Schulstunde im Plural

Ein Besuch im Hamburger „Religionsunterricht für alle“
Bereits der Religionsraum im Helmut-Schmidt-Gymnasium deutet auf verschiedene Glaubensrichtungen hin. (Foto: Andreas Gloy)
Bereits der Religionsraum im Helmut-Schmidt-Gymnasium deutet auf verschiedene Glaubensrichtungen hin. (Foto: Andreas Gloy)
In Hamburg steht der Religionsunterricht vor einer Zeitenwende. Bislang lag er allein in evangelischer Verantwortung, künftig sollen auch Muslime und Aleviten über seine Inhalte entscheiden und auch christliche Schüler unterrichten dürfen. Die Beteiligten zeigen sich optimistisch, doch es gibt noch offene Fragen, wie die Journalistin Hedwig Gafga feststellt.

Religionsunterricht im Helmut-Schmidt-Gymnasium in Hamburg-Wilhelmsburg: 24 Jugendliche aus zwei neunten Klassen und ihr Lehrer sitzen im Kreis. „Wie viel ist vier mal sieben?“ Ein paar unterschiedliche Zahlen werden gerufen, die Schüler wissen, worauf ihr Religionslehrer Andreas Gloy hinauswill: „Da gibt es einen Unterschied zwischen Mathe- und Religionsunterricht. Es geht hier nicht um richtig oder falsch. Mich interessiert, wie du darüber denkst.“

Eine Schulstunde im Hamburger „Religionsunterricht für alle“. In ihm werden alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam unterrichtet, unabhängig davon, ob sie einer Religion angehören – und wenn ja, welcher. Das wichtigste Lernziel ist die Fähigkeit zum Dialog. Dem Lehrer gegenüber sitzen die Mädchen in einem Pulk, einige mit Kopftuch und knöchellangem Kleid, andere in T-Shirts und Jeans mit Löchern, rechts und links von ihnen die Jungen, die meisten mit rasiertem Halfcut- Haarschnitt, in T-Shirt, Jeans und Turnschuhen. Mehr als zwei Drittel kommen aus muslimischen Familien, etwa eine Handvoll Jugendliche aus der Religionsklasse haben einen christlichen Hintergrund.

In der Mitte des Kreises liegt auf dem Boden eine umgedrehte Matte. Auf sie sei er beim Einkaufen im Baumarkt gestoßen, sagt Gloy, groß, schlank, trotz grauer Schläfen eine jugendliche Erscheinung. Er dreht die Matte um: zu sehen ist ein Ball, daneben steht „Fußball“ und darunter „Gott“. „Das ist ein Fußabtreter. Man kann’s auch in der Toilette benutzen. Also, ich finde das unangemessen“, meldet sich ein Junge. Ein Mädchen antwortet: „Das kann man in unterschiedlichen Situationen benutzen. Kommt darauf an, was man reininterpretiert.“

„Wie findet Ihr es, dass so eine Matte im Baumarkt verkauft wird?“ Viele melden sich, Ilyas kommt dran. „Ich finde es nicht gut, dass der Name Gottes in den Dreck gezogen wird.“ Edda erwidert: „Ich finde es nicht gut, aber nicht so sehr negativ. Die Person, die das tut, hat wohl nur an den Profit gedacht. Jemand, der nicht religiös ist, empfindet das nicht als schlimm.“ Amir entgegnet: „Aber für mich, der glaubt, ist es respektlos.“ „Noch schlimmer in Verbindung mit Fußball. Fußball ist nichts Göttliches“, wirft Ayse ein. „Was würdet Ihr dem Chef des Baumarktes sagen?“, fragt Religionslehrer Gloy die Schüler. Sie würden ihn zunächst fragen, wie er selbst die Sache sieht, so lauten die ersten Antworten.

Die Schüler lernen, dass es sich lohnt, andere Perspektiven nachzuvollziehen. Sie befragen sich selbst und die anderen über ihre Religiosität und lernen, ihre Ansichten auszudrücken und miteinander auszutauschen. Oft geht Andreas Gloy von Fragen aus, die alle betreffen und auf die sie gemeinsam nach Antworten suchen. Meist führen die Gespräche zu grundlegenden Themen: Woran man glauben und sich halten kann, was einen stärkt und wozu man sich bekennen will. Im Unterschied zum konfessionellen Religionsunterricht lernen Schüler hier nicht nur Antworten aus der eigenen Religion kennen. Es ist kein Unterricht nur für Evangelische, für Katholiken, Muslime, Juden oder Buddhisten, sondern ein Unterricht im Plural: nicht in Religion, sondern in Religionen. Im Verstehen religiöser Sprache und Symbolik, im Verstehen des religiösen Denkens und Erzählens.

