Die Willkürkonstrukte der anderen

Über Johannes Fischers zeitzeichen-Beitrag zur KMU-Kontroverse
Morgendämmerung über der Elbe bei Magdeburg, 2023
Foto: picture-alliance
Morgenrot über der Elbe an der Rotehorn-Spitze in Magdeburg (2.11. 2023)

Neben anderen wies auch Johannes Fischer in einem Beitrag vom 26.November auf zeitzeichen.net die Kritik an der EKD-Deutung der KMU6 zurück. Dieser Beitrag des emeritierten Zürcher Theologen reizt nun den Theologen Martin Fritz von der Berliner Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) zu heftigem Widerspruch.

Am Tag der KMU-Präsentation bei der EKD-Synodentagung in Ulm haben sich Reiner Anselm, Kristin Merle und Uta Pohl-Patalong in einem zeitzeichen-Artikel entschieden kritisch zu den religionsdiagnostischen Befunden der vorgestellten Überblicksstudie geäußert. Aufgrund methodischer Begrenzungen und theoretischer Vorannahmen seien Gestalten außerkirchlicher individualisierter Religiosität darin zu wenig berücksichtigt worden. Die drei Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats der KMU machten dabei auch auf mögliche Konsequenzen der mutmaßlichen Blickverstellung aufmerksam: Durch die Diagnose des generellen Religionsschwundes werde innerhalb der Kirche eine resignative Haltung befördert. Anstatt weiter nach Formen kirchlichen Handelns „nah an den Bedürfnissen und Interessen“ breiter Bevölkerungsteile zu suchen, sei die Versuchung groß, sich allein auf die Minderheit der Kirchlich-Frommen zu konzentrieren und sich damit in die „wachsende Marginalisierung“ der Kirche zu „fügen“.

Der emeritierte Züricher Ethiker Johannes Fischer hat sich daraufhin, ebenfalls in den zeitzeichen, mit einer scharfen Gegenkritik zu Wort gemeldet. Er hat den Kolleg:innen vorgeworfen, sie wollten „künftig anstelle der Theologie die am Paradigma der Individualisierungstheorie orientierte Religionssoziologie als Leitwissenschaft für die Kirche etablieren“. Dieser Leitwissenschaft komme die Aufgabe zu, die „Bedürfnisse und Interessen“ der Menschen zu erheben, auf dass sich das kirchliche Handeln danach „ausrichten“ könne. Anstatt sich in „Treue zu dem in der evangelischen Kirche gelebten Glauben“ der „christlichen Verkündigung“ von der „Wirklichkeit“ Gottes zu widmen, werde die Kirche damit einer „willkürlichen Konstruktion“ von „Religion“ ausgeliefert und zu einer Anstalt für beliebige Spielarten von Religiosität umgebaut. „Das Ergebnis wäre die vollkommene Profillosigkeit der evangelischen Kirche.“

Alte Grabenkämpfe

Auf den ersten Blick ist die skizzierte Kontroverse nicht sonderlich interessant. Es treffen, schematisch gesprochen, Vertreter:innen einer liberalen Religionstheologie, bei denen die breite Vermittlung des Christlichen unter sich wandelnden Gegenwartsbedingungen im Fokus steht, auf einen Vertreter konservativer Offenbarungstheologie, der auf der verpflichtenden Orientierung an der überlieferten Gestalt des Christentums insistiert. Der Dauerstreit zwischen diese beiden Strömungen gehört spätestens seit dem 19. Jahrhundert zur „Krise der evangelischen Theologie“, die Fischer beklagt. Dass es immer die andere Partei ist, die für die besagte Krise verantwortlich gemacht wird, versteht sich von selbst. 

Dass man in der wechselseitigen Aversion mitunter auch vor polemischen Verzeichnungen nicht zurückschreckt, lässt sich ebenfalls denken. Nach Fischer „argumentieren die Autor:innen mit einem reinen Nützlichkeitsargument gegen die Säkularisierungstheorie“, nämlich aufgrund der besseren Perspektiven, die die Individualisierungstheorie für das kirchliche Handeln bietet. „Man wählt die Theorie danach aus, wie man die Wirklichkeit haben möchte.“ Diese Unterstellung wird vom Text nicht gestützt. Dessen primärer Einwand gegen die KMU ist ihr phänomenaler Reduktionismus, also die Ausblendung von religiösen Gegenwartsphänomenen, die von vielen wahrgenommen und beschrieben werden. Erst dann werden auch die „problematischen Konsequenzen“ dieser Ausblendung für die Kirche angeführt.

