Atmosphären des Bösen

Wie Theologie und Bibel sich den Themen Bosheit und Unglück nähern
Tintoretto alias Jacopo Robusti 1518–1594. „Kain erschlägt Abel“, 1550/53.
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Tintoretto alias Jacopo Robusti 1518–1594. „Kain erschlägt Abel“, 1550/53.

Die Antworten der Theologie und der Bibel bei der Frage nach Ursprung und Sinn des Bösen in der Welt sind komplex. Bei den Propheten etwa sind Bosheit und Unglück am ehesten eine innerweltlich wirkende Sphäre um den, der Böses tut. Sie bestimmt sein Schicksal. Was dies mit einer schwarzen britischen Killerserie und dem „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ zu tun hat, erläutert der Theologe und Schriftsteller Klaas Huizing.

Das ZDF schickt eine Warnung vorweg: Die einzelnen Folgen der Krimiserie sind nur in der Zeit zwischen 22 und 6 Uhr oder mit einer Altersverifikation übe Mein ZDF abrufbar. Gemeint ist die Serie Killing Eve. Hauptfiguren sind eine veritable Serienkillerin und eine MI5-, später MI6-Agentin mit dem sinnfälligen Namen Eve, eine Profilerin, die in Mordfällen, die offenbar nichts miteinander zu tun haben, ein Muster entdeckt (Sandra Oh, berühmt seit Grey's Anatomy). Die Killerin Villanelle (Jodie Comer, deren Mimik ein Wunder an Eindruckskraft ist) wird gerne von ihren Jägern als Psychopathin abgestempelt, mit dem üblichen Kriterium: Poverty of Emotion. Villanelle (der Name bezeichnet eine Gedichtform im Frankreich des 16. Jahrhunderts) tritt auf als Inkarnation des radikal Bösen und ist zugleich unwiderstehlich: Sie stylt sich mit ihrem dreckigen Geld wie eine designsichere Coveranwärterin in einem Managerinnen-Magazin. Das Böse muss nicht hässlich sein. Die job description ist einfach, die Ausführungen schreien nach Sichtbarkeit. Sie will die Beste ihres Faches sein. Kampf um Anerkennung – auch hier.

Stark ist die Serie, weil Drehbuch und Regie es schaffen, statt Gut und Böse idealtypisch gegenüberzustellen, lustvoll mit vielen Schattierungen zu arbeiten. Mosaiksteinchen werden mit unaufdringlicher Geste eingestreut, um erahnen zu lassen, wie Villanelle zur Killerin wurde. Ihre Mutter, die sie ins Kinderheim abschob, hielt sie, so geht der Verteidigungs-Loop, als sie zur Rede gestellt wird, immer schon für böse. Große Schauspielkunst lässt erleben, wie Jägerin und Gejagte von den gegensätzlichen Atmosphären, die beide ausstrahlen, affektiv betroffen werden, wie Gesten triggern und eine toxische Beziehung entsteht, wie die wechselseitige Anziehung auch zu einer Vermischung der Atmosphären führt, wie auch die Jägerin (halbironisch) sich versichern muss, sie sei noch nicht vollkommen herzlos. Noch nicht!

Das können (leider nur) die Briten, eine solche Geschichte erzählen und für den Witz Raum lassen. Frage eines Kindes: Ist es schwer, böse zu sein? Antwort: Wenn du übst, nicht. Oder eine Lebenslehre aus dem Handbrevier des Bösen: wie effizient doch alles läuft, wenn man Menschen scheiße behandelt. Eine amour fou zwischen dem Guten und Bösen, die man so noch nicht gesehen hat. Die Dialoge und die Musik sind schlicht umwerfend. Und die Kamera lässt den Gesichtern alle Zeit, Blickduelle auszukosten. Die Staffeln erzeugen einen starken Sog und bieten viel Schauvergnügen. Es ergeht hiermit eine Triggerwarnung.

