Die Krone der Erschöpfung

Bericht aus einer Hausarztpraxis in den langen Zeiten von Corona
Impfengel
Foto: Martin Glauert

Anfangs war Corona nur eine Meldung, später eine bloße Statistik. Dann starb der Kollege, den man seit der Assistenzzeit kannte und mit dem man so gut lachen konnte. Plötzlich erschien das Virus nah und  bedrohlich. Irgendwann blieben die Patienten aus. Ein Rückblick auf mehr als ein Jahr Kampf des  hausärztlichen Internisten und Publizisten Martin Glauert gegen die Pandemie.

Am Anfang war nur das Wort, „Corona“, das in den Nachrichten auftauchte. Ein neues Virus war in China aufgetreten und verbreitete sich dort. Eine Art Grippe, das kennt man ja doch. So richtig ernst genommen hat die Meldung anfangs wohl niemand, es war der sprichwörtliche Sack Reis, der in China umfällt. Nach dem Wort kamen dann die Bilder: die nächtlichen Leichenlaster in Bergamo, die im dämmrigen Licht der Straßenlampen zahllose Säcke mit Toten aus den Krankenhäusern abtransportierten. Dem Zuschauer schnürte sich der Hals zu. Es schien ernst zu sein.

Im Januar 2020 trat der erste Fall in Deutschland auf, im März verkündete der Bundestag eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“. Plötzlich beherrschte das Thema die Schlagzeilen und die Gespräche mit den verunsicherten Patienten. Wurde die Gefahr nicht übertrieben? Über die 25 000 Grippetoten im Jahr 2018 hatte niemand gesprochen, für die Todesfälle dieser neuen Infektion interessierten sich plötzlich alle. War dies nur ein Hype, ein gefundenes Fressen für Presse und Politik? Schließlich hatten wir schon Schweinegrippe, Vogelgrippe und EHEC erlebt, alles war für gewisse Zeit ein Riesenthema, ging dann doch schnell vorbei und war wieder vergessen.

Dieses Virus aber ging nicht vorbei, sondern breitete sich immer weiter aus. Noch waren es nur Meldungen, Nachrichten und Statistik. Dann starb der Kollege, den man seit der Assistenzzeit kannte, den man regelmäßig auf Fortbildungen traf und mit dem man so gut lachen konnte. Plötzlich erschien das Virus nah und bedrohlich. Irgendwann blieben unsere Patienten aus. Aus Furcht vor Ansteckung sagten sie geplante Untersuchungen ab oder meldeten sich gar nicht mehr. Von vielen haben wir erst wieder gehört, als die Entlassungsbriefe aus dem Krankenhaus kamen.

Das Virus schadet und tötet auch ohne Infektion. Weil die Menschen nicht mehr wagen, zum Arzt zu gehen, werden Herzinfarkte zu spät erkannt, der Diabetes entgleist, eine Krebserkrankung entwickelt sich unerkannt. Ebenso schlimm sind die psychischen Verletzungen durch Kontaktsperren, Isolation und Einsamkeit. Es ist unglaublich, wie schnell die alten Menschen in den Heimen ohne Anregung, ohne emotionale Zuwendung und körperliche Nähe abbauen und verfallen. Die Demenz schreitet rasant fort, der Lebensmut schwindet. Angehörige berichten, dass sie beim ersten Besuch nach sieben Wochen ihre Eltern kaum wiedererkannten, sie erschienen ihnen wie abständige Gespenster.

