Nächstenliebe 2.0

Kritisch-konstruktiv: Neue EKD-Leitlinien für einen zukunftsfähigen Sozialstaat
Altenpflege - Ausfahrt im Winter
Foto: Rainer Sturm / pixelio.de

Wie können Würde, Selbstbestimmung und Teilhabe in Zukunft gefördert werden, im Alter, bei Krankheit und in der Pflege? Dieser Frage geht ein neuer EKD-Grundlagentext nach, den die Kammer für soziale Verantwortung der EKD veröffentlicht hat. Autorinnen und Autoren stellten den Text im Rahmen einer kontroversen Fachdiskussion am Freitag in Berlin vor.

Der gesellschaftliche Wandel schreitet voran. Klimawandel, Digitalisierung, demografischer Wandel und Migrationsbewegungen beschreiben schlagwortartig die Zukunftsagenda. Wie der Sozialstaat unter den gegenwärtigen Herausforderungen weiterentwickelt werden muss, ist dabei eine der dringendsten Zukunftsaufgaben, der sich auch die evangelische Kirche und ihre Diakonie stellen müssen. Zum einen als gesellschaftlicher Akteur, aber auch als sozialer Dienstleister.

Wie also muss der Sozialstaat gestaltet werden, damit er unter diesen Bedingungen soziale Sicherheit und Absicherung des Einzelnen gewährleisten kann? Mit dieser Frage beschäftigt sich die neue EKD-Schrift „Einander-Nächste-Sein in Würde und Solidarität - Leitbilder des Sozialstaates am Beispiel Inklusion und Pflege“. Und Johannes Eurich, Mitglied der Kammer für soziale Ordnung, die die Schrift herausgegeben hat, weist gleich zu Beginn der Vorstellung in Berlin auf die christliche Grundlegung der Leitlinien hin. Denn schon im Titel des Textes komme zum Ausdruck, was das eigene Engagement für Christinnen und Christen bedeute: „Der Titel erinnert an das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe“, sagt Eurich, Direktor des Diakoniewissenschaftlichen Instituts der Universität Heidelberg.  Und weiter: „In der Perspektive der evangelischen Sozialethik werden der Glaube an Gott, soziales Verhalten, und das Praktizieren von Solidarität als unauflösliche Einheit verstanden.“ In zwölf Thesen seien einige Positionen vorangestellt, was aus solch einer Grundlegung im Blick auf die heutige Gestaltung des Sozialstaats folge, sie stellten aber keinen neuen revolutionären neuen Ansatz dar. Denn: Gerade die Corona-Krise habe gezeigt, dass sich der Sozialstaat bewährt habe. 

Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland, benennt bei der Vorstellung Forderungen des Papiers, wie die nach einer Reform der Pflegeversicherung. „Die Pflegeversicherung muss sich zu einer bedarfsdeckenden Sozialversicherung mit begrenzter Eigenbeteiligung weiterentwickeln“, sagt Loheide in Berlin.  Außerdem sei eine Stärkung der kommunalen Altenhilfestruktur nötig, damit das Zusammenspiel von Bürgerinnen und Bürgern, Staat, Organisationen der Zivilgesellschaft und professionellen Dienstleistern vor Ort gelinge - in den Nachbarschaften, dort, wo die Menschen leben. Und Loheide weist auf die Notwendigkeit von guten Arbeitsbedingungen und Löhnen in der Pflege hin. Denn die Schlüsselfrage sei der Fachkräftemangel, der die Versorgungssicherheit für die Zukunft gefährde.

Vorwurf des Sozialpaternalismus

Scharfe Kritik an den neuen EKD-Leitlinien übt in der anschließenden Fachdiskussion in Berlin der Wirtschaftsjournalist Rainer Hank. Hank, der bis 2018 die Wirtschaftsredaktion der FAS leitete, beklagt, dass die Eigenverantwortung der Individuen und die Selbstorganisation der Zivilgesellschaft im protestantischen Sozialdiskurs zurücktrete. „Dieser Sozialpaternalismus kann seine Herkunft aus konservativ-protestantischer Staatsgläubigkeit und korporativer Gemeinwohlrhetorik nicht verbergen“, so der Katholik. Er fragt vielmehr, ob die Kirche noch eigenes zu sagen habe? Er jedenfalls vermag in den Sozialschriften der Kirche nichts Eigenes und nichts Neues zu vernehmen. Selbstbestimmung des Einzelnen würde zwar angesprochen, aber stets relativiert. Für ihn sei es deshalb kein Wunder, dass das Papier die Pflegeversicherung als bedarfsdeckende Versicherung ausbauen möchte.

