Kaaba und Darshan

Über das Pilgerwesen in den großen nichtchristlichen Religion
Muslimische Pilgerin auf der Spitze des Bergs der Barmherzigkeit in der Ebene von Arafat bei Mekka am 27. Juni 2023.
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Muslimische Pilgerin auf der Spitze des Bergs der Barmherzigkeit in der Ebene von Arafat bei Mekka am 27. Juni 2023.

Nach dem Christentum sind der Islam, der Hinduismus und der Buddhismus die Religionen mit den meisten Anhängern auf der Welt. Die Marburger Religionswissenschaftlerin Adelheid Herrmann-Pfandt beschreibt in ihrem Text wichtige Grundgedanken und Handlungen in der Pilgerpraxis dieser Religionen.

Pilgern ist in. Spätestens seit Hape Kerkelings Buch Ich bin dann mal weg (2006) und Emilio Estevez’ Film Dein Weg mit Martin Sheen (2010), beide über den Jakobsweg in Spanien, wurde das Pilgern auch unter weniger frommen Menschen zu einer populären Form der Selbstfindung.

Es ist schwierig, Länder zu finden, in denen niemand pilgert. Die meisten Religionen teilen den Glauben, dass Gebete oder Rituale an Orten, die aus historischen oder landschaftlichen Gründen faszinieren, viel wirksamer sind, dass ein beeindruckender Ort mit Atmosphäre Menschen der Gottheit irgendwie näher bringt. In verschiedenen Religionen gehören Pilgerfahrten zu den religiösen Pflichten. Dabei ist nicht nur das Ziel der Pilgerreise wichtig, sondern oft auch die Art und Weise, wie man das Pilgerziel erreicht. Im traditionellen Tibet etwa gibt es den Brauch, den heiligen Weg mit dem Körper auszumessen. Man vollzieht eine Niederwerfung, streckt sich flach auf dem Boden aus, steht auf, geht eine Körperlänge nach vorne, vollzieht die nächste Niederwerfung und so weiter. Diese sehr zeitaufwendige Form des Pilgerns verstärkt die spirituelle durch die körperliche Übung.

Als sie den Jakobsweg ging, hörte die Französin Marie-Édith Laval von einem über tausendjährigen Pilgerweg auf der japanischen Insel Shikoku, der 88 Tempel miteinander verbindet. Spontan ließ sie sich auf den „japanischen Jakobsweg“ ein und schrieb ein spannendes Buch über ihre Erfahrungen.

Traditionelle Abfolge von Ritualen

Der Shikoku-Pilgerweg soll auf Kukai (774–835), den Begründer der japanisch-buddhistischen Shingon-Schule, zurückgehen und umfasst über 1 200 Kilometer. Je nachdem, ob man den ganzen Weg zu Fuß zurücklegt oder einige Strecken fährt, dauert er 30 bis 60 Tage, die durch atemberaubend schöne Landschaften, aber auch neben Autobahnen und durch Städte verlaufen. In den Tempeln ist eine traditionelle Abfolge von Ritualen zu beachten, von einer Verbeugung am Eingang über rituelle Waschungen, Glockenläuten, Entzünden von Kerzen und Räucherwerk, Rezitieren buddhistischer Texte bis zum Abholen des Pilgerstempels gegen eine Spende. Jedoch sind die Rituale freiwillig, da niemand von den Pilgern ein buddhistisches Glaubensbekenntnis erwartet. Nur respektvolles Verhalten hält man bei allen Besuchern für selbstverständlich. Die Pilger und Pilgerinnen, kenntlich an ihrer den Tod symbolisierenden weißen Kleidung und einem Strohhut mit Spitze, werden von den Inselbewohnern hoch verehrt und mit Gaben versorgt, die anzunehmen die Pilger verpflichtet sind.

Im Islam zählt die Pilgerfahrt (arabisch: Hadsch) nach Mekka zu den fünf „Säulen“ (religiösen Pflichten) des Islam. Jeder Muslim und jede Muslimin sollte einmal im Leben die „große Wallfahrt“ nach Mekka vollziehen, die nur vom achten bis zwölften Tag des Pilgermonats stattfindet. Männer tragen dazu zwei weiße Tücher, Frauen die übliche muslimische Bekleidung, aber ohne Gesichtsverschleierung. Das Schneiden von Haaren, Nägeln und Bart ist vor dem Eintritt in den Weihezustand erwünscht, danach bis zum Ende des Hadsch verboten, ebenso wie geschlechtliche Betätigung und Jagd.

