Das Herz hat keine Demenz

Gärten bringen mehr Lebensqualität für kranke Menschen
Natur und Garten regen die Sinne an. An Demenz Erkrankte finden damit ein Stück zurück ins Leben, sie ertasten pieksiges Heu oder weiche Gräser, schmecken reife Beeren vom Strauch oder pflanzen Blumen in die Erde.
Foto: Martin Egbert

Ulrike Kreuer gestaltet Gärten für Demenzkranke in ganz Deutschland. Vor allem aber bringt sie die Menschen damit therapeutisch in Berührung. Ihre Brücke ist die Natur. Die Journalisten Klaus Sieg und Martin Egbert haben sie in Ratingen besucht.

Wie unterschiedlich diese Krankheit wirkt. Eben hat Ulrike Kreuer weiße Karten und doppelseitiges Klebeband verteilt. Auf dem Tisch liegen Heu und frisches Gras, Farnspitzen, Löwenzahnblätter, Rosenblüten und Gänseblümchen. Nun ermuntert die Gartentherapeutin die Teilnehmer dazu, daraus etwas zu gestalten. Manche greifen gleich hinein in den bunten Haufen. Ein älterer Herr in blauer Traningsjacke dagegen richtet seine Karte immer wieder parallel zur Tischkante aus. Er scheint die Ordnung zu lieben und das bunte Natur-Sammelsurium auf dem Tisch überhaupt nicht wahrzunehmen. Später wird er vorsichtig einen Grashalm aus dem Haufen ziehen und ebenfalls nach der Tischkante ausrichten. Frau Backhus dagegen friert und möchte in ihr Zimmer gebracht werden. Wie einige andere musste sie dazu überredet werden, überhaupt heraus in den Garten zu kommen. Für sie scheint die Welt draußen nur noch eine Bedrohung. Erlerntes, Erfahrenes, Vertrautes sind verblasst hinter einem grauen Schleier des Vergessens. So wie auch bei ihrer Nachbarin, sie hält zwei Karten in den Händen, die sie mit großen, ängstlichen Augen anstarrt. Nicht nur die Anregung zum Basteln scheint sie zu überfordern.

Ängstliche Augen

Bernhard Bongard dagegen umkreist die Gruppe wie ein Hütehund und haut unentwegt markige Sprüche heraus: „Ich halte mich da raus, Grünzeug kenne ich nur unter dem Rasenmäher.“ Der ehemalige Messtechniker hat Haus und Garten. Er ist fest davon überzeugt, dort bald wieder hinzukommen. Man möchte ihm zustimmen. Seine Demenz im Frühstadium ist auf den ersten Blick kaum zu erkennen. Trotzdem hat es zuhause nicht mehr geklappt.

Demenzgärten
Foto: Martin Egbert

Natur und Garten regen die Sinne an. An Demenz Erkrankte finden damit ein Stück zurück ins Leben, sie ertasten pieksiges Heu oder weiche Gräser, schmecken reife Beeren vom Strauch oder pflanzen Blumen in die Erde.

Im St. Marien Krankenhaus und Altenheim in Ratingen können diese so unterschiedlichen Menschen mit ihren nicht weniger unterschiedlichen Krankheitsverläufen in einer offenen Wohngruppe für Demenzkranke wohnen. Oder eben im Altenheim. Andere sind in einer geschlossenen Station untergebracht. Ulrike Kreuers Angebot richtet sich an alle. Sie gestaltet Gärten für Demenzkranke in ganz Deutschland. Vor allem aber bringt sie die Menschen damit therapeutisch in Berührung. Ihre Brücke ist die Natur. Und das nicht nur, weil viele ältere Menschen eine biografische Verbindung dazu haben, durch einen Kleingarten oder eine Kindheit auf dem Lande. „Wir und die Natur gehören zusammen.“
Vielleicht spüren die Menschen Glück im Garten oder erinnern sich an ein geselliges Essen.
Foto: Martin Egbert

 

Ulrike Kreuer greift in ein duftendes Heubündel voller gebrochener, kitzelnder, faseriger, biegsamer, weicher aber auch pieksiger Halme. „Schon der Duft regt die Sinne an.“ Darum geht es in ihrer gartentherapeutischen Arbeit: Impulse geben für Menschen, die wie unter einer Glocke der Abwesenheit, Gleichgültigkeit, des Abdriftens und des Verlustes ihres bisherigen Lebens leben. Mit den richtigen Impulsen kann dieser Schleier für einen Moment Löcher und Risse bekommen, durch die wieder etwas anderes durchscheint. Das kann sehr klein beginnen. Und den Menschen doch ein Stück wieder in sein Leben holen, zu sozialen Kontakten, Erinnerungen, Wahrnehmungen und Emotionen. „Selbst wenn jemand nur einen Grashalm an der Tischkante ausrichtet, ist das doch auch ein Zeichen für einen Impuls, der angekommen ist und aus dem sich etwas entwickeln kann“, sagt Ulrike Kreuer.