Mangelnde Sympathie

Was also ist das Böse? Erste Antwort: Gefühlsarmut, verstanden in der ganzen Bandbreite mangelnder Sympathie als Kraft des Mitfühlens, der Achtsamkeit, der Kontextsensibilität. Und dazu gehört zugleich eine gescheiterte Bildungsgeschichte der Gefühle, nämlich die Tugend der Selbstbeherrschung für kooperative Wesen auszubilden. Selbstbeherrschung benötigt die Killerin nur, um ihre Morde kaltblütig und hoch präzise auszuführen, ohne gefasst zu werden. Kooperativ agiert sie nur im Blick auf ihren Führungsoffizier, der im Umgang mit ihr nicht angstfrei scheint. Eine Maschine ist sie freilich nicht, weil schließlich doch noch das Begehren und sogar ein Hauch von Liebe geweckt werden. Es bleibt freilich der Skandal, dass just sie ein Luxusleben führt, den Genuss zelebriert und angstfrei lebt. Gilt also doch nicht, wie im Alltag gerne behauptet, eine Kausalität des Sittlichen, die nur tugendhaftes Leben honoriert? Diese Frage ist sehr alt, und die Antworten, die die Tradition anbietet, zeigen einen Zuwachs an Einsicht und Lebensklugheit.

Das popkulturelle Spiel mit guten und bösen Atmosphären will ich aufnehmen und mich zunächst der Frage nach dem sittlich Bösen (traditionell: malum morale) zuwenden – neben dem physischen und dem metaphysischen Übel eine der drei Grundformen des Bösen, die Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner gleichermaßen berühmten wie berüchtigten Theodizee abhandelt. Es war ein Alttestamentler, Klaus Koch, der in den biblischen Texten eine Kausalität des Sittlichen entdeckte und in seinen zwei Büchern über die Propheten die hochkomplizierte Frage nach dem Guten und dem Bösen auf die Formulierung „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ oder „schicksalwirkende Tatsphäre“ zuspitzte. Am Beispiel des Propheten Jeremia kann Klaus Koch, der als kleine Marotte statt ph grundsätzlich f schreibt, zeigen, dass das hebräische ra'a', Bosheit und zugleich Unglück, für die Propheten nicht irgendeine „abstrakte Größe“ meint, vielmehr „eine innerweltlich wirkende Sfäre um den jeweiligen Täter, die sein Schicksal konstituiert.“ Schicksal meint hier: Die Tat erzeugt einen Tun-Ergehen-Zusammenhang, der nicht zwingend sofort, aber mit schicksalhafter Konsequenz eintritt. Böses kann dank sphärischer Ansteckung kumulieren, dann entsteht eine unheilvolle Gesellschaft. Als movens des Bösen wird (häufig) Gier ausgemacht, die eine dichte „Unheilssfäre“ erzeugt und in letzter Konsequenz zum Untergang führt. Untaten sind sowohl auf der horizontalen als auch auf der vertikalen Achse auszumachen: „Wer anderen Gottwesen (älohim) nachfolgt, tut sich selbst Böses, schafft eine Untathülle um sich, die eines Tages ausreift und sich über den Täter entleert.“ Nur wenn die Gemeinschaftstreue, also das höchste ethische Ziel und Auslöser „für jeden Guttat-Heilzusammenhang“ in Kraft ist, stellt sich zugleich ein nicht korrumpiertes Gottesverhältnis ein. Falsch sind Propheten dann, wenn sie die Hörer und Hörerinnen in ihrem gemeinschaftswidrigen Verhalten (latent) bestätigen.

Die Kausalität im Sittlichen ist freilich nicht alles. Nach Koch muss die Fähigkeit, im Kampf mit bösen Atmosphären Gutes zu tun, stets neu ermöglicht werden. „Das geschieht durch Faktoren, die über die menschliche Eigentätigkeit hinausreichen. Hier waltet Kontingenz, die vom Grund der Geschichte selbst herrühren muss, also von Jahwä.“ Angewiesen ist der Mensch auf Wirkungsgrößen, mit denen JHWH indirekt die Fähigkeit zum Tun des Guten unterstützt. Als kontingent auftretende Wirkungsgrößen, die auf Unheilssphären reagieren, nennt Koch unter anderem den Geistwind (ruah), das wirkende Wort (dabar), den Zorn, er kann aber auch fremde Könige wie den Perserkönig Kyros der Große zu einem Lenker seiner Pläne machen, ist der es doch, der nach seinem Sieg über die Babylonier die in Babylon gefangenen Israeliten ziehen lässt.

