„Sehet, welch ein Mensch!“

Gedanken zu Joseph Haydns „Sieben Worten“
Seefahrergrab in Nebel auf der Nordseeinsel Amrum.
Foto: picture-alliance
Seefahrergrab auf dem Friedhof der Kirche St. Clemens in Nebel auf der Nordseeinsel Amrum.

1787 schuf Joseph Haydn (1732-1809) eine instrumentale Vertonung, die die sieben letzte Worte Jesu am Kreuz nachempfinden. Petra Bahr, Regionalbischöfin des Sprengels Hannover, hat für die einzelnen Sätze des Werkes kurze Reflexionen geschrieben. Haydn selbst hielt diese Streicherkomposition für eines seiner gelungensten Werke. 

 

 

Joseph Haydn (1732-1809): 
Die sieben letzten Worte unseres Erlöser am Kreuz, Hob.XX 

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Introduktion 

 

„Vater, Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“

Aber sie wissen doch immer, was sie tun. Wenn sie ihre Folterwerkzeuge bereitstellen, in Kellern, auf Plätzen, auf Hügeln, um ein Imperium zusammenzuhalten durch Angst. Sie wissen doch, was sie tun, wenn sie Großeltern und Enkel abschlachten, Liebespaare und Nachbarn, Frauen vergewaltigen und Mädchen in Tunneln verschwinden lassen. Strategie der Kriege, seit es sie gibt. Sie wissen doch was sie tun, der Pastor, der sich nachts zu den Konfirmandinnen legt und ihnen mit der Hölle droht, in der sie nun ein Leben lang gefangen sind. Sie wissen doch was sie tun, der Vater, der die Zigaretten auf dem Rücken seines Kindes ausdrückt und die Mutter, die ihr Vierjähriges verhungern lässt. Die Teenager, die ihre Klassenkameradin mit gefälschten Bildern und Lügen mit ihren Handys in den Tod treiben. Siebenhunderttausend Klicks. Die Folterer, die Despoten, die sich an der Macht über andere berauschen und die, deren Geschäft die Demütigung ist, sie haben immer doch irgendeine Weltanschauung, eine politische Ideologie, eine Religio, eine Kränkung als Ausrede, eine Entschuldigung vor sich selbst und vor ihren Opfern. „Vergib ihnen“, ruft der Gekreuzigte und nimmt ihnen so ihre Macht. Sie wussten nicht, dass sie sich in jedem Akt der Folter und der Beschämung mit dem Leben selbst angelegt haben, mit seiner Anmut und seiner Würde, die im Bild des Gekreuzigten erscheint. „Seht, welch ein Mensch!“. Vergebung ist ein Akt der Befreiung der Versehrten, der knapp Davongekommenen vor  denen, die sie zerstören wollten, sagt die jüdische Philosophin Hannah Arendt, die dem nationalsozialistischen Terror entkommen ist. Wer so vergeben kann, entmachtet die vorderhand Mächtigen, nimmt ihnen den jeglichen Grund für ihr Treiben. Es ist der ultimative Seitenwechsel: die Ohnmächtigen gewinnen das letzte Wort und befreien sich von der Macht des Bösen. 

Joseph Haydn (1732-1809): 
Die sieben letzten Worte unseres Erlöser am Kreuz, Hob.XX 

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1. Pater, dimitte Ilis. 

 

„Heute noch, wirst Du mit mir im Paradiese sein“. 

