In einer Zeit, in der es Mode geworden ist, in erhöhter Taktung kleine Essay-Bände auf den Markt zu bringen, in denen sich leider allzu oft intellektuell bemäntelte Allgemeinposten finden, gibt es zum Glück in diesem Format doch immer wieder Texte, die dazu einladen, sie an einem längeren Abend zu lesen, und deren Lektüre man mit dem Gefühl beschließen darf, man habe den Abend über mit einem interessanten Gesprächspartner über relevante Phänome der Gegenwart diskutiert.

Wem einmal wieder nach einem solchen Lese-Gespräch verlangt, dem sei der Essay Nostalgie oder der flüchtige Duft der Heimat des Philosophen Stefan W. Schmidt ans Herz gelegt. Mit einem klaren analytischen Blick sowie vielfältigen geistesgeschichtlichen (freilich nicht theologischen) Bezügen erkundet der Autor den Umgang des Menschen mit der „Differenzerfahrung von Heimischem und Fremdem“ – ob durch Veränderungen in der unmittelbaren Lebenswelt ausgelöst oder durch mehr oder weniger freiwillige, auch erzwungene Ortswechsel.

Bezüge zu aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen sind evident – von Gentrifizierung über Mobilitätssteigerung bis zu diversen Formen der Migration. Erfrischend ist Schmidts Buch insbesondere, insofern es zwar von derart hoher Aktualität, jedoch zugleich zeitlos ist, da der Autor seine Fragestellung auf einer grundsätzlichen Ebene behandelt und auf tagespolitische Exkurse verzichtet, die sich gewiss anböten, aber letztlich keinen inhaltlichen Mehrwert hätten.

Dabei entwickelt der Autor sein Verständnis von „Nostalgie“ in vier Schritten. Den Ausgangspunkt nimmt er bei einer Reflexion über die kontinuitätsstiftende Funktion des menschlichen Gedächtnisses: Nostalgie erscheint hier zunächst als eine „pathische Form des Ortsgedächtnisses“, in der die Gegenwart durch die Vergangenheit vereinnahmt wird. Hieran anknüpfend verortet Schmidt Nostalgie im Begriffsfeld von Heimat und Heimstätten und profiliert sie durch die Abgrenzung von Formen des Heimwehs, die durch eine zeitliche Begrenztheit der Fremdheitserfahrungen charakterisiert sind: Demgegenüber zeichnet sich die Nostalgie „durch den tragischen, weil unwiederbringlichen Verlust der Heimstätte“ aus. In einem dritten Annäherungsversuch macht der Autor leibphänomenologische Ansätze fruchtbar, indem er die Reziprozität der „Beziehung zwischen Leib und Ort“ und damit die leibliche Dimension des Ortsgedächtnisses herausarbeitet: „Der Leib, indem er uns räumliche Orientierung gibt, interagiert mit Orten, ist von ihnen affiziert, drückt ihnen aber auch seinen Stempel auf. In dieser Interaktion artikuliert sich ein Ort für uns.“ Zuletzt weist Schmidt auf den Zusammenhang zwischen Nostalgie und Einbildungskraft hin, insofern Letztere sich als Imagination „durchaus nicht nur auf Vergangenes, sondern auch auf Zukünftiges“ richten kann, was im Falle der Nostalgie jedoch durch eine Fixierung auf die Vergangenheit unterbleibt.

Schmidts Reflexionen sind anregend – nicht zuletzt auch für aktuelle Fragen der Poimenik. Angesichts der wiederholten Pathologisierung der Nostalgie ist es umso wichtiger, dass Schmidt sie abschließend nochmals anders akzentuiert und sie als „Bedürfnis, die eigene Identität als ‚verortet‘ zu bekräftigen“, ernst nimmt und kritisch-konstruktiv auf gegenwärtige soziokulturelle Herausforderungen anwendet: „Wonach wir uns in der Nostalgie sehnen, ist nicht Heimat, sondern das, was Heimstätten als konkrete Erfahrung auszeichnet: Eingebundensein, Souveränität, Kompetenz, und nicht zuletzt ein Aufgehobensein im Sinne der Geborgenheit.“

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Foto: Andreas Helle

Tilman Asmus Fischer

Tilman Asmus Fischer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und schreibt als Journalist über Theologie, Politik und Gesellschaft


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