Im Bewusstsein unserer Existenz

Das System Kant oder wie Aufklärung mittels kreativer Vernunftkritik funktionieren kann
Immanuel Kant (1724–1804), moderne Darstellung (2015).
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Immanuel Kant (1724–1804), moderne Darstellung (2015).

Warum brauchen wir weiter Kants gedankliche Grundlegung? Weil der Königsberger Philosoph eine Synthese des Denkens in verschiedenen Seinsweisen vorlegte, die bis heute in aller Freiheit den modernen Menschen produktiv vor naturwissenschaftlichen Engführungen bewahrt, meint der Philosoph Magnus Schlette. Er leitet den Forschungsbereich Theologie und Naturwissenschaft an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg.

Kant hat nur einmal etwas beschlossen. Nur die Kritik der praktischen Vernunft und kein anderer Text aus seiner Feder endet mit einem „Beschluss“. Der Grund dafür ist ganz einfach. Er schrieb seinen „Beschluss“ damals in dem Bewusstsein, die Aufgabe, die er sich selbst gesetzt hatte: die Grundlegung des Geltungsbereichs möglichen menschlichen Wissens sowie unseren moralischen Verpflichtungen anderen Menschen gegenüber, erfüllt zu haben (dass dann noch weitere wichtige Werke folgen sollten, die sein philosophisches Programm ergänzten, steht auf einem anderen Blatt).

Antwortet die Kritik der reinen Vernunft [1781], Kants erstes Hauptwerk, auf die Frage, was wir billigerweise wissen können, so belehrt uns sein zweites Hauptwerk, die Kritik der praktischen Vernunft [1788] darüber, was wir tun sollen. Damit hatte Kant vorgelegt, was seine Zeit zur Orientierung für den Ausgang des Menschen „aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ allermindestens bedurfte, und was Kant in einem berühmten Aufsatz von 1784 kurz und bündig als Aufklärung bezeichnet hatte. Denn Unmündigkeit, so Kant dort, sei „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen,“ und selbstverschuldet sei sie dann, wenn es dem Menschen an Entschlusskraft und Mut fehle, selbst zu denken.

Wenn der Mensch sich nun aber durch Selbstdenken aus der angemaßten Autorität anderer Menschen oder auch von Institutionen soll befreien können, von denen er sich bislang gewohnter Weise hat sagen lassen, was er denken möge, dann muss er sich auch darauf verlassen können, dass das geht, das Selbstdenken. Von den Lehrern an den preußischen Landschulen bis zu den Königsberger Gelehrten, von den Bürgern in den Salons bis zu den Beratern des Königs müssten sich idealerweise alle darauf verlassen können, dass „Selbstdenken“ kein bloßes Schlagwort ist.

Bilanz bisherigen Philosophierens

Insofern verband Kant mit seinen beiden Kritiken, die keineswegs an der Vernunft herumkritteln, sondern ihr ihre Reichweite aufzeigen und damit zu unterscheiden lehren, was vernünftigerweise wie gedacht werden kann und was wie nicht, ein gesellschaftspolitisches und auch universitätspolitisches Projekt. Kants Befriedigung darüber, diesem Projekt eine verlässliche Grundlage gegeben zu haben, bewog ihn zum „Beschluss“ seiner Kritik der praktischen Vernunft. Mit ihm zieht Kant eine Art Bilanz seines bisherigen Philosophierens. Man hat den Eindruck, er trete hier für einen Augenblick von seinem Tagesgeschäft der Vorlesungs- und Forschungstätigkeit zurück und besinne sich darauf, was ihn zu seiner Profession bewogen und in ihr festgehalten habe.