Besuch nicht erlaubt

Viele Hinterbliebene leiden an Trauer und quälenden Selbstvorwürfen, weil sie beim Sterben ihrer Verwandten nicht dabei sein konnten. Eine junge Frau berichtet weinend, dass ihr Vater sich auf dem Dachboden erhängt hat, weil seine Depressionen sich durch die fehlenden sozialen Kontakte und die Einsamkeit verschlimmert hatten. Die ganze Familie ist dadurch vom Virus betroffen. Fast täglich kommt ein junger Mann in die Sprechstunde, der vor Verzweiflung keinen Schlaf mehr findet. Seine 36-jährige Verlobte liegt mit einer Krebserkrankung im Endstadium in der Klinik, ein Besuch ist nicht erlaubt. Statt bei ihr zu sein, ihr die Hand zu streicheln und mit ihr zu sprechen, wartet er nun von Tag zu Tag zu Hause vor dem Telefon auf den Anruf mit der gefürchteten Nachricht. Auch das gegenteilige Phänomen macht uns zu schaffen. Körperlich gesunde Patienten sind verängstigt, deuten harmlose Beschwerden als Symptom der tödlichen Viruserkrankung und wünschen eine ungezielte „Komplettuntersuchung“. Um nichts zu übersehen, müssen wir ein Mindestmaß an Diagnostik machen, was den Betrieb aufhält. Zeitlich und nervlich aufwändiger sind allerdings die Gespräche, in denen wir auf die dahinter liegenden Ängste und die seelischen Nöte eingehen. Neurosen und Zwänge haben sich deutlich verstärkt, was manchmal durchaus zu kuriosen Situationen führt: Gleich zu Anfang der Epidemie hatte ein Mann, der das Haus nicht mehr verlassen wollte, sich Handschuhe und Masken nach Hause schicken lassen, um sich vor dem chinesischen Virus zu schützen. Als das Paket ankam, sah er mit Entsetzen, dass es aus China kam, und stieß es mit dem Fuß ins Treppenhaus zurück. Uns alle infiziert das Virus mit Misstrauen und Angst. Bei jeder Begegnung besteht das Risiko einer Ansteckung. Von jedem Patienten geht eine latente Gefahr für die eigene Gesundheit aus. Wo vorher argloses Vertrauen herrschte, ist nun Vorsicht eingezogen. Man bleibt besser auf Distanz. Kein Handschlag zur Begrüßung, keine tröstende Umarmung mehr, selbst das Lächeln bleibt hinter der Maske unsichtbar. Wenn aber die Mimik nicht erkennbar ist, wird der Kontakt ärmer, Zwischentöne gehen verloren, die Kommunikation ist rein verbal und sachlich.

Wir begegnen uns verkleidet. Extrem ausgeprägt ist das beim Testen. Ich trage einen Ganzkörperanzug wie ein Taucher oder Astronaut, dazu Handschuhe, Atemmaske und zusätzlich noch ein Schutzschild aus Plastik vor dem Gesicht. Wenn ich mich in der Glastür spiegele, erschrecke ich mich vor mir selbst. Manchmal fühle ich mich wie im Krieg. Wir haben seit einem halben Jahr eine neue Mitarbeiterin, die alle Patienten nur mit Maske kennengelernt hat und noch nie deren ganze Gesichter gesehen hat. Für sie wird der Scherz zur Wirklichkeit, der gerade kursiert: Zwei Bekannte treffen sich auf der Straße, sagt der eine, „ich hab’ dich gar nicht erkannt so ohne Maske!“

Alle Abläufe in der Praxis haben sich geändert. Da wegen der Abstandsregeln nur eine begrenzte Zahl von Patienten zur gleichen Zeit im Wartezimmer sitzen darf, haben wir eine strenge Terminvergabe mit klar definiertem Zeitfenster eingeführt. Mal eben zum Arzt gehen oder ein spontaner Besuch bei akuten Beschwerden ist problematisch. Oft müssen wir Patienten wegschicken und um ein paar Stunden vertrösten. Das sorgt für viel Unverständnis und Ärger bei den Betroffenen. Patienten mit Erkältungssymptomen dürfen grundsätzlich nicht in die Praxis kommen, sondern müssen anrufen. Die Anamnese und Diagnose geschieht dann durchs Telefon, selbst die Therapie in Form von Anweisungen und Ratschlägen. Manch einer möchte wie früher kurz abgehört werden, weil er Husten hat, aber das geht nicht mehr. Ein positiver Patient – und die Praxis müsste geschlossen werden. Elementare ärztliche Tätigkeiten und Kontakte entfallen so, das ist für uns genauso unbefriedigend wie für die Patienten, die sich vernachlässigt und abgeschoben fühlen. Das Telefonieren ist zur Hauptaufgabe geworden. Dabei sind es immer die gleichen Fragen, Ängste und Ärger, über die man diskutieren muss. Wie soll ich mich nach Kontakt mit einer infizierten Person verhalten, muss ich in Quarantäne, darf der Arbeitgeber einen Test verlangen, wird weiter Lohn gezahlt? Erschwert werden diese Gespräche dadurch, dass die Regeln von offizieller Seite ständig wechseln. Manches ist absurd, so muss eine direkte Kontaktperson zwei Wochen in Quarantäne, die Ehefrau der Kontaktperson im gleichen Haushalt aber nicht, obwohl sie im Kindergarten arbeitet. Wie will man das vermitteln?

