Bewegung im Vatikan

Eine Begegnung mit dem neuen obersten „Glaubenshüter“ in Rom

Ein paar Jahre habe ich die „Theologische Kammer“ der Evangelischen Kirche in Deutschland geleitet, eine muntere Runde von Theologinnen und Theologen aus Wissenschaft und Praxis, von Universitäten und aus Kirchenleitungen, solange jedenfalls, bis die Aufgaben als Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften so anwuchsen, dass ich an irgendeiner Stelle eine schöne, aber sehr zeitfüllende Aufgabe abgeben musste. Die „Theologische Kammer“ beriet, wie alle Kammern damals, den Rat der EKD und irgendwie auch die EKD zu wichtigen Fragen, grundlegenden Themen, aber auch praktischen Problemen wie der Gestaltung digital angebotener Abendmahlsgottesdienste in der Pandemie. Als „Cheftheologe“ der EKD habe ich mich nie gefühlt, schon deswegen nicht (um nicht restlos ernst gemeint zu beginnen), weil die Medien diesen Titel gern dem damaligen Vizepräsidenten des Kirchenamts der EKD gaben. 

Vor allem aber sollte ein Theologe, der vorwiegend historisch arbeitet, unter den vielen klugen systematischen Theologinnen und Theologen eher moderierend tätig sein und nicht versuchen, Texten der Kammer allzu stark seine eigene theologische Handschrift einzuprägen. Das galt besonders deswegen, weil die Kammer, bevor ich ihre Leitung übernahm, immer von zwei Personen geleitet wurde, die für die lutherischen und für die unierten Kirchen und ihre spezifischen Bekenntnistraditionen standen, und ich als lutherisch ordinierter Pfarrer, der vergnügt in einer unierten Kirche lebt, ohnehin auf Ausgewogenheit zu achten hatte.

Umstritten und gefürchtet

Trotzdem hat es mir in bestimmten Situationen Vergnügen gemacht, die Rolle des Vorsitzenden zu betonen. Beispielsweise, als ich einmal im Speisesaal des Pontificium Collegium Germanicum et Hungaricum neben dem Sekretär der römischen Glaubenskongregation saß und wir uns miteinander unterhielten. In der gern abkürzend Germanicum genannten Einrichtung leben Priesteramtskandidaten aus den Ländern des einstigen Heiligen Römischen Reiches und der habsburgischen Doppelmonarchie, die eine Zeit in Rom verbringen und an päpstlichen Universitäten wie der Gregoriana studieren. Ich hatte in dem Gebäude einer ökumenischen Gruppe von deutschen Theologiestudierenden in Rom Rede und Antwort gestanden und war zum Dank zum gemeinsamen Mittagessen eingeladen worden. Da ich die neben mir sitzende Person nicht kannte, sprach ich sie an und fragte irgendwann auch nach der beruflichen Tätigkeit des erkennbar als Priester gewandeten Menschen. Der erwiderte mir, er sei Sekretär der Glaubenskongregation, also der 1542 gegründeten einstigen Inquisition, die später „Heiliges Offizium“ benannt wurde und heute „Dikasterium für die Glaubenslehre“ heißt. Vor allem der Präfekt, der sie in den Jahren 1981 bis 2005 gemeinsam mit einem Sekretär leitete, ist vielen Menschen noch gut bekannt: Er hieß Joseph Ratzinger und wurde 2005 zum Papst gewählt. 

Die Aufgabe der nicht nur oft umbenannten, sondern auch oft umorganisierten Behörde, die im Vatikan-Staat in einem wunderschönen barocken Palais untergebracht ist, besteht darin, „die Glaubens- und Sittenlehre der ganzen katholischen Kirche zu fördern und zu schützen“. Neben offiziellen Dokumenten zur Glaubenslehre, die die Behörde veröffentlicht, schreibt sie auch Gutachten über Menschen, die von Berufs wegen katholische Theologie lehren und untersucht schwere Verstöße gegen das kirchliche Disziplinarrecht (wie beispielsweise Missbrauchsfälle). Es handelt sich allein wegen dieser Aufgaben um eine oft umstrittene und manchmal regelrecht gefürchtete Organisation. Wenn ich mich richtig erinnere, hörte ich erstmals von der damals Glaubenskongregation genannten Einrichtung, als 1979 Hans Küng aufgrund eines entsprechenden Gutachtens der Kongregation die Lehrerlaubnis u.a. wegen seiner kritischen Position zur päpstlichen Unfehlbarkeit in Glaubens- und Moralfragen entzogen wurde und damit ein großer Skandal nicht nur in Deutschland ausgelöst wurde.