Worte, die sich an den Verbrecher richten. Er hängt neben Jesus am Kreuz. Ein Bild mit scharfen Kontrasten. Der, der ohne Sünde ist, wird zusammen mit einem hingerichtet, dessen Foltertod eine Strafe ist. So erzählen es jedenfalls die Passionsgeschichten. Die Figur selbst bleibt im Dunkeln. Kunst und Musik des christlichen Abendlands brauchen ihn als Kehrseite ihrer religiösen Welt, eine Personifizierung des Bösen, dunkles Gesicht, verfilzte Augenbrauen, auffällig lange Nase. Die antijudaistische Stereotype darf nie fehlen. Wichtig ist nur die Sekunde der Einsicht. Was immer dieser düstere Gegenspieler auch in dem Mitgekreuzigten sieht: „Du bist der Erlöser der Welt“. Es ist dieses Bekenntnis von so einem, die es für die Szene braucht. Aber was ist seine Geschichte? Ein verpfuschtes Leben bis zum letzten Atemzug, aus dem es schon früh kein Entrinnen gab oder nur eines mit hartem Bruch, einem Liebesverrat, das den Zorn auf die Menschheit ins Unrecht führte? Nur ein Dieb, der die falschen bestahl oder ein Totschläger gar? Vielleicht war er auch einer, der sich den Gesetzen des Imperiums nicht unterwirft. Der sich nicht duckte, nicht anpasste, nicht auf die Zunge biss, ein Systemsprenger, frech, laut, unbequem? Oder einer, der die Wahrheit aufgeschrieben und verbreitet hat? Ein ganz normaler, ganz außergewöhnlicher Menschensohn, der dem Gottessohn ähnlicher war als der Christenheit lieb ist. Diese Wendung zum Guten in allerletzter Sekunde, in der das eigentlich Aussichtslose nicht mehr gewendet, das Leben nicht noch einmal neu gelebt werden kann, berührt mich immer wieder. Stellvertretend für all die traurigen, brutalen oder auch mutigen, widerständigen Leben, die wir nicht mehr erinnern. Sie warten im Paradies, wo sie einander schon erkennen. 

Joseph Haydn (1732-1809): 
Die sieben letzten Worte unseres Erlöser am Kreuz, Hob.XX 

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2. Hodie mecum eris in Paradiso

 

„Frau, siehe, das ist Dein Sohn“

Keine Mutter soll den Tod ihres Kindes erleben. Heißt es. Ein Satz aus dem Trauergedächtnis der Welt. Das Abgerissensein von dem Wesen, das im eigenen Leib herangewachsen ist. „Ich hänge ohne Verbindung in der Welt. Alle Fäden gerissen“, schreibt eine trauernde Mutter. Dieser unvorstellbare Schmerz der Maria. Er spiegelt sich im stillen Schmerz des Freundes. Johannes. Ich bin wie eine Schnecke ohne Haus, schreibt einer, der seinen liebsten Lebensbegleiter verloren hat. Einsamkeit in zwei Bildern. Zwei Trauernde stehen unverbunden nebeneinander. Der Gekreuzigte fügt sie zu einer neuen Familie. Das geht doch nicht so einfach, denke ich. Einander Familiewerden - das kann man nicht verordnen. Da müssen doch die Voraussetzungen stimmen und die Verantwortlichkeiten und die Verträge. Aber wer sagt, das es einfach sein muss, an den Erdkanten, wo die Särge in die Erde gelassen werden. Die Fürsorge des Sterbenden berührt mich, diese zärtliche Geste, dieser Hinweis, auf den die beiden niemals selbst gekommen wären, ohne roten Faden im Leben und ohne Haus. Von einem, der sich schon früh gegen zu enge Familienbande ausgesprochen hat, eine überraschende Sprache der Liebe. Achtet aufeinander, ihr fühlt ja einen gemeinsamen Schmerz. Was wäre das, wenn so für die Trauernden gesorgt wäre, die Jungen und die Alten und die dazwischen, die neben uns wohnen, ohne Haus und ohne Faden.

Joseph Haydn (1732-1809): 
Die sieben letzten Worte unseres Erlöser am Kreuz, Hob.XX 

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3. Mulier ecce filius tuus

 

Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?

Eli, Eli, lama asabtani. Das ist der Dialekt der Kindheit in Galiläa. Das ist das Gebet, das an die Grenzen des Betens geht, Ausruf tiefster Gottesverlassenheit. Worte der jüdischen Tradition, die seit Jahrhunderten geschrieen und geschluchzt werden, mit letzter Kraft oder in großer Wut, in Lagern, Schutzkellern und an Krankenbetten, in den grausamen Tagen, an denen auch den Frömmsten ihren Gott abhandenkommt. Deus absconditus. Leerer Himmel, leeres Herz, leere Hoffnung. Worte aus dem 22. Psalm:

Mein Gott, des Tages rufe ich, doch Du antwortest nicht und des Nachts, doch ich finde keine Ruhe vor Deinem Schweigen.