Das Fach Religion wird an Hamburger Schulen „in evangelischer Verantwortung“ erteilt, und von Lehrerinnen und Lehrern, die einer Kirche mit evangelischem Bekenntnis angehören. Nun steht eine neue Etappe unmittelbar bevor. In dem 2012 geschlossenen Vertrag der Stadt mit muslimischen Dachverbänden sowie mit der alevitischen Gemeinde wurde vereinbart, dass diese Religionsgemeinschaften den „Religionsunterricht für alle“ in Zukunft mit verantworten und auch muslimische und alevitische Religionslehrer das Fach nach einer Übergangszeit unterrichten. An zwei Pilotschulen geschieht das bereits. Die Ergebnisse einer Evaluation des Pilotprojekts sollen im Herbst vorliegen. Gleichzeitig erhalten eine Handvoll neuer muslimischer Lehrerinnen und Lehrer die „Idschaza“, die islamische Lehrerlaubnis, durch die beteiligten muslimischen Verbände.

Die gleichberechtigte Beteiligung anderer staatlicherseits anerkannter Religionsgemeinschaften erscheint als die logische Weiterentwicklung des Hamburger Wegs, den das Pädagogisch-Theologische Institut in Hamburg in den Achtzigerjahren angebahnt hatte. Religionspädagogen hatten die Ausgestaltung des Fachs von den Erfordernissen der Gesellschaft her begründet und Vertreter anderer Religionen an der Unterrichtsentwicklung beteiligt. Im Religionsraum des Helmut-Schmidt-Gymnasiums liegen um die Fußmatte herum Zettel mit Lehrsätzen aus den Religionen.

Die Schüler fassen sie in eigenen Worten zusammen: „Man soll Gottes Namen nicht in den Dreck ziehen.“ „Da geht es um etwas Wichtiges. Missbrauch ist, wenn man Gott benutzt, um Krieg zu führen.“ Dann liest ein Schüler ein Wort aus dem Koran: „Schmäht die Götzen nicht, welche sie statt Gott anrufen.“ „Ist das wirklich aus dem Koran?“, ruft jemand, „das verstehe ich nicht“. Die Koransure wird fast ungläubig aufgenommen und noch zwei Mal vorgelesen. „Das heißt, dass Du Respekt vor anderen zeigen sollst, selbst wenn die an etwas glauben, woran man selber gar nicht glaubt“, erklärt schließlich ein Junge.

Bereits der Religionsraum des Helmut-Schmidt-Gymnasiums deutet auf verschiedene Glaubensrichtungen hin: Auf zwei Tischen sind eine Thorarolle, ein Kreuz, Buddha, Gebetsketten, ein Schoffarhorn, der arabische Schriftzug Allah und ein siebenarmiger Leuchter zu sehen. Hier soll das Verständnis für unterschiedliche Perspektiven auf Gott und die Welt wachsen. „Diese Form von Toleranz muss man Angehörigen aller Religionen und auch Agnostikern zumuten“, sagt Gloy. Das gelte auch für Lehrer. „Wenn einer sagt, ,das Christentum ist der einzige Weg’ oder ,Der Islam ist der einzige Weg’, dann dürfte es ihm schwerfallen, als Religionslehrer zu arbeiten. Eine dialogbereite Haltung ist notwendig.“

In Hamburg ist diese Form des Religionsunterrichts inzwischen eine Tradition, die von keiner politischen Partei in Frage gestellt wird. Es gäbe auch kaum Abmeldungen von diesem Religionsunterricht im Klassenverband, sagt Propst Karl-Heinrich Melzer, der als Kirchenvertreter an der aktuellen Weiterentwicklung des Faches beteiligt ist. Die katholische Kirche ist nicht dabei, sie bietet an einigen Schulen zusätzlich Unterricht für katholische Schüler an. Melzer nennt den „Religionsunterricht für alle“ einen „großen Schatz“ und ist sich sicher: „Der dialogische Unterricht trägt zum Religionsfrieden in der Stadt bei.“

Wie es mit diesem Modell weitergeht, ist jedoch noch nicht ausgemacht. Ein Gutachten, von der Nordkirche in Auftrag gegeben, soll klären, ob das Modell des „Religionsunterrichts für alle“ sich auch dann weiter im Rahmen der Verfassung bewegt, wenn künftig mehrere Religionsgemeinschaften den Unterricht gemeinsam verantworten. Nach Artikel sieben, Absatz drei des Grundgesetzes ist Religion ein bekenntnisorientiertes Fach, das die Ausübung der Religionsfreiheit fördern und zu Orientierung und Identitätsbildung der Schüler beitragen soll. Es ist keine neutrale Religionskunde. Die Väter und Mütter der Verfassung hatten nach dem Krieg die religiösen Gegebenheiten ihrer Zeit vor Augen, eine grobe Aufteilung in evangelische und katholische Konfession. Kann bekenntnisorientierter Unterricht heute heißen, dass nicht eine, sondern mehrere Religionen die Inhalte bestimmen und damit die schulische religiöse Orientierung in den Dialog übergeht?