Demenzgärten
Foto: Martin Egbert

Vielleicht spüren die Menschen Glück im Garten oder erinnern sich an ein geselliges Essen.

 

Seit vielen Jahren beschäftigt sich die Gartenbauingenieurin mit den therapeutischen Möglichkeiten von Gärten, ob für Frauenhäuser, Altenheime oder Einrichtungen für Drogenabhängige. Davor war sie einige Zeit im Entwicklungsdienst in Bolivien tätig. Mit der Gründung ihres Unternehmens „Der dritte Frühling – Gärten für Menschen mit Demenz“ legt sie nun seit rund 20 Jahren den Schwerpunkt auf diese Krankheit, die so viele Menschen und ihre Angehörigen betrifft.

Neue Gartentherapie

„Ohne Verstand“ heißt das lateinische demens übersetzt, aus dem sich der Begriff ableitet. Doch so einfach verhält es sich nicht. Ist die Demenz doch eine Kombination sehr verschiedener Symptome des zunehmenden Abbaus kognitiver, emotionaler oder sozialer Fähigkeiten. Und das mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen. Auch befällt sie mitnichten ausschließlich ältere Menschen.

Ulrike Kreuer geht auf jeden ein, geduldig, genau, einfühlsam, mit Humor, Geschicklichkeit und grünem Daumen. Sie bündelt Heu zu einer struppigen Wurst, die sie Margret Pooschke in die Hand drückt. Auch Margret Pooschke wollte anfangs nicht mitmachen, saß zusammengesunken und teilnahmslos in ihrem Rollstuhl und starrte vor sich hin ins Leere. Trotzdem ist sie geblieben. Nach einer Weile dann betastete sie vorsichtig und wie in Zeitlupe die Blumenkarte einer anderen Teilnehmerin, die diese schnell und zielstrebig gestaltet hatte. Ulrike Kreuer hatte das beobachtet und nutzt dieses Fenster. Margret Pooschke beginnt die Heuwurst zu betasten und wird immer lebendiger. Wenig später scheint der graue Schleier wie weggezogen. Geschichten und Anekdoten sprudeln aus ihr heraus, Lustiges und Schönes, aber auch Bitteres und Traumatisches. Die beiden stellen ihre gemeinsame Herkunft aus der Eifel fest, nehmen sich in den Arm, reden und lachen. Margret Pooschke wirkt wie wachgeküsst, sie hat wieder ein Verhältnis zu sich, erkennt sich wieder und erinnert sich an ihre Beziehungen zu Menschen. Aufgedreht erzählt sie von Nachmittagen auf dem Heuboden und von ihren Geschwistern, während sie weiter die Heuwurst knetet. Dass daraus später eine Vogelscheuche für den Garten werden soll, spielt schon lange keine Rolle mehr. „Von den gärtnerischen Aufgaben her wäre ich hier nach zwei Stunden fertig“, sagt Ulrike Kreuer schmunzelnd.

Nachmittage auf dem Dachboden

Ulrike Kreuer kommt von außen. Sie muss keine pflegerischen Aufgaben erfüllen, hat einen unverstellten Blick. Sie kann Situationen laufen lassen, ohne zu früh einzugreifen, verfügt über eine große Empathie. Auch deshalb kann sie so gut Impulse geben. Und sie sprudelt über vor Ideen. Sogar über Nacht gezeltet hat sie schon einmal auf dem Gelände eines Altenheimes. In der ansonsten bleischweren Zeit am Abend, nach dem in solchen Einrichtungen üblichen frühen Essen, sind die Bewohner, anstatt auf ihren Zimmern zu bleiben, in den Garten heruntergekommen, um zu erkunden, was vor sich geht. Schnell kamen die Erinnerungen an Zeltlager und Urlaube auf dem Campingplatz und damit an ein Stück eigener, an die Demenz verlorener Geschichte. „Das Herz hat keine Demenz“, sagt Ulrike Kreuer.

Demenzgärten
Foto: Martin Egbert

 

