Absolut salonpflichtig!

Offener Brief an Kristin Merle und Hans-Ulrich Probst
Demonstration in Köln gegen die mögliche Einführung der Impfpflicht am 11.04.2022.
Foto: picture alliance
Demonstration in Köln gegen die mögliche Einführung der Impfpflicht am 11.04.2022.

Am vergangenen Montag hatten die beiden Praktischen Theolog:innen Kristin Merle und Hans-Ulrich Probst auf zz.net den Inhalt des Buches „Angst. Politik, Zivilcourage“ und dessen Veröffentlichung in der Evangelischen Verlagsanstalt kritisiert. Rochus Leonhardt, Professor für Systematische Theologe aus Leipzig und einer der Buchautoren, antwortet mit einem Offenen Brief:

Liebe Frau Merle, lieber Herr Probst,

ich erlaube mir, auf Ihren zeitzeichen.net-Beitrag „Nicht salonfähig“ mit einem offenen Brief zu reagieren. Dass er offen ist, heißt, dass ihn alle lesen können sollen. Dass es ein von mir an Sie beide gerichteter und insofern zugleich persönlicher Brief ist, hat zwei Gründe. Zum einen möchte ich meine eigene Position noch einmal unterstreichen, die Sie in Ihrem Text nur ganz unzureichend gewürdigt haben und die ich nicht nur für salonfähig, sondern, ganz unbescheiden, sogar für salonpflichtig halte. Zum anderen – und vor allem – möchte ich damit anfangen, vom Übereinander-Reden zum Miteinander-Reden überzugehen. Was das perspektivisch bedeuten könnte, darauf komme ich noch zu sprechen.

Einsteigen möchte ich mit einem Zitat. Es entstammt einem von der französischen Philosophin Simone Weil verfassten Text, in dem es um Krieg und Gewalt geht („Ne recommençons pas la guerre de Troie“, 1937).

„Unser politisches Universum ist ausschließlich von Mythen und Monstren bevölkert; wir nehmen es nur in Instanzen und Absolutheiten wahr. Alle Begriffe des politischen und gesellschaftlichen Vokabulars können hierfür als Beispiel dienen. Nation, Sicherheit, Kapitalismus, Kommunismus, Faschismus, Ordnung, Autorität, Besitz, Demokratie, man könnte sich einen nach dem anderen vornehmen. […] Jedes dieser Worte scheint eine absolute Realität darzustellen, unabhängig von jeder Bedingung, ein absolutes Ziel, unabhängig von allen Wirkungsweisen, oder ein absolutes Übel“.

Was mich in diesem Zitat an unsere Gegenwart erinnert, ist der Hinweis auf die Verabsolutierung bestimmter Begriffe, mit denen man die Wirklichkeit in Gut und Böse einteilen kann, ohne genauer nachdenken zu müssen. – Allerdings: Ihre Kommentare zu den Beiträgen des Buches „Angst, Politik, Zivilcourage“ haben ein höheres Niveau. Im Unterschied zu den Einlassungen von Michael Haspel ist bei Ihnen ein Interesse an Differenzierung zu erkennen. Aber dieses Interesse schlägt letztlich leider doch nicht durch. Zwar finden Sie in der inkriminierten Publikation hier und da „Diskutables“ und „Bedenkenswertes“. Zugleich aber verstehen Sie den Band in toto als einen „Schlag gegen die liberale und offene Gesellschaft“, als den Versuch, demokratiefeindliche Positionen im bürgerlichen Mainstream zu verankern. Dass Sie am Ende die Verantwortung des Verlagswesens für publizierte Inhalte anmahnen, soll deshalb wohl heißen: Das Buch wäre besser nicht gedruckt worden.

Immerhin: Mein eigener Text kommt bei Ihnen relativ gut weg. Die einzige wirklich despektierliche Formulierung dazu betrifft nicht einmal mich selbst, sondern den Schriftsteller und Prix Goncourt-Preisträger Robert Merle. Ich habe, das können die Leser Ihrem Text nicht entnehmen, meine Überlegungen eingeleitet mit einem Verweis auf Merles Roman „Die geschützten Männer“, ein unterhaltsames und lehrreiches Buch, das Sie wohl nur deshalb so läppisch als „Schmöker“ eines Kastrationsphantasten abtun konnten, weil Sie es schlicht nicht gelesen haben.

Aufarbeitung dringend geboten!

Aber das ist nur ein „Nebenkriegsschauplatz“. Was konkret meinen Text angeht, so hatte ich ursprünglich daran gedacht, ihn der „Zeitschrift für Evangelische Ethik“ anzubieten. Ob er dort hätte erscheinen können, weiß ich nicht. Die Aussicht auf eine sehr zeitnahe Publikation hat mich dann motiviert, ihn im Georgiana-Band zu veröffentlichen. Denn ich bin der Auffassung, dass es dringend geboten ist, die Rolle(n) von Politik, Wissenschaft, Medien und auch Kirchen in der Corona-Zeit aufzuarbeiten.