Ismael, nicht Isaak

Das beherrschende Thema der Wallfahrt ist die aus Genesis 22 stammende Geschichte von der (Fast-)Opferung Isaaks. Denn „die von Vater und Sohn gezeigte absolute Hingabe an Gott ist Haupt- und Leitmotiv des Islam“, wie der deutsche Konvertit Murad Wilfried Hofmann feststellt. Im Islam ist der fast geopferte Sohn allerdings nicht Isaak, der Urvater der Juden, sondern sein älterer Halbbruder Ismael, der Sohn von Abrahams Nebenfrau Hagar und mythischer Urvater der Araber. Elemente von Ismaels biblischer Geschichte sind ebenfalls in Mekka präsent. Das Tal von Mekka wird mit der Stelle in der Wüste identifiziert, an der Abraham Hagar mit Ismael aussetzte, nachdem er sie verstoßen hatte. Auch weitere Orte, die die Gläubigen in den Tagen des Hadsch aufsuchen, bergen Erinnerungen an die Geschichte Abrahams, Hagars und Ismaels.

Ein anderes mit dem Hadsch eng verbundenes Motiv ist der Tod. Die Herstellung des Weihezustandes vor Beginn des Hadsch kann in Parallele zu Sterberitualen gesehen werden; wie der Tote hat auch der Pilger die alltägliche Welt verlassen, hat sich in Tücher gehüllt, wie es dem Toten geschieht, sich zuvor die nachwachsenden Teile des Körpers, Haare und Nägel, gekürzt und auf Fortpflanzung und Nahrungsbeschaffung als Ausdruck des Lebens verzichtet. So kann die Wallfahrt als Vorbereitung auf das endgültige Verlassen des alltäglichen Lebens im Tod verstanden werden. Spätestens am achten Tag des Pilgermonats, des letzten Monats im muslimischen Jahr, oft auch einige Tage vorher, kommen die Pilger in einem Zustand ritueller Reinheit und in Pilgerkleidung in dem Muslimen vorbehaltenen Bezirk in und um Mekka an. Ihr erster Weg führt sie zur großen Moschee, wo sie die siebenfache Umrundung der Kaaba entgegen dem Uhrzeigersinn absolvieren. Danach erfolgen Gebete bei Abrahams Fußabdruck nahe der Kaaba und das Trinken von Wasser am Brunnen Zamzam im Moscheehof. Dann laufen die Pilger siebenmal zwischen zwei Hügeln im nordöstlichen Moscheeteil hin und her, in Erinnerung an Hagar, die dort nach Wasser für ihren verdurstenden Sohn Ismael suchte. Die von ihr schließlich gefundene Quelle ist der Brunnen Zamzam. Noch am achten Tag laufen oder fahren die zwei bis drei Millionen Pilger etwa zwölf Kilometer nach Mina, wo sie übernachten. Am folgenden neunten Tag laufen oder fahren alle von Mina zur Ebene am Berg Arafat, wo sie in persönlicher Einkehr stehend vor Gott verweilen und so intensiv beten und Gottes Verzeihung erflehen wie sonst selten in ihrem Leben. Dies ist der spirituelle Höhepunkt des Hadsch. Eine Predigt, die Mohammed hier kurz vor seinem Tod gehalten haben soll, wird verlesen. Nach Sonnenuntergang begeben sich die Pilger zum Ort Musdalifa, wo sie übernachten und kleine Steinchen sammeln. Am Morgen des zehnten Tages geht es zurück nach Mina, wo alle symbolisch mit sieben Steinchen eine von drei Säulen steinigen, die den Satan symbolisieren. Denn Satan hat versucht, Abraham von seiner Bereitschaft abzubringen, Gott zu gehorchen und seinen Sohn Ismael zu opfern. Die Steinigung, so Hofmann, wird als „endgültige persönliche Zurückweisung des Bösen“ verstanden. Am zehnten Tag ist auch der Beginn des dreitägigen Opferfestes, an dem jeder Muslim in Erinnerung an den anstelle Ismaels geopferten Widder ein Tier schlachtet, sofern er nicht, wie die meisten Pilger, einen Schlachter damit beauftragt hat. In aller Welt schlachten Muslime an diesem Tag und geben mindestens ein Drittel des Fleisches Armen. An den letzten beiden Tagen des Hadsch finden weitere Steinigungen, diesmal aller drei Säulen, und Umkreisungen der Kaaba statt.