Zweitens unterstellt Fischer, dass den fraglichen Autor:innen eine Kirche vor Augen stünde, der es nur noch um „die Pflege von Religiosität gleich welcher Art“ zu tun sei. Damit verbunden ist der Vorwurf, in deren Artikel sei von Glaubenstreue „nichts mehr zu finden“. Das sind schwere Geschütze. Gegen derlei ist immer wieder herauszustellen: Das Motiv der Ursprungsverpflichtung wird bei Liberalen vom Motiv der Gegenwartsverpflichtung nicht per se aufgehoben. Es mag sein, dass es ein „fast unmöglicher Spagat“ (Fischer) ist, beide Motive festzuhalten. Aber sollte ein Theologe (m/w/d) umgekehrt allzu einseitig die Ursprungstreue betonen, so würde dies bedeuten, wie Schleiermacher zu bedenken gab, „daß er eigentlich nichts thut, und der Herr ihn nicht wachend findet, wenn er kommt“ (Sendschreiben an Lücke, KGA I/10, 352).

Verdeckter Angriff auf die KMU?

Polemik erzeugt reflexhafte Reaktionen. Je nach Lagerzugehörigkeit wird Fischers Artikel einerseits zufriedenes Nicken, andererseits empörtes Schnauben ausgelöst haben, vielleicht auch nur enerviertes Augenrollen. Bei den Nachdenklicheren, in beiden Lagern, dürfte sich bei der Lektüre indessen die Stirne in Falten gelegt haben. Denn natürlich hat der Text eines Autors vom Format Fischers mehr zu bieten als Polemik. Tatsächlich hält er überraschende Einsichten bereit. Sie betreffen nicht den alten Lagerstreit, sondern den aktuellen Streitgegenstand, die KMU. 

Zunächst ist da die erwähnte Rüge, die liberaltheologischen Individualisierungsfreund:innen überantworteten die Theologie einer fremden Wissenschaft: „Warum setzen sie im Blick auf die Reform der Kirche ausgerechnet auf die Religionssoziologie?“ Diese rhetorische Frage innerhalb der Debatte zur KMU zu stellen verrät Hintersinn. Denn trifft sie nicht überhaupt das gesamte Unternehmen einer Kirchenmitgliedschaftserhebung? Fischer hält nichts von der Individualisierungsthese, aber eigentlich müssen ihm sämtliche soziologischen Religionsdiagnosen suspekt sein.

Das ergibt sich auch aus Fischers theologischer Ablehnung des Religionsbegriffs, die er gegen die Individualisierungstheoretiker:innen ins Feld führt. Ihm zufolge „beruht jede Definition von Religion auf einer willkürlichen Setzung“. Sie ist willkürlich und unkontrollierbar, weil sie sich mit der Religiosität „auf etwas bezieht“, was „in der Subjektivität verankert ist“ und damit auf etwas, was außerhalb der Fassungskraft modernen Denkens liegt. Es wird eine innere religiöse Wirklichkeit „konstruiert“, und „je nachdem, wie der Begriff der Religion gefasst wird, ist auch die Realität, die mit ihm erfasst wird, eine andere“.

Der Feststellung einer prinzipiellen Konstruktivität von Religionsbegriffen wird man kaum widersprechen können. Aber sie trifft jede theoretische Beschäftigung mit „Religion“ und mithin auch jede Religionssoziologie. Beruht folglich auch das Bild der religiösen „Großwetterlage“, wie es in der KMU gezeichnet wird, auf Konstruktionen? Zweifellos. Man könnte allenfalls auf den Gedanken verfallen, der Religionsbegriff der KMU sei in Fischers Augen von dem betreffenden Verdikt ausgenommen, weil er ziemlich genau dem dogmatisch-theologischen Begriff von christlichem Glauben entspricht, den er selbst favorisiert. Das aber würde bedeuten, dass sich die KMU-Religionssoziolog:innen einer bestimmten Theologie unterworfen hätten. Sollte es sich also nur scheinbar um eine religionssoziologische Studie handeln? Ein abwegiger Gedanke. 

Religion ohne Urteil

Ein weiterer Aspekt an Fischers Argumentation gibt zu grübeln. Der Aufklärung (einschließlich der aus ihr hervorgegangenen Religionssoziologie) wird angekreidet, sie habe aller Erkenntnis die Form des Urteils aufgenötigt, damit aber den christlichen Glauben, dessen Erkenntnis ganz anderer Art sei, in eine tiefe Krise gestürzt. Wenn das zutrifft, ist mindestens jener (gewichtige) Teil der KMU obsolet, der die religiöse Lage anhand der (Nicht-)Zustimmung der Befragten zu bestimmten Glaubensurteilen abfragt. Fischer torpediert also nicht nur den KMU-Grundbegriff „Religion“, sondern stellt mit der Urteilsförmigkeit von Glauben/Religion zugleich die methodische Basis der KMU grundlegend infrage. 