„Immer diese Historiker“

Nachdem sich mir mein Nachbar vorgestellt hatte, sagte ich ihm, dass ich in Deutschland eine in einigen Punkten vergleichbare Position hätte. Auch die Theologische Kammer würde, so berichtete ich ihm, offizielle Texte zur Glaubenslehre erarbeiten, die wie die Dokumente der Glaubenskongregation vom Papst noch einmal vom Rat der EKD nostrifiziert werden müssten und im Laufe dieses Prozesses auch oft noch einmal geändert würden. Nachdem mein Gesprächspartner mir dann außerdem mitgeteilt hatte, dass in der Glaubenskongregation immer Kollektiv-Voten und Gemeinschafts-Texte veröffentlicht würden und man nie erkennen könne (oder jedenfalls erkennen dürfe), wer welchen Abschnitt eines Dokuments verfasst habe, konnte ich ihm erzählen, dass wir das genauso halten würden und eine meiner Aufgaben darin bestünde, zu stark individualisierte Vorlagen so zu harmonisieren, dass ein Gemeinschafts-Text entstehen könne. Am Ende fragte mich mein Nachbar, ob ich der oberste Glaubenshüter der Evangelischen Kirche in Deutschland sei. Da habe ich natürlich zunächst sehr ausführlich über die entsprechenden Unterschiede zwischen katholischem und evangelischem Lehramt gesprochen und mich herauszureden versucht. Aber als er dann am Schluss sagte: „Irgendwie sind Sie das ja schon“ habe ich irgendetwas wie „Gemeinschaftlich mit vielen anderen ja“ gesagt. Und mir danach angewöhnt, diese Antwort gelegentlich auch in ökumenischen Gesprächen zu wiederholen, insbesondere dann, wenn das Gegenüber meinte, im evangelischen Bereich sei irgendwie alles erlaubt und werde alles geduldet.

Im Laufe meines Lebens habe ich nahezu alle Präfekten der Glaubenskongregation kennenlernen dürfen, zunächst Joseph Kardinal Ratzinger, den ich als korrespondierendes Mitglied eines ökumenischen Arbeitskreises kennenlernte und beim Abendbrot ein außerordentlich heiteres Streitgespräch darüber führte, ob auch evangelische Pfarrpersonen in der Amtskontinuität der einen Kirche Jesu Christi stünden. Als ich ihm sagte, dass seine Vorstellung, es gäbe eine ununterbrochene Kette von Amtsnachfolgen in der römisch-katholischen Kirche, nur unter bestimmten philosophischen Voraussetzungen gelten würde und historisch falsch sei, lächelte er sehr freundlich und sagte: „Immer diese Historiker“. Mit Gerhard Ludwig Müller habe ich einmal zur Eröffnung einer großen Papst-Ausstellung in Mannheim öffentlich disputiert und sein weniger bekannter Nachfolger Luis Ladaria war zunächst Sekretär der Kongregation – und eben der erwähnte Gesprächspartner beim Mittagessen im Germanicum. Alle Präfekten waren im Stil sehr unterschiedlich und natürlich auch in ihren theologischen Präferenzen. Aber alle verstanden sich sehr pointiert als oberste Glaubenshüter ihrer Kirche.