Aber warum ist das alles heute noch von Belang? Warum beschließen nicht auch wir unsere Beschäftigung mit Kant, beispielsweise durch eine Reihe von „Beschlüssen“ zu seinem dreihundertsten Geburtstag, die in sentimentalischer Erinnerung an die deutsche Aufklärung den, der sie mit seinem kritischen Werk vollendet hat, abfeiern, nur um ihn dann wieder zu vergessen? Zwei Antworten auf diese Frage:

Erstens: Kant und die Metaphysik. Kant, der der ihm überkommenen Metaphysik attestierte, mit den Fortschritten in den Naturwissenschaften nicht mithalten und den neu gewonnenen Standards der Überprüfung von Wissensansprüchen nicht genügen zu können, war sich gleichwohl ihrer bleibenden Bedeutung bewusst. „Metaphysik muss Wissenschaft sein“, schreibt er, und nicht etwa, die Metaphysik müsse durch die Wissenschaft abgelöst werden. War traditionellerweise die Ontologie als metaphysica generalis – in den Worten des Aristoteles – mit der Bestimmung des „Seienden, insofern es seiend ist“, befasst, so die rationale Psychologie als Teildisziplin der metaphysica specialis mit Wesen, Ursprung und Fortbestehen der menschlichen Seele.

Destruktion rationaler Philosophie

Was die Ontologie betraf, so hätte ihre ersatzlose Preisgabe für Kant den Verzicht auf gesichertes Wissen über die Welt bedeutet, eine Beschränkung auf Wahrscheinlichkeiten, statistische Regelmäßigkeiten und den fragmentarischen Charakter der empirischen Einzelerkenntnisse, die in den naturwissenschaftlichen Disziplinen erworben werden. Mit der Destruktion der rationalen Psychologie stand wiederum die Idee einer eigenständigen Sphäre des Geistigen auf dem Spiel. Zeitgenossen Kants wie die französischen Materialisten vollzogen bereits den Schritt von der Psychologie zur Physiologie. Hier bahnt sich die Beanspruchung einer naturwissenschaftlichen Leitperspektive auf den Menschen an, in deren Interesse es liegt, das Mentale aufs Organische und das Organische aufs Physische zu reduzieren.

Kants Kritik der reinen Vernunft lässt sich als eine zugleich moderne wie verständnisvolle Antwort auf die Nöte der Metaphysik verstehen. Eines ihrer zentralen Argumentationsziele ist es, die begrifflichen Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung aufzuweisen, die selbst nicht der Erfahrung entstammen, sondern aus der Rekonstruktion unserer Urteilstätigkeit als intellektuelle Voraussetzung aller Erfahrung erschlossen werden können. Damit beabsichtigte Kant, die alten Erkenntnisansprüche der Ontologie in den Grenzen der Anschauung einer Erfahrungswelt neu zu begründen sowie gegen die Reduktion des Mentalen aufs Organische einen belastbaren Gegenentwurf aufzubieten.

Indem Kant die Ontologie in den Grenzen der Erfahrungswelt neu begründete und den Eigenwert des Mentalen verteidigte, schuf er zugleich eine Grundlage dafür, die alten Kernbegriffe der speziellen Metaphysik, den Weltbegriff der Kosmologie, den Gottesbegriff der Theologie und den Seelenbegriff der Psychologie auf ganz neue Weise zu diskutieren. Sie verweisen jetzt zwar nicht mehr auf Gegenstände möglicher Erkenntnis, da sie den Bereich unserer Erfahrung überschreiten, dienen aber gleichwohl der Orientierung im Denken, da wir Menschen als Vernunftwesen nicht anders können, als diese Begriffe zu bilden und uns in unserem Selbstverständnis nach ihnen zu richten. Ebendies: Die Begründung einer konstruktiven Unterscheidung zwischen dem Wissbaren und dem Denkwürdigen zeichnet die Kritik der reinen Vernunft aus.