Ich bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute. 

Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen. Auf Dich bin ich geworfen von meiner Mutter Schoß an. 

Sei nicht ferne, denn meine Angst ist so nahe und es ist kein Helfer. 

Gewaltige Stiere haben mich umgeben, mächtige Büffel haben mich umringt.

 Ihren Rachen sperren sie auf wie ein reißender Löwe. Ich bin ausgeschüttet wie Wasser. Meine Gebeine haben sich zertrennt. 

Mein Herz ist in meinem Leib wie geschmolzenes Wachs. 

Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, meine Zunge geliebt mir am Gaumen und Du legst mich in des Todes Staub. 

Hunde haben mich umgeben und der Bösen Rotte hat mich umringt. Sie haben meine Hände und Füße durchgegraben. Ich kann alle meine Gebeine zählen.

Ein Gebet, als Sprachform, die sich selbst unmöglich macht und doch von Ferne eine neue Möglichkeit wachsen lässt. Denn es bleibt ja ein Gebet.

Joseph Haydn (1732-1809): 
Die sieben letzten Worte unseres Erlöser am Kreuz, Hob.XX 

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4. Deus meus, Deus meus, utquid dereliquisti me?

 

„Mich dürstet“. 

„Mich dürstet.“ Schrei eines Körpers im Todeskampf. Bild auch für eine Sehnsucht nach Leben, die sich fast körperlich anfühlt. Dieser Durst hat nichts mit dem Durst an Sommerabenden zu tun, wenn nach einer Radtour durch die Felder ein kühles Weizen vor mir steht. In dieser Art Durst zeigt sich existenzielle Not. Der Schrei nach einem Überlebensmittel der Seele. So gebraucht es auch die Bibel. In Wüstennähe und unter der Sonnenglut des mittleren Ostens drängt sich das Bild auf. Es zieht sich durch die Geschichten, die vom Gekreuzigten erzählt werden. Man trifft ihn an Brunnen unter dem Schatten der Bäume. Der, der den Durst so vieler nach Anerkennung und Sinn, nach Gottesnähe und Menschenfreundschaft gestillt hat und dem man nachsagt, selbst die Quelle des Lebens zu sein, schreit nun selbst nach Wasser. Mehr Mensch kann niemand sein als einer, der der noch den Trieb nach Flüssigkeit spürt, die stechenden Schmerzen in den Muskeln, kurz vor dem Delirium. Die Passion ist keine, die sich bloß in geistigen Sphären abspielt, als geistiges Spektakel mit ein paar philosophischen Schmerzen. Wer je vor dem Isenheimer Altar stand oder vor den versehrten Leibern von Francis Bacon, sieht am Kreuz einen Körper mit geschundener Haut und Pockennarben, Bild des elenden, verletzlichen, sterblichen Leibes, das des Gottessohns und das all der anderen Gotteskinder und ihres Schreis nach Leben in Fülle.

Joseph Haydn (1732-1809): 
Die sieben letzten Worte unseres Erlöser am Kreuz, Hob.XX 

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5. Sitio!

 