Zungenküsse und Orgasmen

Ratzinger trug meist schwarze Soutane, das knöchellange Gewand der Priester mit den kleinen Zeichen seiner Kardinalswürde – ein rotes Gürtelband (Zingulum), rote Borte und Knopfleisten und statt des roten Hütchens, Pileolus, meistens eine Baskenmütze und eine abgewetzte Aktentasche. Müller trug und trägt in Rom gern eine rote Soutane, die ihn von allen anderen Priestern schon optisch deutlich abhebt. Joseph Ratzinger habe ich einmal gefragt, wie er zwischen seinen eigenen theologischen Schwerpunkten als Professor für systematische Theologie und der „Normaltheologie“ der Kongregation unterscheiden würde und er hat mir damals gesagt, er verstünde meine Frage überhaupt nicht. Gleichwohl hat er bei seinen Büchern über Jesus von Nazareth großen Wert darauf gelegt, dass es sich nicht um lehramtliche Äußerungen des Papstes Benedikt handelt, sondern um theologische Einsichten des Joseph Ratzinger und dies auch einleitend schriftlich vermerkt. Ludwig Müller macht inzwischen mit theologischen wie politischen Äußerungen von sich reden, die auch den Papst kritisch angreifen und eher am rechten Rand des politischen Spektrums stehen.

Den neuen, seit September 2023 amtierenden Präfekten Victor Manuel Fernández kannte ich bisher nicht. Ich wusste natürlich, dass er wie der Papst aus Argentinien stammt, eng mit ihm verbunden ist und wie der Papst auch italienische Verwandtschaft hat und sich daher fließend in Rom verständigen kann. Bevor er das Amt des Präfekten übernommen hat, war er Erzbischof von La Plata, zuvor Präsident der Päpstlichen Katholischen Universität von Argentinien und Dekan ihrer Theologischen Fakultät. Mir war auch bekannt, dass er von konservativen Katholiken wegen zweier Veröffentlichungen stark angegriffen wurde und wird, in denen er jungen Menschen Ratschläge zum Umgang mit ihrer Sexualität gibt und – für einen zölibatär lebenden Priester ungewöhnlich – über Zungenküsse und Orgasmen schreibt. 

Neue Allianzen

Nun hatte ich in dieser Woche Gelegenheit, den sehr freundlich und bescheiden auftretenden südamerikanischen Theologen etwas näher kennenzulernen. Wir beide waren zur Festveranstaltung anlässlich des fünfundsiebzigjährigen Jubiläums der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien (ELKI) eingeladen, die in der Evangelischen Christuskirche in Rom stattfand. Fernández fiel mir schon durch die Kleidung auf. Er trug wie ein ganz normaler Priester einen Straßenanzug. Lediglich der kleine weiße Kragen zeigte, dass er Priester ist und sein meist durch das Jackett verdecktes Kreuz verriet, dass es sich um einen geweihten Bischof handelt. Irgendwelche Abzeichen der Kardinalswürde, die ihm 2023 verliehen wurde, waren nicht zu sehen. Noch viel bemerkenswerter war aber, was Fernández sagte. Er sprach über die Zukunft des Christentums und die inzwischen „sehr unterschiedlichen Auffassungen des Evangeliums innerhalb der christlichen Kirchen. … Diese Unterschiede führen dazu, dass sich mancher Christ im Dialog mit dem Christen einer anderen Konfession oder sogar mit einem Agnostiker wohler fühlt und ein anderer mit muslimischen oder pfingstlerischen Gruppen, die bestimmte Grundsätze der Sexualmoral bis aufs Blut verteidigen“. 

An die Stelle der klassischen konfessionellen Fronten beispielsweise zwischen katholischer und evangelischer Theologie sind auch nach Ansicht des Kardinals neue Allianzen beispielsweise zwischen Progressiven und Traditionalisten getreten. Von der einen wahren katholischen Kirche und den kirchlichen Gruppen (beispielsweise den evangelischen) wie noch bei Ratzinger oder Müller war nicht mehr die Rede – „Kirchen“ und „Konfessionen“, ja selbst „Christentümer“ verwendete Fernández im Plural. Noch viel aufregender aber war, dass er im Laufe seines Beitrags zum Festakt drei Reformer der Kirche aus den letzten zweitausend Jahren nannte – Augustinus von Hippo, Franz von Assisi und Martin Luther. Und nun weiter wörtlich in deutscher Übersetzung: „Luthers Erdbeben war eine Ohrfeige des Heiligen Geistes für eine völlig verweltliche Kirche, die nicht mehr auf das Evangelium hörte, aber wie gut war dieses Erdbeben auch für die katholische Kirche. Und diese Reformer, Augustinus, Franziskus und Luther, kamen nicht allein, sondern es gab sofort eine Gemeinschaft, die sie begleitete, um weiterzukommen“.

