Lebendige Kirchengemeinschaft

Die Zukunft der GEKE – ein hoffnungsvolles Nachdenken über Herausforderungen
In Sibiu wird im kommenden Jahr die GEKE-Vollversammlung tagen.
Foto: picture alliance/Zoonar
In Sibiu wird im kommenden Jahr die GEKE-Vollversammlung tagen.

Von Island bis zur Ukraine, von Dänemark bis nach Griechenland, derzeit gehören 95 protestantische Kirchen der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) an. Die Jenaer Systematikerin Miriam Rose ist seit 2018 deren Präsidentin. Sie beleuchtet die Herausforderungen, vor denen die Kirchengemeinschaft steht.

Als ich Anfang Mai in Visegrád in Ungarn nach langer Anreise ankomme, sitzen auf der Sonnenterrasse des Tagungshotels bereits Kirchenvertretende aus Bern, aus Bukarest und Nürnberg. Der Blick auf die silbrige Donau ist grandios. Ein serbischer Methodist stößt zu uns. Gleich sind wir alle dabei zu erzählen, wie der Ukraine-Krieg und die Aufnahme von Ukrainer:innen das kirchliche Leben derzeit prägen. Für weitere drei Tage steht das Thema „Kirche und Demokratie“ im Mittelpunkt. Es handelt sich um die Südost-Europa-Regionalgruppe der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), der ich seit 2006 angehöre und die mich theologisch geprägt hat. Welche Gestaltungsaufgaben muss die GEKE in Zukunft bewältigen, um ihre Bedeutung für die Kirchen und für Europa weiter zu stärken?

Es sind fünf anspruchsvolle Herausforderungen. Nicht zu sprechen von Herausforderungen, denen sich in Europa auf irgendeine Weise alle Gemeinschaften und alle Institutionen zu stellen haben: von den Veränderungen in der Energieversorgung über die Inflation bis hin zu demografischen Entwicklungen und Fragen der gerechten Beteiligung der jungen Generation an den Gestaltungsprozessen.

Was das Zusammenleben in Europa erschwert, ist eine Zunahme an wahrgenommener, an zum Ausdruck gebrachter Pluralität. Das betrifft Unterschiede in Kommunikationsstilen, in kulturellen Erwartungen, in ethischen Positionen und in politischen Haltungen. Vielleicht sind die Unterschiede gar nicht größer als früher, aber sie werden deutlicher zum Ausdruck gebracht und sensibler wahrgenommen. Das fordert die GEKE bei allen Aufgaben und in allen Gremien heraus und bringt die Kirchengemeinschaft voran. Die Chance für die GEKE besteht ferner darin, dass sie, indem sie sich dieser Aufgabe geduldig stellt, zur Versöhnung in Europa beiträgt.

Neue Pluralität

Europa bedarf der beständigen inneren Vermittlung und des Dialoges. Europa bedarf auch mehr an europäischer Öffentlichkeit als nur die GEKE. Doch die GEKE kann einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie Menschen aus verschiedenen Kulturen, von verschiedenen theologischen Positionen und politischen Hintergründen zusammenbringt, und zwar anders als oft in Wissenschaft und Kultur: über Jahre hinweg, in kontinuierlich arbeitenden Kommissionen und Beiräten. Weil diese Arbeitsgruppen nicht nur diskutieren, sondern vor allem zusammen Gottesdienst feiern und auch Persönliches teilen, nehmen alle die anderen primär als Mitchrist:innen und dann als konkret verortet Denkende wahr. Je aufmerksamer man die Kontextualität der anderen zu verstehen sucht, umso hellsichtiger wird man auch der eigenen Kontextualität ansichtig. Das betrifft auch die Weise, wie man selbst Dissens ausdrückt oder was man für professionelles Verhalten hält. So entsteht Vertrauen, und so lernen alle Beteiligten, oft konflikthaft, ihre eigenen Traditionen nicht mehr als den einzigen Maßstab zu sehen. Diese „Vertrauensgemeinschaft“ (Barbara Rudolph) bewährt sich in Konflikten.

Damit kann die GEKE zu einem Europa-Verständnis beitragen, das keine Region privilegiert, das dem in Europa verbreiteten Konzept von einer Mitte Europas und seinen Rändern entgegenwirkt. Die GEKE versteht Europa stattdessen in Bildern eines Netzwerkes und in Metaphern von Brücken und Begegnungszonen. Europa, so eine GEKE-Vision, ist Kommunikation unter Gleichen, Europa ist der Austausch von vielfältigen Perspektiven. Europa ist unbequem, Europa ist anstrengend. Plurale und freiheitliche Formen des Zusammenlebens sind immer ungemein anstrengend. Diese Anstrengung lohnt sich aber unbedingt. Die GEKE-Vision von Europa und das, was die GEKE dafür leisten kann, entsprechen einander.

