Mord und Reinheit

Gesualdos Responsorien
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England ist reich gesegnet mit hervorragenden Vokalensembles, "Tenebrae" gehört zweifelsohne dazu. Mit klarer Intonation webt der gemischte Chor aus den zusammenströmenden und sich wieder verwirbelnden Linien eine reiche Textur, in der man beim Hören gerne verloren geht. Und den Mörder schließlich doch vergisst.

Man dürfe Gesualdo nicht zu sehr durch die biographische Brille betrachten, warnt der Bassist Gabriel Crouch. Wohl gesprochen, doch im ersten Zugang fällt es schwer, sich dieser Musik unbefangen zu widmen. Wenn Gesualdo den Chor im Miserere um Vergebung der Sünden bitten und gleich darauf singen lässt: "Ich erkenne meine Missetat, und meiner Sünde bin ich mir allzeit bewusst" - dann muss man einfach daran denken, dass der Komponist ein mehrfacher Mörder war, der aus Eifersucht seine Frau, ihren Liebhaber und dessen Kind umbrachte. Mehrere Filme sind dazu gedreht, mehrere Opern gedichtet worden.

Carolo Gesualdo, der von 1561 bis 1613 in Italien lebte, wurde für seine Tat nie zur Rechenschaft gezogen. Vier Jahre später, kurz nachdem er noch einmal geheiratet hatte, komponierte er sein erstes Madrigalbuch. Später kamen auch geistliche Werke hinzu, als letzte die "Responsoria et alia ad Officium".

"Tenebrae", der 2001 von Nigel Short gegründete englische Kammerchor, hat sich daraus der Responsorien für den Karsamstag angenommen, die den gleichen Namen wie der Chor tragen, tenebrae - zu deutsch: Dunkelheit. Gesualdos Nachtgesänge erscheinen aus heutiger Sicht freilich nicht so finster. Und auch die einst verstörenden, kontrastreichen Melodien wirken im Abstand von vierhundert Jahren recht moderat.

Und doch hat Gesualdo musikalisch seinen ganz eigenen, unverwechselbaren Standpunkt vertreten: Als Komponist blieb er der Polyphonie des 16. Jahrhunderts treu, während Monteverdi und andere zu Beginn des 17. Jahrhunderts die begleitete Solostimme entdeckten und einen grundlegenden kompositorischen Wandel einleiteten. Dabei war Gesualdo aber kein Traditionalist, sondern brach die herkömmliche Harmonik durch wegweisende chromatische Wendungen und große Intervallsprünge auf, die teilweise in der Musikgeschichte weit vorausblickten. So war es eine kluge Entscheidung, die CD mit Victorias 1585 entstandenen "Lamentationen" zu komplettieren: Hier erklingt die Polyphonie der Renaissance in ihrer schönen und symmetrisch reinen Ausformung, so dass die Besonderheit Gesualdos im Vergleich umso deutlicher zu Tage tritt.

England ist reich gesegnet mit hervorragenden Vokalensembles, "Tenebrae" gehört zweifelsohne dazu. Mit klarer Intonation webt der gemischte Chor aus den zusammenströmenden und sich wieder verwirbelnden Linien eine reiche Textur, in der man beim Hören gerne verloren geht. Und den Mörder schließlich doch vergisst.

Gesualdo - Tenebrae Responsories. Kammerchor "Tenebrae" unter der Leitung von Nigel Short. Deutsche Grammophon 479 0841.

Ralf Neite

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