Zweitens: Kant und das Weltbürgertum. Zurück zu Kants „Beschluss“ der Kritik der praktischen Vernunft. Seine Anfangszeilen ragen aus dem kurzen Textstück, ja, aus seinem Gesamtwerk heraus, sie zieren sogar seinen Grabstein in Königsberg, als seien es eben diese Worte, für die er unvergessen bleiben soll: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“

Stellen wir uns den Philosophen vor, wie er am Ufer des Haffs steht und in den abendlichen Himmel schaut. Dabei weiß er sich in einer langen Tradition, die den Ursprung der Philosophie im Staunen erkannt hat. Bei Platon ist es die Verwunderung über die intellektuellen Abgründe unserer vermeintlichen Alltagsgewissheiten, übers Selbstverständliche, das, genauer und im Zusammenhang betrachtet, immer mehr Fragen aufwirft und in uns eine belebende Gemütsbewegung erzeugt – das páthos philosóphou; bei Aristoteles, der die Verwunderung an den Anfang seiner, übrigens der ersten überlieferten Philosophiegeschichte (im ersten Buch seiner Metaphysik) stellt, ist es die Verwunderung über das Unerklärliche, vom Nächstliegenden bis zur „Entstehung des Alls“. Der römische Dichter und Philosoph Lukrez war dreihundert Jahre später anderer Meinung: Der Sternenhimmel verwundere uns nur, solange wir seinen Anblick noch nicht gewohnt seien; allein das Neue errege unsere Neugier.

Kant nimmt für Aristoteles und gegen Lukrez Partei. Die Bewunderung, die er angesichts des Sternenhimmels empfindet, erklärt er uns andernorts als „eine Verwunderung, die beim Verlust der Neuigkeit nicht aufhört“ und genau dann erregt werde, „wenn Ideen in ihrer Darstellung unabsichtlich und ohne Kunst zum ästhetischen Wohlgefallen zusammenstimmen“. Kants Gebrauch des Begriffs der Ver-wunderung schließt an den Bedeutungsaspekt an, der durch das lateinische „stupor“ transportiert wird: die Plötzlichkeit, mit der das Verwunderliche uns vorübergehend in den Bann schlagen kann, während er den Begriff der Be-wunderung im Sinne von „admiratio“ verwendet, also jenes Begriffs, der die Verwunderung zuallererst zu einem intellektuellen Gefühl adelt, da sie uns als denkfähige Wesen herausfordert. Kant unterscheidet das bloß Neue von einem solchen Neuen, das unserer Vernunft etwas zu denken aufgibt. Letzteres ist sozusagen intellektuell satisfaktionsfähig, es regt unsere Vernunft an und fordert sie heraus, uns über das Verwunderliche Gedanken zu machen.

Die admiratio angesichts des Sternenhimmels lag im Falle Kants nahe. So war er seiner Ausbildung nach und von Haus aus Astronom, Himmelsforscher, und daher vor aller Philosophie mit dem Studium der Sterne vertraut. Aber zugleich dient ihm der Sternenhimmel im „Beschluss“ ganz allgemein als Chiffre einer Begreifbarkeitserwartung, die Menschen als Vernunftwesen an die Welt herantragen. Der Sternenhimmel versinnbildlicht unsere Aufgabe als denkende und wissbegierige Wesen, uns aus dem einmal Erkannten stets komplexere, noch nicht erkannte Zusammenhänge zu erklären.

Und diese Begreifbarkeitserwartung an den Sternenhimmel ergänzen die famosen Eingangszeilen des „Beschlusses“ durch die ehrfurchtsvolle Einsicht in das moralische Gesetz. Kant verwendet den Begriff der Ehrfurcht durchgängig synonym mit dem der Achtung. Und den Begriff der Achtung reserviert er für die Bezeichnung eines Gefühls, das durch das Bewusstsein eines Gesetzes der Vernunft erweckt wird. Ein Vernunftgesetz ist ein Gesetz, das sich die Menschen in ihrer Eigenschaft als Vernunftwesen selbst gegeben haben. Vor dem moralischen Gesetz empfinden wir, wie Kant auch schreibt, „ehrfurchtsvolle Scheu“. Sie wächst in dem Maße, in dem wir auf den Begriff bringen, was es heißt, ein autonomes Wesen zu sein, ein Wesen, das allein aus begründeter Einsicht in eine selbstgesetzte Verpflichtung heraus bestimmt, wie es handeln soll.