„Es ist vollbracht.“

Es gibt ihn nicht, den schönen Tod. Auch nicht den auf den Hochglanzpapieren von Sterbehilfsorganisationen. Der Tod ist immer ein Kampf, ein kurzer oder ein langer. Auch die Frömmsten hängen noch im Sterben an jedem Zipfel des Lebens. Und wer freiwillig aus dem Leben scheidet, hat diese Agonie schon hinter sich. Das Ende einer Passion kommt auch für den Gottessohn nicht als ein sanftes Dahingleiten in den Raum der Erlösung. Es ist vollbracht. Der Satz markiert das Ende einer Leidensgeschichte. Er markiert aber auch das Ziel einer Mission. Hier, am Folterort des Menschen Jesus, steht jetzt das Zeichen der Erlösung, ein Symbol der Hoffnung, der Versöhnung, der Befreiung. Knoten im Kopf. Beklemmung statt Bekenntnis. Wie kann am Ende der Höllenqual ein Himmel aufscheinen der mehr ist als eine billige Vertröstung? Eine intellektuelle Zumutung, die sich durch noch so viele theologische Traktate nicht auflösen lässt - aber nur so, in ihrer Unauflöslichkeit, ein kräftiges Zeichen bleibt und ein Stachel im Fleisch eines müde gewordenenen Christentums, das sich in Moral aufzulösen scheint, weil es den eigenen Zumutungen nicht mehr traut: Mitten im Tod vom Leben umfangen. Ausgerechnet im Ende des Einen liegt ein Anfang für alle, diesseits der Moral. Für eine Menschheit, die schon lange nicht mehr ganz bei Trost ist, vielleicht nur eine schwache Aussicht. Für manche der einzige Trost im Leben und im Sterben. Aber auch ein schwacher Trost ist einer. 

Joseph Haydn (1732-1809): 
Die sieben letzten Worte unseres Erlöser am Kreuz, Hob.XX 

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6. Consummatum est.

 

„In Deine Hände befehle ich meinen Geist“. 

Und wieder die Sprache der Psalmen, die Aneignung alter Worte, wo eigene Worte fehlen, ein Sichbergen in der Tradition, in Sätzen, in die sich schon die Vorfahren gehüllt haben. Das letzte Wort Jesu, des wortmächtigen Gottesgeschichtenerzählers ist ein Zitat. So zu sprechen ist ein Akt des Vertrauens. Sich den Worten anderer anvertrauen vielleicht auch ein Akt der Einsicht in die eigenen Grenzen. Sich nicht ständig selbst erfinden müssen, klüger oder poetischer oder aktueller sein, frömmer oder cooler oder zeitgemäßer. Orginalitätsverzicht. Was für eine Entlastung, dieser Generationenvertrag biblischer Überlebenstexte. Jesus zitiert ein altes jüdisches Gebet und vertraut sich dem Vertrauen derer an, die vor ihm so gestorben sind, dem Glauben seiner Ahnen. Er verbindet sich mit denen hinten, dem Volk, aus dem er gekommen ist, der Verheißung, die schon den Vätern und Müttern gegeben ist. Er stirbt als Jude mit den Worten der Juden und schenkt dem Rest der Welt den Mantel dieser alten Verheißungen. Er gleitet im Schutz ihrer Verbindung hinüber zu Gott. Ein Flüstern, ganz leise. Dann ist es still. Bis das Grollen näherkommt und die Erde bebt. Der Tod, eine gewaltige Erschütterung. Dieser eine Tod. Und jeder Tod. Und die Musik treibt mich aus meinem erdbebensicheren Herzen. Macht verletzlich und aufmerksam. Ecce homo.

Joseph Haydn (1732-1809): 
Die sieben letzten Worte unseres Erlöser am Kreuz, Hob.XX 

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7. In manus tuas Domine, commendo spiritum meum. 

 

Joseph Haydn (1732-1809): 
Die sieben letzten Worte unseres Erlöser am Kreuz, Hob.XX 

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Terremoto

 

 

 

 

Am 11. März hatten Mitglieder der NDR-Radiophilharmonie zusammen mit Petra Bahr und den oben dokumentierten Lesungen Haydns „Sieben Worte“ in der Fassung für Streichquartett im kleinen Sendesaal des NDR in Hannover aufgeführt. 

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Foto: Jens Schulze

Petra Bahr

Petra Bahr (*1966) ist studierte Theologin und Philosophin und war von 2006 bis 2014 die erste Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, leitete dann gut zwei Jahre die Hauptabteilung "Politik und Gesellschaft" der Konrad-Adenauer-Stiftung, bevor sie seit 2017 Regionalbischöfin des Sprengels Hannovers ist. Seit 2020 ist sie Mitglied des Deutschen Ethikrates.


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