Evangeliumsgemäßes Leben in Beziehungsfülle – auf diesen Begriff bringt das Dokument „Theologie der Diaspora“ von 2018 die positiven Erfahrungen des Kircheseins in der Diaspora aus evangelischer Perspektive. Nicht nur in einzelnen Regionen, sondern in Europa insgesamt sind die evangelischen Christ:innen in der Minderheit. Wenn man von den Mitgliedern des Europarates (47 Staaten) ausgeht, dann waren 2015 ungefähr 60 Prozent der Bevölkerung christlich. Etwa acht Prozent der Bevölkerung wurden als protestantisch gezählt, 28 Prozent als katholisch und 22 Prozent als orthodox. Es ist davon auszugehen, dass die Zahlen inzwischen gesunken sind.

Zur GEKE gehören derzeit 95 evangelische Kirchen, die zusammen ungefähr 50 Millionen evangelische Christ:innen bedeuten, von Island bis zur Ukraine, von Dänemark bis zur Griechischen Evangelischen Kirche. Diese Beziehungsfülle lässt die Beteiligten doppelt staunen: zum einen, wie verschieden sich das kirchliche Leben vollzieht, zum anderen, wie ähnlich oft die gegenwärtigen Herausforderungen sind.

Fast alle Kirchen erleben einen deutlichen Rückgang ihrer Mitgliederzahlen, manche einen dramatischen. Die Kirchen, die sich bisher als Mehrheitskirchen erlebt haben, erfahren diese Entwicklung als besonders verunsichernd und irritierend. Gerade hier können die Kirchen aus dem Dialog und der Zusammenarbeit Stärkung erfahren, weil die „traditionellen“ Minderheitenkirchen viele pragmatische Lösungen und viele theologische Reflexionen anzubieten haben, welche den „neuen“ Minderheitenkirchen helfen können. Weiterführend sind auch Impulse, die Theologie der Diaspora im Sinne einer öffentlichen Theologie zu verstehen, die sich in einer Fülle von Formen vollziehen kann, weit über theologische Stellungnahmen zu politischen und sozial­ethischen Themen hinaus. Die Herausforderung also lautet, ob es allen Kirchen einzeln und ob es der GEKE als Kirchengemeinschaft gelingen wird, ein konstruktives und zukunftsfrohes theologisches Selbstverständnis als Minderheit zu entwickeln.

Keine Überorganisation

Die dritte Herausforderung liegt darin, die institutionelle Gestalt förderlich weiterzuentwickeln. Die zunehmende institutionelle Gestaltwerdung der GEKE ist zunächst durchweg positiv zu bewerten. Dazu gehören die feste Geschäftsstelle in Wien, ein hauptamtlicher Generalsekretär, eine Kommunikationsstrategie, eine Geschäftsordnung für den Rat – um nur einige der Elemente der stabilisierenden Institutionalisierung zu nennen. Die damit verbundenen förderlichen Erfahrungen bergen allerdings ein hohes Risiko: dass die GEKE, dass ihre Hauptamtlichen mit Anforderungen und Aufgaben überlastet werden. Das wäre negativ nicht nur wegen der Arbeitssituation der Hauptamtlichen. Das wäre auch de­struktiv angesichts ihres Selbstverständnisses: Die GEKE ist keine Überorganisation über den Kirchen, sondern sie ist und lebt als Kirchengemeinschaft zwischen den Kirchen. Diese Kirchengemeinschaft vollzieht sich primär durch reale Beziehungen, Dialoge und Zusammenarbeit zwischen den Kirchen; sie geschieht nur nachgeordnet und ermöglichend durch die Leitungsgremien. Schließlich, und das ist der wichtigste Aspekt, würde die GEKE ihre Freiheit und Stärke verlieren, das und nur das zu tun, was gerade für die Gemeinschaft zwischen den evangelischen Kirchen in Europa nötig und was für gemeinsames Zeugnis und gemeinsamen Dienst wichtig ist. Der geschäftsführende Präsident der GEKE, John Bradbury, hat dafür den Ausdruck geprägt: „We have to become better in doing less.“ Die Herausforderung für die GEKE also lautet, in keiner Weise etwas an Aufgaben zu verdoppeln, was die einzelnen Kirchen für sich schon machen oder was andere ökumenische Institutionen leisten. Dafür hat sie noch klarere Kriterien zu entwickeln.

