag von Christian Staffa, Beauftragter der EKD für den Kampf gegen Antisemitismus.

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Jens Nieper

Jens Nieper ist evangelischer Gemeindepfarrer in Dortmund und war zuvor unter anderem Referent bei der EKD für den Nahen und Mittleren Osten sowie für die kirchlichen Weltbünde, und er ist Vorsitzender des Unterausschusses für den Nahen und Mittleren Osten der Evangelischen Kirche von Westfalen.  


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