Der Arzt als Feind

Viele aktuelle Bestimmungen erfahren wir nur aus der morgendlichen Tageszeitung oder sogar von den Patienten selbst. Das stärkt nicht gerade das Vertrauen in die ärztliche Kompetenz. Außerdem gefällt nicht jedem, was er hört. Besonders Selbstständige haben konkrete wirtschaftliche Einbußen, wenn ihnen Selbstisolation oder Quarantäne angeordnet werden. Da wird der Arzt zum Feind. Enttäuscht und verärgert reagieren manche, wenn ihnen das Attest verweigert wird, das sie von der Maskenpflicht befreien soll. Glücklicherweise kam es bisher nur zweimal vor, dass wir hartnäckige Maskenverweigerer der Praxis verweisen mussten.

Die Gereiztheit ist allgemein groß, eine Unterhaltung über das Thema Corona wird zum Gang über ein Minenfeld. Die Entspannten lächeln über ihre anscheinend verkrampften Zeitgenossen, die gebannt auf die tägliche Inzidenz starren, Türklinken desinfizieren und ihre Kinder nicht mehr zum Spielen aus dem Haus lassen. Die anderen wiederum geraten in Zorn über die vermeintliche Verantwortungslosigkeit der Hallodris, die auf der Terrasse mit den Nachbarn feiern, während auf den Intensivstationen Menschen nach Luft ringen. Ganz schnell entstehen Feindbilder, Lagerdenken und Zuweisungen. In unserem Team herrscht ein gutes, fast familiäres Verhältnis.

Wir reden über private Dinge, lästern über die Marotten der Ehemänner, die Unarten der pubertierenden Kinder und erzählen von unseren Urlaubsreisen. Doch auch wir sind spürbar vorsichtiger geworden. „Kommen die Kinder über Ostern aus Berlin?“ Noch vor kurzem war das eine unverfängliche, freundliche Frage. Jetzt aber heißt es Vorsicht bei der Antwort – und schnell noch einmal nachgerechnet: Wie viele Personen, wie viele Haushalte, stimmt die aktuelle politische Arithmetik? Man möchte ja nicht dastehen als gewissenlose Person, die das tödliche Virus in die Praxis einschleppt. Es ist kühler geworden, und das liegt nicht nur am ständigen Lüften.

Seit ein paar Wochen hat eine neue Ära begonnen – wir impfen! Das ist Licht am Ende des Tunnels, ein Streif am Horizont. Ein Ende der Pandemie und all dieser beklemmenden Einschränkungen ist in Sicht, es besteht Hoffnung auf ein normales Leben. Kurz herrschte bei den Patienten Erleichterung und Euphorie, dann aber trat eine große Skepsis und Verunsicherung in den Vordergrund. Ist die Impfung schädlich? Macht sie unfruchtbar? Verursacht sie Krebs? Wirkt sie überhaupt? Fragen über Fragen.

Unser Telefon ist überlastet, Patienten mit akuten Beschwerden kommen oft nicht mehr durch. Statt Freude und Zufriedenheit erleben wir zunehmend unterschwellige Aggression und Ellenbogenverhalten. Es wird Druck gemacht, um ein Attest für Priorisierung zu bekommen. Muss man dies dem Patienten regelkonform verweigern, trifft man auf Wut und Ärger. Immer häufiger wird der Vorwurf geäußert, dass ein Bekannter aus der Nachbarschaft schon geimpft sei, obwohl er jünger ist und längst nicht so krank wie man selbst.

Die ständige Diskussion über den „guten“ und den „schlechten“ Impfstoff ist anstrengend und entnervend und raubt Zeit. Wir alle machen Überstunden, impfen auch in der Mittagspause. Es ist selten geworden, dass wir uns in der Küche treffen, einen Kaffee trinken und lachen. Wir sind erschöpft. Umso wohltuender ist es, wenn Patienten uns zeigen, dass sie dankbar sind und unsere Arbeit schätzen. Kürzlich hat uns eine Frau bunte Schlüsselanhänger gebastelt mit der Aufschrift „Impfengel“. Das macht uns Mut. Corona wird nicht das letzte Wort behalten.

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