Die Pilgerkultur im Islam spiegelt eine auf Gottes Einzigkeit bezogene Religiosität. Es gibt den einen Wallfahrtsort, der weit über anderen Heiligtümern, zum Beispiel Gräbern von Sufi-Heiligen, steht, und die Pilgerfahrt fordert ein genormteres Verhalten als in jeder anderen Religion. Muslimische Frömmigkeit zieht einen erheblichen Anteil ihrer Kraft aus dem gleichzeitigen und gleichförmigen rituellen Tun ihrer Gläubigen, wie wir in kleinerem Maßstab auch in jedem Moscheegottesdienst sehen können.

Den vielleicht stärksten Gegensatz zum Islam finden wir im Pilgerwesen des Hinduismus. Auch wenn so gut wie immer grundsätzlich als hinduistisch erkennbar, ist die religiöse Praxis des Hinduismus von einer unüberbietbaren Vielfältigkeit, angefangen von der Tatsache, dass es kein zentrales, für alle Hindus gleich wichtiges Heiligtum gibt, sondern sich stattdessen tausende große, mittlere und kleine Tempel und Heiligtümer über das ganze Land ziehen, „miteinander verknüpft durch zahllose Pilgerwege“, wie Diana Eck, Expertin für die „heilige Geographie“ Indiens, es ausdrückt. Dabei ist trotz einer gewissen Unübersichtlichkeit ganz klar auch die Vorstellung vorhanden, dass all diese heiligen Orte zusammengehören, ja einen Organismus bilden.

In tiefer Trauer durch Indien

Manche Hindus glauben, dass der ganze indische Kulturraum mit dem Körper einer Gottheit identisch sei. Ein Mythos besagt, dass der Gott Shiva nach dem Tod seiner ersten Gattin Sati ihre Leiche nicht mehr hergibt, sondern sie in tiefer Trauer durch ganz Indien schleppt. Die anderen Götter wissen sich keinen Rat, als ein Stück nach dem anderen abzuschneiden, bis nichts mehr übrig ist, und bringen den trauernden Gott dadurch dazu, dass er langsam wieder ins normale Leben zurückkehrt. Die Körperteile der Göttin fallen überall auf den Boden, und die Menschen richten Heiligtümer für sie ein. So gibt es zum Beispiel in Gujarat einen Tempel, der dem Fuß der Göttin gewidmet ist, und in Assam einen, in dem die Yoni, ihre Vulva, in Form einer Felsspalte verehrt wird. Alle Körperteil-Tempel zusammen sind als Pilgerorte verbunden und lassen ganz Indien als Körper der Gottheit, als heiliges Land, erscheinen. Ähnliche Mythen führen andere über Indien verstreute Wallfahrtsort-Gruppen zu einem Ganzen zusammen.

Eine große Vielfalt zeigt sich auch in den religiösen Riten und Gaben, mit denen man Gott in den Pilgertempeln ehrt. Im Tempel der Göttin Kanyakumari an Indiens Südspitze etwa müssen Männer vor Betreten des Heiligtums das Obergewand ablegen. Im Haupttempel von Rameshwaram an der durchbrochenen Landbrücke zu Sri Lanka sollen Pilger aus jeder der vielen Teiche auf dem Tempelgelände einen Eimer Wasser schöpfen und sich damit übergießen. Im Kali-Tempel von Kolkata opfert man der Göttin eine Ziege, die vom Priester enthauptet wird, andernorts akzeptieren Götter nur vegetarische Speiseopfer, Blumen oder ein Stück rotgelben Stoffs. Im Kal-Bhairab-Tempel in Ujjain gießt der Priester hochprozentigen Alkohol in den geöffneten Mund des Götterbildes. Im Hanuman-Tempel von Chattarpur in Delhi bindet man für jede fromme Bitte ein Bändchen an einen Zaun. Hindus sind es gewohnt, dass jeder Ort und jede Gottheit ihre besonderen Erwartungen an die Pilger haben; notfalls geben Pilgerführer Auskunft, die in diversen indischen Sprachen an jeder Straßenecke zu kaufen sind.