Hans Ulrich Keßler, der Leiter des Hamburger PTI, mag keine Prognose abgeben. „Schließlich weiß man auch von einer Expedition auf den Mars nicht, wie sie ausgeht. Aber wir arbeiten hart daran, dass es gelingt.“ In einem Aufsatz erörtert Jochen Bauer, Fachreferent der Hamburger Schulbehörde, mögliche verfassungsrechtliche Einwände in Bezug auf den „Religionsunterricht für alle“, und fragt schließlich, ob ein solcher Unterricht in einem pluralistischen Großstadtmilieu, in dem sich volkskirchliche Strukturen auflösen, im Sinne der Verfassung nicht sogar geboten sei. Die Alternative zu diesem Religionsunterricht wäre, dass mehrere Religionsgemeinschaften ihren Unterricht für konfessionelle Gruppen anbieten, dann aber würde Religion als unattraktives Wahlfach in den Nachmittag ausgelagert, glaubt Bauer, und dies wäre gar nicht im Sinne der Verfassung.

Obwohl Vertreter anderer Religionen an Planung und Materialauswahl für den Religionsunterricht bereits beteiligt sind, ist ein von Christen, Muslimen, Juden und Aleviten gleichberechtigt verantworteter Religionsunterricht ein riesengroßer Schritt in eine neue Ära. Das lässt sich an manchen Reaktionen deutlich ablesen. Als muslimische Lehrer im Rahmen des Pilotprojekts zu unterrichten begannen, titelte das Hamburger Abendblatt: „Muslime unterrichten christliche Religion an Schulen.“ Das zeigt die Angst vor einer Erziehung in einer Fremdreligion. Dabei geht es um interreligiöses dialogisches Lernen, wie es in der Hamburger Lehrerausbildung gelehrt wird. Doch das ist für viele jenseits der eigenen Erfahrungswelt und schwer vorstellbar.

Auch bei den beteiligten muslimischen Verbandsvertretern ist eine ambivalente Haltung spürbar. Zwar haben sie sich im Staatsvertrag zum „Religionsunterricht für alle“ bekannt. Aber ihre Verbände favorisieren den – von anderen Religionen getrennten – Islamunterricht in den Schulen. Murat Pirildar vom Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) wünscht sich Veränderungen beim „Religionsunterricht für alle“. „Wir verantworten den Unterricht mit“, bestätigt er, „aber was passiert, wenn eine nichtmuslimische Kraft den Unterricht leitet?“ Soll heißen: Können wir ihn dann wirklich mit verantworten? Murat Pirildar möchte, dass „religionsspezifische Phasen“ implantiert werden, in denen die Schüler nach Religionen getrennt unterrichtet werden. Etwa wenn es um das Leben des Propheten Mohammed und parallel dazu um das Leben Jesu gehe, könnten die Schüler zunächst in getrennten Gruppen arbeiten und sich ihre Ergebnisse später gegenseitig vorstellen.

Auch Mustafa Yoldas, Vorsitzender des muslimischen Dachverbands „Schura“, findet „religionsspezifische Phasen“ sinnvoll. Die religiöse Bindung lasse in der jüngeren Generation nach, der schulische Unterricht könne dieser Entwicklung „durch eine Binnenvertiefung in der eigenen Religion“ entgegenwirken. Jedoch setze das „Phasenmodell“ einen hohen personellen und räumlichen Aufwand in der Schulorganisation voraus, da werde die Behörde nicht mitspielen, so seine Vermutung. Deshalb hält er es für „fern der Realität“. Er steht zum Staatsvertrag und hofft, dass die anderen muslimischen Verbände wegen des Staatsvertrags den „Religionsunterricht für alle“ in Kauf nehmen.

Mit am Verhandlungstisch sitzt als Vertreter des DITIB-Verbandes auch Sedat Simsek. Er setzt sich für eine stärkere Anbindung an die deutsche Gesellschaft ein. DITIB geriet in der Vergangenheit massiv in die Kritik. Zunächst weil die Ausbildung der Imame, die nach Deutschland entsandt werden, in der Türkei stattfindet, zuletzt weil innerhalb der Organisation auf Weisung der türkischen Regierung bespitzelt wurde. Es ist darum kein Zufall, dass alle an der Weiterentwicklung des Religionsunterrichts Beteiligten besonders hervorheben, dass nicht Pfarrer, Imame oder Rabbiner den Unterricht erteilen sollen, sondern dafür ausgebildete und von den Religionsverbänden anerkannte Lehrerinnen und Lehrer.

Im Andreas Gloys Unterricht liegen neben der Matte mit dem Aufdruck „Fußball Gott“ noch zwei ungelesene Zettel. Darauf stehen Artikel eins und Artikel fünf des Grundgesetzes, in denen die Würde des Menschen und die Meinungsfreiheit garantiert werden. „Die widersprechen sich“, meint ein Schüler. „Wenn man sich beleidigt fühlt, muss man daran denken, dass es da eine Grenze gibt, eben die Meinungsfreiheit. Es ist nicht immer eindeutig.“ Edda sieht eine Verbindung zwischen den Worten aus den Religionen und den Verfassungsartikeln. „Die Würde des Menschen in der Verfassung ist ein Synonym für die Texte, die wir vorher gelesen hatten“, meint sie. Die Spannung, mit der die Schüler die Positionen zum Umgang mit dem Namen Gottes verfolgt haben, lässt gegen Ende der Stunde nach. Was haben Gebote aus den Religionen mit dem Grundgesetz zu tun? Das bleibt einer anderen Religionsstunde vorbehalten.

Hedwig Gafga

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