Lebensverdüsternde Verzweiflung

Auf welche Zukunft hoffen wir, wir Christ:innen, wir Kirchen, wir Menschen? Eine Antwort zu leben, ist die vielleicht drängendste Herausforderung für die Kirchen in Europa und damit auch für die Kirchengemeinschaft. Angesichts der Vorhersagen für den Klimawandel und die geopolitischen, ökonomischen und sozialen Folgen bleibt für konkrete Hoffnung wenig Raum. Viele Menschen spüren lebensverdüsternde Verzweiflung und engagieren sich mit wachem Sinn für die Dringlichkeit von Veränderungen. Andere Menschen begegnen dem Thema mit prinzipiellem Optimismus, dass alles schon nicht so schlimm werden wird oder dass die technischen Innovationen schon kommen werden, welche die Menschheit retten. Wie kann eine Zukunft gedacht werden, zwischen Verzweiflung und Zweckoptimismus?

Christ:innen ist eine Hoffnung zugesprochen, die mehr ist als die künftige Abwendung von Katastrophen. Der Grund der Hoffnung ist das Handeln und Lieben des dreieinigen Gottes, der Menschen immer neu mit Möglichkeiten beschenkt, selbst zu Transformationen beizutragen, kreativ zu gestalten und solidarisch zu leben. Die Menschheit weiß nicht, was kommt. Vielleicht werden noch die negativsten Vorhersagen der Klima-Forschenden übertroffen, vielleicht sind die planetarischen Grenzen größtenteils schon überschritten, vielleicht werden bald die positiven sozialen Kipp-Punkte erreicht, so dass viele Menschen bereit sind, sich auf politische und persönliche Veränderungen einzulassen. Aus christlicher Sicht aber dürfen wir hoffen, dass Gott seine Geschichte mit der Menschheit, mit der planetarischen Gemeinschaft und der Schöpfung als Ganzes fortsetzt, dass er uns jeweils neue Möglichkeiten schenkt und dass er auch in dunklen Momenten präsent ist, um neue Zukunft zu eröffnen durch Tod und Sterben hindurch. Diese Zukunft eröffnet er, indem er Menschen zur Umkehr ruft, zur Liebe befähigt und zu Wandlungsprozessen ermutigt.

Die Besinnung auf die Hoffnung, die das Evangelium verheißt, wird daher auch im Zentrum der Vollversammlung 2024 in Sibiu stehen. Das Motto lautet: „Im Lichte Christi – berufen zur Hoffnung“.

Die ökumenische Herausforderung liegt mir besonders am Herzen. Die GEKE wollte von Anfang an eine Gemeinschaft sein, welche der ökumenischen Gemeinschaft aller Kirchen dient. Wie kann die kraftvolle Dynamik zwischen den Kirchen neue Möglichkeiten eröffnen für weitere konkrete Gemeinschaft? Wie können wir als GEKE gerade aufgrund unserer guten Erfahrungen mit der Leuenberger Konkordie offen und kreativ genug werden, um nach Wegen der Gemeinschaft zu suchen, die das Modell der Leuenberger Konkordie überschreiten, die es weiterentwickeln? Wie verhindern wir, dass uns unsere eigene Erfolgsgeschichte im Wege steht, um auch Neues zu wagen? Wo öffnen sich die Türen, durch welche die GEKE auf andere zugehen könnte?

Weiterentwickelte Konkordie

Die GEKE kann nicht mit allen konfessionellen Gemeinschaften oder Kirchen in Europa einen intensiven Dialog führen. Sie möchte mit allen sehr wohl gute Kontakte, aber bei intensiven theologischen Dialogen wird sie auch weiterhin auswählen. Gegenwärtig erkundet die GEKE besonders gespannt, was bei Dialogen mit Migrationskirchen möglich ist, was der Dialog mit der katholischen Kirche eröffnet und ebenso, welche weiteren Schritte mit der European Baptist Federation gegangen werden könnten.

Die fünf Herausforderungen für die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa stellen keine Zusatzaufgaben zu ihren Grundaufgaben dar. Sie markieren stattdessen die Richtungen, in denen sie ihre Grundvollzüge wahrnehmen wird. Darüber gilt es, in der GEKE ins Gespräch zu kommen. Die nächste Begegnung ist ein Treffen von europäischen Kirchenleitenden in Wien, Anfang Juli. Ob die Donau wieder in der Sonne glitzern wird? 

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