Wie aber gestaltet sie eigentlich einen Garten für Demenzkranke? Vorbei an einem Anhänger voller Neupflanzen und großen Haufen mit Mulch und Mutterboden führt sie in den 600 Quadratmeter großen Garten des Innenhofes der Einrichtung. Ulrike Kreuer drückt eine Tür auf und breitet die Arme aus. „Der Garten sollte sich offen ausbreiten, leicht zugänglich sein und eine einfache Orientierung bieten.“ In der Mitte plätschert ein Bach, ein Rundweg führt entlang von Beeten voller sinnlicher Anregungen. Thymian, Salbei oder Rosmarin duften intensiv. Im Vorbeigehen fährt Ulrike Kreuer mit der geöffneten Hand durch Gräser, Farne und andere Pflanzen mit gefiederten Blättern. Wie unterschiedlich sie sich anfühlen. Ein Hochbeet mit zehn Sorten Minze, Schnittlauch, Erdbeeren und vielen anderen Esspflanzen lädt zum Naschen ein, so wie auch die verschiedenen Beerensträucher. Für einen früheren Hochschulprofessor die einzige wirksame Anregung. Er ist Anfang sechzig und an frontotemporaler Demenz erkrankt. Diese seltene Form kann früh auftreten, sie verändert Persönlichkeit und soziales Verhalten. Nur widerwillig lässt er sich von einem Pfleger zusammen mit einer anderen Patientin in den Garten führen, verharrt mit verrenktem Körper am Rande, stratzt mit ungelenken Bewegungen davon, um abrupt wieder irgendwo stehen zu bleiben. Dann stellt er sich vor Ulrike Kreuer, Gesicht zu Gesicht, und starrt sie an. Die Gartentherapeutin nimmt eine Himbeere und schiebt sie ihm in den Mund. Neugierig beginnt der Mann zu kauen. Für einen Moment scheint seine manische Unruhe unterbrochen. Vielleicht spürt er Glück oder erinnert sich an ein geselliges Essen. „Manchmal muss ich einfach darauf vertrauen, dass die Natur wirkt“, sagt Ulrike Kreuer.

Am Nachmittag dann gibt es wieder Aktion für einen größeren Kreis Bewohner, die nach Kaffee und Kuchen herausgekommen sind. Die Neupflanzen vom Anhänger sollen in die Beete. Heu zum Binden von Erntekränzen liegt auf einem Tisch bereit. Ulrike Kreuer setzt sich auf eine der Bänke. „Ich warte ab, damit die Menschen initiativ werden können“, erklärt sie entspannt und fügt lächelnd hinzu: „Kann aber auch sein, dass ich um 17 Uhr die ganze Arbeit alleine machen muss.“Danach sieht es nicht aus. Bernhard Bongard, der ehemalige Messtechniker, nimmt eine der Hacken und beginnt Mutterboden und Dünger zu verteilen. Natürlich nicht, ohne eine ganze Salve kerniger Sprüche abzufeuern. Am Tisch sitzt Marith Böcker. Früher hätte man sie tüdelig, vergesslich oder verkalkt genannt. Aber mit guter Laune. „Herrlich, ich bin an der frischen Luft und habe etwas zu tun“, ruft sie begeistert aus. Dann hält sie ihrer Nachbarin ihren Kranz hin, damit diese ihn mit einem Band umwickelt. „Können wir auch noch etwas anderes flechten, ein Herz zum Beispiel?“ Schnell steigen andere Damen an ihrem Tisch mit ein.

Die Beete im Garten werden unter Anleitung von Ulrike Kreuer bepflanzt.
Foto: Martin Egbert

Die Beete im Garten werden unter Anleitung von Ulrike Kreuer bepflanzt.

Nicht weit davon führt Helmut Pollak seinen gleichnamigen Vater an der Hand zum Beet. Die beiden wollen Pflanzen setzen. Der Vater schneidet die Wurzelballen auf, der Sohn gräbt die Löcher. „Ist das so tief genug?“, fragt er den Vater. Der gibt mit sehr leiser und zittriger Stimme Anweisungen. Sie sind eingespielt. Früher haben die beiden zusammen im Garten ihres Einfamilienhauses gegärtnert. Trotz der Demenz und Pflegebedürftigkeit des Vaters lebt die alte Rollenverteilung für diesen Moment wieder auf. „Seit 1960 haben meine Eltern in ihrem Haus gewohnt“, erklärt der Sohn. Erst seit kurzem lässt sich das nicht mehr aufrechterhalten. Die Mutter liegt auf der Palliativstation des Krankenhauses. Der demente Vater kann nicht alleine leben. Nun sitzen Vater und Sohn meistens gemeinsam am Sterbebett der Mutter. Das Gärtnern tut ihnen sichtlich gut. „Wir machen das beste aus dieser schwierigen Zeit“, sagt der Sohn und klopft sich die Erde von der hellen Hose. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er hier heute bei seinem Besuch mit seinem Vater die Hände in die Erde stecken würde.

Beim Aufräumen am späten Nachmittag beteiligen sich viele der Bewohner. Selbst einige der sehr abwesend wirkenden greifen zum Besen und fegen das restliche Heu zusammen. „Das will ich erreichen“, sagt Ulrike Kreuer. Die beiden Helmuts verabschieden sich, um wieder zur Mutter zu gehen. Natürlich kann das Gärtnern ihnen nicht die Schwere dieser Zeit nehmen. Aber es hat für einen kurzen Moment den grauen Schleier von ihrem Leben gezogen. 

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