Randvoll mit Hass

Wie selbstverständlich bedient Klaus Koch die sphärische Diktion. Der Alttestamentler Andreas Wagner hat die Stärken dieser Denkkultur, die Gefühle als mächtige Atmosphären deutet, präzise markiert. Im Alltag benutzen wir gerne die „Behältermetaphorik“, reden etwa davon, wir seien randvoll mit Hass gefüllt. Erwartet wird, dass wir im Körpergefäß die Gefühle durch die Vernunft kon­trollieren. Beheimatet ist die Behältermetaphorik in der griechischen Philosophie, im Alten Testament dagegen kaum auszumachen: „Gefühle erscheinen hier als etwas, das (von außen) über den Menschen kommt (Num 5,14: ‚und der Geist der Eifersucht kommt über ihn‘).“ (Andreas Wagner) Weil die Gefühle als Atmosphären von außen andrängen, sind sie schwieriger zu kontrollieren, als wenn sie als inferiore Gefühle in einem Behälter gedeutet werden. Deshalb ist es umso wichtiger, die Vernunft als beurteilende Instanz (nicht als Autorität über die Emotionen im Innern) aufzurufen. Die affektive Betroffenheit durch Gefühlsmächte, diese basale Passivität, muss beantwortet werden durch Selbstwirksamkeit, die eine Prüfung verlangt, ob diese Emotionen gemeinschaftsfähig sind, ob ich mich in der andrängenden Atmosphäre, oft verdichtet in einer Person, die zur spielerischen Identifizierung einlädt, einrichte und leben will. Nur so lässt sich von Verantwortung und – nach der Evaluation der Atmosphäre – von Umkehr oder Transformation sprechen, wenn also mir die leiblich gespürte Erfahrung eine neue Orientierung bietet und ich meine künftigen Handlungen in einen guten Tun-Ergehen-Zusammenhang einpflege.

Für mich ein Augenöffner. Diese von Klaus Koch beschriebene sphärische Gefühlskultur, der er im Alten Testament nachspürt, weist viele Schnittmengen mit der vom Kieler Philosophen Hermann Schmitz favorisierten und inzwischen viel diskutierten Gefühlstheorie auf. So findet eine avancierte Leibphänomenologie mit biblischem Denken zusammen. (Meines Wissens hat es keinen Austausch zwischen Klaus Koch und Hermann Schmitz gegeben.) In der Koch-Schule, namentlich bei einem seiner Meisterschüler, wird der Mensch prompt als „leibgebundenes Sozialwesen“ (Bernd Janowski) bestimmt.

Der Tun-Ergehen-Zusammenhang ist freilich nicht nur bei den Propheten im Einsatz, sondern auch bei den Weisheitslehrern. Als Pädagogen sind Weisheitslehrer deutlich optimistischer als die Propheten (sonst kann man den Job eines Pädagogen, einer Pädagogin nicht jeden Schulalltag durchhalten), sie zielen konsequenter auf das Gelingen einer individuellen Lebensführung im Kontext mit Anderen. Und die Weisheitslehrer verarbeiten die in jeder Hinsicht aufregenden lebensweltlichen Erfahrungen, dass nämlich Menschen, die sich oft sogar sichtbar böse verhalten, offenbar lustvoll leben und damit auf Andere anziehend wirken; und ebenso aufregend: Menschen, die tugendgemäß agieren, leiden zuweilen sichtbar. Auf diesen Skandal hat das Buch Hiob in weisheitlicher Manier versucht, eine Antwort zu finden. Die Kausalität des Sittlichen wird in einer entscheidenden Frage in die Schranke gewiesen, ohne aber ihre Bedeutung und damit die Bedeutung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs ganz preiszugeben. Die Kausalitätsverweigerungspoesie des Textes, eine Komödie von Format, deutet das Leiden nicht länger als Strafe Gottes, eine Deutung, die im sittlichen Kontext immer mitlief. Das physische Leiden (malum physicum, auch natürliche Übel wie etwa Erdbeben) wird jetzt freigegeben, um es wissenschaftlich – heute: medizinisch, pharmazeutisch, therapeutisch, geologisch, meteorologisch et cetera – zu bearbeiten. Damit ist der Skandal des Leidens des Gerechten nicht vollständig aus der Welt, aber diese Erfahrung und ihre Bearbeitung dürfte die Weisheitstheologie zu einem entscheidenden Twist bewogen haben, nämlich die Eschatologie und damit die Fragen nach Auferstehung und Unsterblichkeit, die für die frühe Weisheitstheologie kein Thema war, aufzunehmen.