Außerdem äußert sich der Wirtschaftsjournalist zur Sprache des Papiers: Sie schwanke zwischen religiöser Betulichkeit und einem unverständlichen Patchwork des sozialwissenschaftlichen Jargons. Sein Eindruck: „Je mehr Einfluss und Bedeutung der Kirche schwinden, desto hermetischer werden ihre Dokumente.“

Ganz anders Ute Klammer. Die Professorin für Sozialpolitik der Universität Duisburg-Essen begrüßt die neue Schrift mit dem „wichtigen ethischen Gerüst, um sich dem Reformbedarf des Sozialstaates zu widmen“. Und sie konstatiert: Dass es nicht nur um Teilhabe, Anerkennung, Wertschätzung gehe, sondern ebenfalls um Teilgabe, also um die Frage, was jemand mit bestimmten Einschränkungen in die Gesellschaft einbringen könne, sei in dem Leitpapier gut ausgearbeitet.

Caring Communities stärken

Auch die Idee, die Caring Communities zu stärken, wie sie im EKD-Text formuliert und gefordert wird, ist für die Direktorin des Instituts für interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (Duisburg) von besonderer Bedeutung. Schließlich werden derzeit siebzig Prozent der Pflegebedürftigen zuhause gepflegt. Sie sieht ebenso wie Diakonievorstand Maria Loheide im Bereich der Inklusion und der Pflege die deutlich gestiegene Bedeutung der kommunalen Ebene und des Sozialraums.

Allein eine gewisse Unschärfe in der Benutzung des Begriffs Solidarität attestiert die Wissenschaftlerin dem Papier. So habe sich dieser als Leitbegriff in den vergangenen Jahren verändert. „Wenn man ein Papier auf Solidaritätsvorstellungen aufbaut, muss man genau hinschauen“, sagt die Professorin für Sozialpolitik. Die Vorstellungen von Solidarität hätten sich zunehmend selber ökonomisiert, seien mit Konsum verbunden. Das habe auch immer mit Exklusion zu tun. Ein Beispiel dafür sei ökologischer Kaffee. 

Präzisiert werden die Forderungen des neuen EKD-Papiers in Berlin durch Petra Roth-Steiner. Die Pflegedienstleitung des St. Elisabeth-Stift Berlin kritisiert die mangelnde Personalbemessung in der Pflege. Ihre Forderungen: Mehr Personal, die Festschreibung des finanziellen Eigenanteils in der Pflege, eine bessere Beteiligung an der Refinanzierung von Ausbildenden sowie die Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüssen.

Rolf Schmachtenberg, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Berlin) unterstreicht in der Diskussion die Wichtigkeit der Ausführungen zum Verhältnis von Zivilgesellschaft, freier Wohlfahrt und dem Staat im Papier: „Wir sind in Deutschland mit fast dreißig Millionen Ehrenamtlichen sehr partizipativ aufgestellt.“ Das Engagement der Zivilgesellschaft sei in der Pluralität ein wichtiges Prinzip des Sozialstaates, gleichwohl habe der Staat seine Vorsorgefunktion. Wichtig seien wohnortnahe Sozialräume und das Schaffen von sozialen Netzwerken. Dafür müsse ein guter Sozialstaat Sorge tragen und hierzu gebe die Leitschrift viele gute Anregungen.

Der EKD-Text 139 „Einander-Nächste-Sein in Würde und Solidarität - Leitbilder des Sozialstaates am Beispiel Inklusion und Pflege“ kann online unter www.ekd.de/Sozialstaat kostenlos heruntergeladen werden oder als Druckexemplar bei der EKD bestellt werden.

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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