Wie Sie sicher wissen, habe ich mich in der Vergangenheit auf zeitzeichen.net bereits mehrfach zur Frage der Impfpflicht geäußert. Aufgrund dieser Beiträge habe ich zahlreiche private Briefe, E-Mails und Anrufe von evangelischen Christenmenschen (darunter auch kirchliche Mitarbeiter) erhalten, die mit Dankbarkeit und Erleichterung zur Kenntnis genommen haben, dass es in Theologie und Kirche auch Kritiker des „kategorischen Impfperativs“ gibt – um eine aus Ihrer Sicht nicht ganz gelungene Formulierung zu wiederholen. Diese Zuschriften haben mir auch gezeigt, mit welch perfiden Methoden nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch innerkirchlich die Ausgrenzung Ungeimpfter vorangetrieben wurde.

Sie selbst bestreiten die Notwendigkeit der Aufarbeitung gar nicht und bezeichnen die Stigmatisierung Ungeimpfter als unproduktiv und überflüssig. Hier sind wir uns also einig. Aber vielleicht doch nicht so ganz. Denn weil Sie, um nochmals Simone Weil heranzuziehen, das politische Universum (nicht durchweg, aber doch vorwiegend) in Instanzen und Absolutheiten wahrnehmen, rückt auch das von mir Gesagte und von Ihnen als richtig Zugestandene „in ein etwas irritierendes Licht“. Wo liegt die Lichtquelle? Sie wird von Ihnen bezeichnet durch die üblichen Schlagworte von der – man verzeihe mir die Ausdrucksweise – haltungsjournalistischen Restle[1]-Rampe: Werteunion, Neue Rechte, Junge Freiheit, „Querdenken“-Bewegung. Und wer immer in den Strahlungsbereich dieser Lichtquelle gerät, der hat im Prinzip Unrecht, auch wenn er, naja, irgendwie schon, Recht hat. – Das ist nach meinem Eindruck die Denkungsart, von der Ihr Text geleitet ist. Es ist ein faules Denken, weil es sich durch moralisches Pathos von sachbezogener Argumentation entlastet.

Über konkrete Missstände konkret reden

Gern würde ich mit Ihnen gemeinsam überlegen, ob es nicht möglich sein sollte, über konkrete Missstände, zu denen es auch in Demokratien kommen kann, konkret zu reden – ungeachtet dessen, dass vielleicht auch diejenigen zustimmen, die man nicht mag, etwa weil sie unsinnige Verschwörungstheorien verbreiten und Diktaturvergleiche bemühen; natürlich weiß ich, dass auch ich selbst dieser Erwartung entsprechen muss.

Über welchen Missstand wäre konkret zu reden? Ich zitiere mich selbst: Die „im Jahr 2021 politisch aufgebauten und medial flankierten Frontstellungen und Feindbilder[]“ haben, „das ist meine dezidierte Auffassung, zur ersten großen Diskriminierungskampagne im wiedervereinigten Deutschland geführt“. Diese Einschätzung teilen Sie nicht. Man solle dazu, so regen Sie (mit ironischem Unterton?) an, „BIPoCs, Migrant:innen und Geflüchtete befragen“. Dieses „Argument“ ist, sorry, so schwach, dass mir die Zurückweisung fast peinlich ist: Dass die genannten Personengruppen in Deutschland Diskriminierungen ausgesetzt sind, ist unbestreitbar – und schlimm genug. Aber diese Diskriminierungen gehen doch nicht von politischen Verantwortungsträgern aus. Haben Sie etwa – partes pro toto – den früheren saarländischen Ministerpräsidenten Tobias Hans jemals sagen hören, „BIPoCs, Migrant:innen und Geflüchtete“ müssten wissen, dass sie nun „raus“ sind „aus dem gesellschaftlichen Leben“?

Und wann genau hat der noch immer amtierende Bundespräsident Angehörige dieser Personengruppen als Menschen bezeichnet, die einen „vergifteten Stachel in unsere Demokratie“ treiben wollen? – Derartige Ausfälle, die, gerichtet gegen Menschen bestimmter Hautfarbe, Herkunft, sexueller Orientierung etc., regelmäßig und berechtigterweise zu Empörung führen, wurden speziell im Jahr 2022 von demokratisch gewählten Politikern massenweise an Kritiker der Corona-Maßnahmen und speziell an Ungeimpfte adressiert. Und das Bemerkenswerte ist: Es blieb nicht nur die Empörung aus, sondern diese herabwürdigenden Äußerungen wurden sogar massenmedial verstärkt und zivilgesellschaftlich mehrheitlich goutiert. In einem von Lucien Scherrer stammenden Text, der am 2. Oktober 2023 auf www.nzz.ch publiziert wurde, heißt es deshalb ganz zurecht: Es wurde eine „Kampagne lanciert, die in der jüngeren Geschichte wohl beispiellos ist“ – Das trifft präzise das, was auch ich denke.