Weisheitstheologie ist in einem pointierten Sinne Präventivwissenschaft, die dafür schult, Folgen von Handlungen besser in den Blick zu bringen, um Krisensituationen vorzubeugen, sprich: um Menschen krisenfester zu machen. Ich deute diesen Blickwechsel auch als Arbeit am malum metaphysicum, dass wir nämlich als endliche Wesen Folgen von Handlungen nicht komplett überblicken, aber in dieser Frage durchaus klüger werden können. Klaus Koch fragt: „Darf aber das Böse, wohlverstanden nicht allein das sittliche, sondern auch das natürliche Übel einzig menschlicher Verantwortung aufgebürdet werden? Läßt sich das Theodizee-Problem so einfach lösen?“ Darüber darf man trefflich streiten. Ein neuer Blickwinkel ist es allemal, sofern man den Menschen, wie hier vorgeschlagen, als cooperator Dei deutet, der freilich darauf angewiesen bleibt, dass sich Kreativität einstellt, plötzlich Spielräume eröffnet werden und vielleicht auch ‚maßgebende Menschen‘ (Karl Jaspers) erneut ein liebendes und friedliches Lebensgefühl einleiben, das das eigene Selbstbild hinterfragt und neue Orientierung bietet.

Ein weitsichtiger Umgang

Wie gesehen: Der weitsichtige Umgang mit (auch anziehend) bösen Atmosphären lässt sich gegenwartsfähig sogar in Killerserien einüben – im sicheren Abstand vor dem iPad. Als Empfehlung an eine Nachwuchskraft in diesem Gewerbe wird von einer Ausbilderin ausgegeben, die Gefühle wie Scham und Schuld nicht an sich heranzulassen, bitteschön. Poverty of emotion also. Die Schlussszene der vierten und letzten Staffel ist eindrucksvoll, spielt unter Wasser und inszeniert ein starkes Bild: Die angeschossene und sterbende Villanelle, die inzwischen auf der richtigen Seite arbeitet, und die Jägerin – beide sind inzwischen ein Paar – versuchen sich zu erreichen. Die von Michelangelo angedeutete Berührungsgeste zwischen Gott und Adam auf dem berühmten Fresko in der Sixtinischen Kapelle wird nachgespielt, aber hier kommt es nicht zu einer Berührung, sondern beide driften, die eine sterbend, voneinander weg. Und der Tun-Ergehen-Zusammenhang greift schließlich doch. Zumindest manchmal.

Coda: Zu den ingeniös verschwenderischen Büchern zählen die vom Alttestamentler Klaus Koch geschriebenen Klassiker zum Thema Prophet – leider veröffentlicht in knauserigen Urban-Taschenbüchern, enggedruckte Bleiwüsten und zugleich schwäbisch sparsam verleimt. Allenfalls eine behutsame einmalige Lektüre erlauben die Bücher, denn zieht man sie nach Jahren wieder aus dem Regal, bricht sofort deren Rückgrat und sie müssen nach der neuerlichen Lektüre mit Weckglas-Gummis zusammengehalten werden. Schätze in sehr irdischen Gefäßen. 

 

Literatur: 

Klaus Koch: Die Profeten I. Assyrische Zeit, 1978.

Klaus Koch: Die Profeten II. Babylonisch-persische Zeit, 1980.

Andreas Wagner: Mensch (AT), in WiBiLex,

https://bibelwissenschaft.de/Stichwort/26893.

Andreas Wagner: Emotionen, Gefühle und Sprache im Alten Testament. Drei Studien, 2006.

Bernd Janowski: Anthropologie des Alten Testaments.

Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, 2019.

Lektüretipp: 

Helmut Lethen: Der Sommer des Großinquisitors. Über die Faszination des Bösen, 2022.

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


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