So wie die Zeiten es uns abfordern

Ein Dienst für das Land könnte ein Beitrag für eine wehrhafte Demokratie sein
Foto: privat

Angela Merkel (CDU) hatte die Wehrpflicht 2011 nur ausgesetzt, aber damit in der Bundeswehr einen beispiellosen Personalniedergang ausgelöst. Selbst in ihren Anfangsjahren 1959 kamen die Streitkräfte auf fast 249 000 Soldaten. Die Bundeswehr zählt heute 181 672 Soldatinnen und Soldaten. Eine Zahl, die schon seit Jahren nach unten geht. Hingegen sind die politischen Vorgaben ambitioniert: 2031 sollen es 203 000 sein, ein mutiges Vorhaben, das kaum zu erreichen sein wird. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat schon mit der Ankündigung vorgebaut, die Zahl realitätsnah prüfen zu wollen. Was wird also mit dem Aufwuchs der Bundeswehr? Die Wehr- oder allgemeine Dienstpflicht spielt dabei eine wichtige Rolle.

Schon Anfang der 2000er-Jahre gab es Debatten um die Abschaffung der Wehrpflicht. Der Ersatzdienst in Krankenhäusern, in Senioren- oder Sozialeinrichtungen und in Kirchen erfuhr breite Anerkennung in der Gesellschaft: Seit 1961 hatten 2,5 Millionen Zivildienstleistende den Dienst absolviert. Dennoch, die Wehrgerechtigkeit rückte kritisch in den Fokus, weil immer weniger junge Männer eingezogen werden konnten. Am Ende führte das zur Aussetzung von Musterung und Wehrpflicht, aber eben auch zum Ende des Ersatzdienstes.

Bei der Debatte über Wehrgerechtigkeit wird gerne übersehen, dass der Dienst für das Land zum Selbstbewusstsein einer wehrhaften Gesellschaft einen großen Beitrag leisten kann. Bei 220 000 Wehrpflichtigen in den 1980er-Jahren „saß an jedem zweiten Küchentisch ein Wehrpflichtiger“, so Pistorius kürzlich. Eine Bindung an Gesellschaft und Staat, besonders ein Verständnis für andere Milieus war möglich. Fast überrascht blickt die deutsche Gesellschaft denn auch auf die Ukraine, wo der unabdingbare Einsatz für das Land eine patriotische Selbstverständlichkeit scheint.

Der Militärhistoriker Sönke Neitzel (Potsdam) hat im Interview mit zeitzeichen gesagt: „Ohne eine wie auch immer geartete Dienstpflicht wird es nicht gehen.“ Er hat sogar prophezeit, der Personalbestand der Bundeswehr werde bis 2030 nicht auf 203 000 Soldaten aufgebaut, sondern auf 150 000 sinken. Die Politik sei schlicht „feige“.

Die Wehrbeauftragte Eva Högl sagt: „Wir können die Aussetzung der Wehrpflicht nicht rückgängig machen. Sie löst auch nicht kurzfristig die Personalprobleme der Bundeswehr. Wir haben keine Stuben, wir haben keine Uniformen, und wir haben keine Ausbilder. Nicht nur, weil der Ukraine-Krieg die Bundeswehr vor ganz neue Herausforderungen stellt, lohnt es sich aber, über einen Dienst für die Gesellschaft nachzudenken.“

Der Wehrdienst ist in anderen Staaten sehr unterschiedlich geregelt: Den Grundwehrdienst in Österreich müssen alle männlichen Staatsbürger zwischen 17 und 35 Jahren leisten. Sie werden für sechs Monate eingezogen. Alternativ gibt es auch einen Zivildienst. Für Frauen gilt die Pflicht nicht, was in der Alpenrepublik für Debatten sorgt. Im NATO-Land Norwegen gibt es eine Wehrpflicht, aber von den etwa 70 000 gemusterten Männern und Frauen werden nur 15 000 eingezogen. Einen Ersatzdienst muss niemand ableisten. Auch die Regelung in Schweden gilt als nachahmenswert: Nach sieben Jahren Aussetzung wurde 2017 die Wehrpflicht wieder eingeführt, also weit vor dem russischen Krieg gegen die Ukraine. Pro Jahr müssen etwa 4 000 Frauen und Männer für elf Monate ihren Wehrdienst ableisten. Andererseits haben die USA, Frankreich und Großbritannien die Wehrpflicht schon lange abgeschafft und verlassen sich auf Berufsarmeen.

Deutschland muss bei einer Wiedereinsetzung der Wehrpflicht einen eigenen Weg beschreiten: Zuerst scheint es mir notwendig, die militärische Bedrohungslage in Europa anzuerkennen und die Bundeswehr personell wie materiell so auszurüsten, dass sie wieder voll verteidigungsbereit bleibt. Wohl bedarf es dazu auch eines veränderten „Mindsets“. Nach Schule oder Ausbildung gilt es für die Generation der jeweils 18-Jährigen, sieben bis zwölf Monate ihrer Lebenszeit der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen: ein verpflichtender Dienst, der in den Streitkräften, aber genauso in zivilen Bereichen der Gesellschaft geleistet werden kann. Die Wehrbeauftragte nennt es allgemeines gesellschaftliches Dienstjahr, der Bundespräsident nannte es ein Dienstjahr für Deutschland. Könnte nicht auch die ältere Generation bei wachsender Lebenserwartung und Fitness freiwillig einen sozialen Dienst leisten?

Zuletzt muss darüber entschieden werden, ob Frauen der jungen Generation weiter von den Diensten befreit bleiben. Eine dazu notwendige Grundgesetzänderung kann es nur nach einer breiten gesellschaftlichen Debatte geben. Über allem gilt: aus der Lebenszeit etwas zu machen, so wie die Zeiten es uns abfordern. Dass der Staat von jeder Generation etwas fordern darf, das dürfte einem Gemeinwesen gut zu Gesicht stehen. Ein Störfall allerdings ist, wenn die EKD sich zur Wehrpflicht weiter in Schweigen hüllt. 

 

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Roger Töpelmann

Dr. Roger Töpelmann ist Pfarrer i.R. Er war bis 2020 u.a. Pressesprecher des Evangelischen Militärbischofs in Berlin.


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