Ein zentraler Zweck einer Wallfahrt ist der Darshan, der „Blicktausch“ mit dem als lebendig erlebten Götterbild. Da die „reale“ Gottheit bei der Weihe eines Götterbildes eingeladen wird, in ihm zu wohnen, ist ein Götterbild im Hinduismus niemals nur eine Holz- oder Steinfigur, sondern es ist von Gott durchdrungen. Ein Gebet vor Statue oder Bild einer Hindu-Gottheit ist daher kein Bilderkult, wie christliche Missionare einst annahmen, sondern eine Kontaktaufnahme mit der im Bild anwesenden transzendenten Gottheit selbst.

Es scheint unmöglich, den Blick vom Hindu-Pilgerwesen abzuwenden, ohne auf die Kumbh Mela („Krug-Fest“) einzugehen, das größte Pilgerfest des Hinduismus und der Welt. Für Hindus repräsentiert es die geballte Präsenz aller Pilgerstätten, und kein anderer Ort trägt eine vergleichbare erlösende Kraft in sich. Das Fest, zu dem sich viele Millionen Pilger, darunter viele Sadhus und Sadhvis (Asketen und Asketinnen) alle drei Jahre an einem von vier Kultorten versammeln, bezieht sich auf die mythische „Quirlung des Milchozeans“, durch die die Götter und Dämonen neben weiteren Kostbarkeiten den Lebensnektar Amrita aus einem riesigen Milchmeer herausfilterten. Und tatsächlich produzierte das Milchmeer einen Krug (kumbha) voll Amrita. Als Götter und Dämonen sich um den Krug stritten, fielen vier Tropfen der kostbaren Flüssigkeit auf die vier Orte Prayagraj (= Allahabad), Haridwar, Ujjain und Nashik, allesamt im heutigen Indien, und machten sie zu Kultorten. Jeder der vier trägt nun alle zwölf Jahre das Fest aus, wobei der Zeitraum durch die jeweilige Konstellation von Sonne, Mond und Jupiter bestimmt wird.

Kleine und große Begleitrituale

Die Kumbh Mela umfasst mehrere Tage, an denen Pilger und Pilgerinnen zum Fluss strömen, um sich durch ein Bad von Sünden zu reinigen. Man glaubt, dass die Reinigung während des Festes um ein Vielfaches wirkungsvoller sei als durch alltägliche Bäder im heiligen Fluss. An dem auf Neumond fallenden Hauptbadetag allein sind schon über 40 Millionen Badende gezählt worden. Heilige Männer und Frauen ziehen an diesem Tag in der riesigen Shahi-Prozession zum Bad im Fluss. Viele von ihnen sitzen dabei auf Reitpferden, Elefanten und Pferdewagen, die ihnen von den Gläubigen zur Verfügung gestellt werden und deren reicher Schmuck mit der Armut der Sadhus und Sadhvis selbst kontrastiert. Während viele der Sadhus nackt baden, behalten die Sadhvis stets ihre safranfarbenen Saris an. Viele kleine und große Begleitrituale erhöhen die Farbigkeit dieses Ausnahmefestes.

Heilige Orte, auch Pilgerorte, haben keine physisch andere Qualität als sonstige Plätze der Erde. Die, wie ein Buddhist sagen würde, „Einspitzigkeit“ des Geistes, die eine Wallfahrt mit sich bringt, ist eine durch die Ausrichtung auf einen bestimmten Ort konkretisierte Form der Konzentration hin auf ein spirituelles Ziel, auf die Begegnung mit Gott oder einer nichtpersonalen heiligen Realität. Die Freude des Pilgers am Weg und am Ziel ist nicht zuletzt auch das Glück, bei sich selbst, bei der Gottheit im eigenen Herzen, angekommen zu sein. 

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Foto: Petra Schiefer

Adelheid Herrmann-Pfandt

Dr. Adelheid Herrmann-Pfandt ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Marburg.


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