 

Kardinal Fenandez

Kardinal Fernández am 25. April 2024 in der Evangelischen Christuskirche, Rom

Natürlich war von Kardinal Fernández auch viel zu hören, was wir von Papst Franziskus schon kennen, den er übrigens in eine Reihe mit den drei Reformern Augustinus, Franziskus von Assisi und Martin Luther stellte und wie diese als Wirkung des Heiligen Geistes versteht. Insbesondere die schroffe Kritik am modernen Kapitalismus, die schon bei Ratzinger zu beobachtende Ablehnung der neuzeitlichen Individualisierung und die scharfe Kritik an der zeitgenössischen technischen Revolution beispielsweise auf dem Feld der künstlichen Intelligenz – man merkt, dass hier zwei miteinander befreundete Theologen sehr ähnlich denken. Natürlich verkündete der Kardinal und Präfekt des Dikasteriums für die Glaubenslehre in der evangelischen Kirche nicht den ökumenischen Durchbruch (was auch gar nicht seine Aufgabe wäre). Er sprach zwar über „Kirchen“, aber Luther inaugurierte eine Gemeinschaft und keine vollwertige Schwesterkirche, wenn ich seine Rede von den Gemeinschaften, die Augustinus, Franziskus und Luther folgten, da nicht überinterpretiere. Selbstverständlich bekannte sich Kardinal Fernández nicht explizit zu wichtigen Punkten reformatorischer Theologie und Kirche, die im ökumenischen Dialog Schwierigkeiten machen (wie beispielsweise die gleichberechtigte Ordination von Frauen zum geistlichen Amt oder die synodale Struktur der Kirche und ihres Lehramts). Man könnte vermutlich sogar sagen, dass er deutlich weniger präzise als seine Vorgänger theologisch formulierte, so dass solche bleibenden theologischen Gegensätze erst gar nicht erwähnt wurden. Aber das mag auch am Anlass einer Begegnung in einer evangelischen Kirche gelegen haben, um hier etwas sicherer urteilen zu können, müsste man sehen, wie Lehrdokumente und Gutachten unter dem neuen Präfekten ausfallen. 

Bemerkenswertes Zeichen

Allerdings stellt ein Präfekt, der Luther als geistgewirkten Reformer der Kirche schätzt und präsentiert, doch ein bemerkenswertes Zeichen eines theologischen und kirchlichen Aufbruchs im Vatikan dar, das man nicht übersehen sollte. Ratzinger hielt Luther noch für einen besonders exponierten Repräsentanten einer im Kern grundgefährlichen Fehlentwicklung mittelalterlicher Theologie, die auf diverse Defizienzen neuzeitlicher Geisteshaltung führte und nicht nur auf die große abendländische Kirchenspaltung. Wir haben uns nicht darüber unterhalten, ob Kardinal Fernández sich zu allererst als oberster Glaubenshüter seiner Kirche versteht. Aber ich könnte mir vorstellen, dass er ähnliche Schwierigkeiten mit der Rolle hat wie ich, als mich der Sekretär einst im Germanicum darüber befragte.

Wie auch immer. Ich bin sehr dankbar, dass ich nun auch den neuen Präfekten Fernández kennenlernen durfte. Denn bei allen klassischen Positionen, die von ihm zu hören waren, gab es doch auch neue Töne aus der einstigen Inquisition, die von dort bisher nicht zu hören waren. Ob das nun eine Schwalbe oder schon ein neuer Frühling ist, welche Folgen die erst einmal rhetorischen Gesten und äußerlichen Zeichen für das Miteinander der Kirchen haben werden, wird sich erst noch zeigen müssen. Für die Ökumene sind schließlich auch ein anderer Kardinal und eine andere Behörde verantwortlich – Kurt Kardinal Koch und das Dikasterium zur Förderung der Einheit der Christen. Wie die beiden kooperieren, wie beide gemeinsam die Lehre ihrer Kirche und ihr Agieren beeinflussen und wie der Papst es letztendlich verantwortlich gestalten wird, muss man sehen. Aber es bewegt sich allerlei in Rom und das sollte man in Deutschland nicht übersehen. Wohin auch immer es sich bewegen wird.

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