Die Pointe der berühmten Eingangsformulierung des „Beschlusses“ ist eine doppelte Handlungsaufforderung, die die Gemütsbewegungen der Bewunderung und Ehrfurcht für uns, hier stellvertreten durch Kant, bereithalten: Die Bewunderung für den bestirnten Himmel appelliert an uns, unserer Aufgabe als denkende und wissbegierige Wesen nachzukommen, das einmal Erkannte stets in komplexere theoretische Zusammenhänge zu stellen: Wir wollen wissen, was erkannt werden kann. Die Ehrfurcht für das moralische Gesetz appelliert an uns, unserer Aufgabe als denkende und wissbegierige Wesen nachzukommen, das einmal Geforderte stets in komplexere praktische Zusammenhänge zu stellen: Wir wollen wissen, was zu tun ist.

Nicht nur dem Sternenhimmel kommt im Beschluss also symbolische Bedeutung zu, sondern auch dem moralischen Gesetz beziehungsweise dem Sittengesetz. Steht der Sternenhimmel für das grenzenlose Reich möglichen Wissens über die Welt unserer Erfahrung, so steht das moralische Gesetz für die moralische Bewährungsaufgabe unserer Lebensführung. Fest steht dabei, dass wir die Ehrfurcht vor dem moralischen Gesetz nicht einfach von der Bewunderung für den bestirnten Himmel abtrennen und beide als Gemütsbewegungen behandeln können, die unabhängig vonein­ander existieren. Es handelt sich sozusagen um zwei Seiten einer Medaille. Denn beides, Sternenhimmel und moralisches Gesetz, sind laut Kant, wie er wenig später schreibt, durch ihre Verknüpfung mit dem „Bewußtsein meiner Existenz“ verbunden. Ich werde mir demnach in der Betrachtung des Himmels ebenso wie in der Besinnung auf das moralisch Gebotene einer Bestimmung meines Lebens gewahr.

Philosophie als Aufklärung

Das „Bewußtsein meiner Existenz“: Das sind Kants Worte dafür, dass wir uns in der Verwunderung, von der die Philosophie ihren Anfang nimmt, darauf verständigen, wer wir sind. Die Philosophie, als Aufklärung, trägt mithin dazu bei und bekräftigt uns darin, dass wir den uns als Vernunftwesen gestellten Aufgaben gerecht werden, die Welt zu erkennen, uns ihrer zu bemächtigen, sie uns nutzbar zu machen – und unserer Verantwortung für unsere Mitmenschen gerecht zu werden. Damit trägt die rechtverstandene Philosophie, als Aufklärung, zum Weltbürgertum bei, zu dessen Entwicklung Kant anderswo auch historische Indizien erhoben und pädagogische Erwägungen angestellt hat.

Noch einmal: Warum ist das heute noch von Belang? Kants Selbstverortung zwischen unwissenschaftlicher Metaphysik und wissenschaftlichem Naturalismus ist angesichts des gegenwärtigen Szientismus eine immer noch bedenkenswerte und entwicklungsfähige Alternative. Und was seine Idee der weltbürgerlichen Aufklärung anbelangt, so erinnert sie uns an das Projekt einer Bestimmung des Menschen diesseits identitätspolitischer Fragmentierungen, das zumindest seinem Anspruch nach ohne inhaltliche und als solche zwangsläufig einseitige Wesensaussagen über den Menschen auskommt. Bei aller berechtigten Kritik an seiner Durchführung bei Kant ist dieser Anspruch nicht passé, schon gar nicht die intellektuelle Redlichkeit und Sorgfalt, mit der sich Kant diesem Projekt widmete. 

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Magnus Schlette

Dr. Magnus Schlette leitet den Forschungsbereich Theologie und Naturwissenschaft an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg.


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