Unterscheidung von Recht und Moral wahren

Ich werbe nun vor allem um Verständnis für die Auffassung, dass dieser Vorgang einer demokratischen Gesellschaft unwürdig war und dass es speziell die Evangelischen Kirchen – über den Katholizismus enthalte ich mich des Urteils – bis heute versäumt haben, diesen Missstand klar zu benennen. Einer demokratischen Gesellschaft unwürdig war das Ganze, weil die liberale und offene Gesellschaft, für deren engagierte Verteidigung Sie eintreten – dies nehme ich für mich ebenfalls in Anspruch –, auch davon lebt, dass an der Unterscheidung von Recht und Moral festgehalten wird. Der Staat hat die Pflicht zur Rechtsdurchsetzung, aber er hat nicht das Recht, ohne legale Grundlage ein bestimmtes moralisches Wohlverhalten zu erzwingen. Nun wurde eine Corona-Impfpflicht niemals legalisiert. Folglich hatte jeder Mensch stets das Recht, sich gegen eine solche Impfung zu entscheiden. Daher war es dem Staat versagt, jene Menschen, die sich so entschieden haben, durch Grundrechte-Entzug zu diskriminieren, um sie zum moralisch gewünschten Wohlverhalten zu zwingen. Aber er hat es dennoch getan.

Und die Kirche? Ich selbst habe die ersten 25 Jahre meines Lebens in der DDR verbracht. Das ist weder ein Verdienst noch ein Makel, nur eine Tatsache. Aber diese Tatsache bedeutet, dass ich in einem weltanschaulich (und insofern auch moralisch) übergriffigen Staat gelebt habe, in dem sich eine „Nische“ namens Kirche im Rahmen ihrer Möglichkeiten und im Namen der Menschlichkeit für eine Mäßigung der Übergriffigkeitsfolgen eingesetzt hat. Weder will ich das Deutschland von 2022 mit der DDR gleichsetzen, noch wünsche ich mir für den heutigen deutschen Protestantismus eine der DDR-Situation ähnliche Lage. Aber mein biographischer Hintergrund trägt dazu bei, dass ich im Blick auf politisch-moralische Übergriffigkeiten ebenso sensibel bin wie im Blick auf kirchlichen Opportunismus, und von dem hat es in der Corona-Zeit mehr gegeben als man schulterzuckend hinnehmen sollte. Ich denke, die Kirchen hätten nach einem gangbaren und seelsorgerlich sensiblen Weg zwischen unverantwortlichem „Widerstandskitsch“ (Hans Michael Heinig) und der weitgehend ungefilterten Exekution staatlicher Vorgaben suchen müssen. Insgesamt bin ich rückblickend darüber, wie die demokratische Gesellschaft mit der Corona-Herausforderung umgegangen ist, ebenso irritiert wie über die Rolle, die die Evangelischen Kirchen dabei gespielt haben. Und ich bin ziemlich sicher: Wenn darüber nicht kritisch-selbstkritisch geredet wird, besteht die Gefahr, dass beim nächsten Anlass die gleichen Fehler in anderer Ausführung nochmals gemacht werden.

Liebe Frau Merle, lieber Herr Probst, vielleicht liege ich falsch. Davon würde ich mich gern überzeugen lassen – aber durch Gründe, nicht durch ideologisch unterlegte Unterstellungen. Ich rege daher an, dass wir über die Frage einer Aufarbeitung des staatlichen und kirchlichen Umgangs mit der Corona-Krise einmal wirklich miteinander ins Gespräch kommen. Über das Format müsste ebenso gesprochen werden wie über mögliche Akteure und über den Ort. Mein Favorit, Sie ahnen es, ist natürlich Leipzig, wo ich nicht nur arbeite, sondern wo auch die Evangelische Verlagsanstalt ihren Sitz hat. In der Hoffnung darauf, dass Sie auf diese Einladung in „meinen“ Salon zugehen werden, grüße ich Sie ganz herzlich,

Rochus Leonhardt.

 

[1] Anmerkung der Redaktion: Anspielung auf den WDR-Journalisten Georg Restle, der seit 2018 für einen sogenannten wertegeleitenden Journalismus plädiert.

Vergleiche dazu den kritischen Beitrag von Johann Bittner in der Zeit vom 13. April 2019:

(https://www.zeit.de/2019/16/journalismus-reporter-politischer-aktivismus-verantwortung)

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Rochus Leonhardt

Rochus Leonhardt, Jahrgang 1965, ist seit 2011 an der Theologischen Fakultät der Universität seiner Geburtsstadt Leipzig Professor für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Gesellschaft"