Bemerkenswerterweise befindet er sich mit dieser Kritik in großer Nähe zu den Intentionen klassischer Religionstheologie, an welche die individualisierungstheoretische Religionssoziologie anknüpft. Einer ihrer Grundimpulse war es, die nicht urteils- resp. dogmenförmige Dimension des Religiösen zu beschreiben. Man denke nur an Schleiermachers Verortung der Religion im Gefühl, die sich nicht zuletzt gegen das Missverständnis des Religiösen als einer Sache des Wissens wandte. Die einschlägigen Religionstheologen haben jene Intention freilich mit anderen begrifflichen Mitteln verfolgt als Fischer, der für seine Auffassung von Christentum die Begriffe des „Erlebens“ aus der Psychologie des 19. Jahrhunderts, der „Lebenswelt“ aus der Phänomenologie und der „Erzählung“ aus der Narratologie des 20. Jahrhunderts bevorzugt. Und tatsächlich sind jene Religionskonzeptionen Konstruktionen, insofern sie die nichtbegriffliche Innerlichkeit des Religiösen zu beschreiben suchen. Wie Fischer mit seinen Beschreibungen des Christentums diesem „Konstruktivismus“ entgehen will, sofern sie etwas von der nicht urteilsförmigen Innerlichkeit des Glaubens treffen sollen, bleibt sein Geheimnis.

Denn hier hilft auch der geläufige theologische Ausweg nicht weiter, der bei Fischer am Ende anklingt. Dort werden die „Verantwortlichen in den Kirchenleitungen“ noch einmal beschworen, „die Kirche als eine Gemeinschaft von Menschen“ zu begreifen, „die nicht bloß mit ihrer eigenen Religiosität beschäftigt sind, sondern die in ihrem Leben mit Gott als einer Wirklichkeit rechnen“. Immer wieder die alten Scheingegensätze, immer wieder die theologischen Beschwörungen der „Wirklichkeit“ Gottes. Natürlich rechnet, vielleicht besser: vertraut und hofft ein Christenmensch auf die Wirklichkeit des Gottes, „wie er in der christlichen Verkündigung zur Sprache kommt“. Aber was soll dieses Vertrauen und Hoffen anderes sein als ­– Religiosität?

Mehr Selbstdurchsichtigkeit

Was ist aus der Lektüre von Fischers Beitrag für die Einschätzung der KMU-Befunde zur Religiosität der Deutschen zu lernen? Vor allem dies: So sehr man es sich auch wünscht und so entschieden man es auch behauptet, man entkommt doch bei der Religionsdiagnostik niemals der Abhängigkeit von religionstheoretischen Konstrukten, wie bewusst und wie avanciert sie auch immer sein mögen. Der Streit muss sich lediglich darum drehen, welche konstruktiven Begriffe von Religion jeweils in Anschlag gebracht werden und ob sie geeignet sind, die infrage kommenden Phänomene in den Blick zu fassen. Um über diese Frage überhaupt sinnvoll streiten zu können, müssen die begrifflichen Voraussetzungen der diagnostischen Methoden durchsichtig gemacht werden.

Fischer selbst scheint für eine andere Option zu votieren. Eine Kirche, die sich auf die christliche Verkündigung konzentriert, wie sie ihr von alters her aufgetragen ist, muss sich um die religiöse „Großwetterlage“ der Gegenwart eigentlich gar nicht kümmern. Denn gleich wie religiös die Menschen ringsumher sind – sie trifft ja in der Verkündigung eine ganz andere Wirklichkeit, die alle „Religion“ durchbricht. 

Auch dieser (seinerseits religiöse) Anspruch hat womöglich etwas für sich. Aber er kommt am Ende doch nicht darum herum, den Menschen ringsumher zu vermitteln, warum sie jene andere Wirklichkeit „unbedingt angeht“ (Paul Tillich) – sonst werden sie sich die kirchliche Verkündigung kaum anhören. Ein bisschen Verständnis für die religiösen „Bedürfnisse und Interessen“ der Menschen wird also vermutlich doch nicht schaden, wenn man dem Auftrag der Kirche treu bleiben will.

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Foto: privat

Martin Fritz

Dr. Martin Fritz ist Wissenschaftlicher Referent bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin und Privatdozent für Systematische Theologie an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau.