Über Grenzen hinweg

Klartext
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Exklusive Nähe

10. Sonntag nach Trinitatis (Israelsonntag), 13. August

Denn wo ist so ein herrliches Volk, dem Götter so nahe sind wie uns der Herr, unser Gott, so­oft wir ihn anrufen? (5. Mose 4,7)

Den Tag, an dem „es“ anfing, legen alle Liebenden fest: Ab dem oder jenem Datum waren wir zusammen. Auch bei Gott und seinem Volk ist das so: Es soll den Tag nicht vergessen, an dem sie vor dem Herrn, ihrem Gott, standen und wo das war – am Berg Horeb (5. Mose, 4,10). Und Israeliten sollen die Geschichte ihres Zusammenkommens mit Gott unbedingt auch ihren Kindern erzählen. So wie Eltern vielleicht ihren Kindern schildern, wie sie sich einst kennenlernten. Und beim Erzählen leuchten auf einmal wieder ihre Augen auf. Und der Puls geht dann auch nach Jahren noch ein bisschen schneller.

Eine gute Geschichte vom Anfang einer Beziehung ist die Ressource für die gesamte Beziehung, sagt man in der Paartherapie. Und das gilt auch für die Beziehung Israels zu seinem Gott. Der Tag, an dem es mit ihnen angefangen hat, ist von unvergesslicher Dramatik: ein Berg in Flammen, Wolken, Finsternis und die Stimme Gottes.

Ginge es nur um die Verkündigung der Gebote an das Volk, hätte eine weniger dramatische Inszenierung gereicht. Und in der Bibel gibt es ja auch eine etwas nüchternere Variante, in der Mose beschriftete Steine den Berg hinuntertragen muss. Aber Liebe ist mehr als eine schriftlich festgehaltene Abmachung. Auch der Trauschein oder Ehevertrag, selbst ein Scheidungsurteil vermag nicht zu dokumentieren, was zwei Menschen einmal zusammen- oder dann wieder auseinandergeführt hat. Diese Dokumente beschreiben weder das Feuer des Anfangs noch die Glut unter der Asche. Bei der Liebe Gottes zu seinem Volk sind von Anfang an große Emotionen im Spiel, vor allem Leidenschaft und Eifersucht. So könnte man auch das Verbot interpretieren, sich ein Bildnis zu machen und die Aufmerksamkeit auf etwas oder jemand anderes zu richten als auf Gott und dieses gar mit Leidenschaft zu verehren. Es soll keinen anderen Gott für euch geben. Und ihr sollt auch keinen anderen Göttern hinterherschauen. Denn unsere Beziehung, unsere Nähe zum Gott Israels ist exklusiv.

 

Ohne Rechnung

11. Sonntag nach Trinitatis, 20. August

Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig. (Lukas 7,47)

Einer soll da sein, der Menschen dazu verhilft, ein anderer Mensch zu werden. Zu ihm will die Frau, die als „Sünderin“ gilt. Sie kann nur seine Füße berühren. Aber auch dort wird sie alles einsetzen, was sie hat, Hände, Haar und Mund. Sie wird noch einmal die Routine der Hingabe spüren. Und auch, wie wenig das mit echter Hingabe zu tun hat. Ihr kommen die Tränen, weil sie an die vielen Männer denken muss, die auf der Suche nach Liebe zu ihr kamen, so arm, dass sie Geld dafür zahlten.

Jesus spürt die Tränen der Frau, ihre Hände, ihr Haar und ihren Mund, ihre ganze verzweifelte Hingabe. Diese Frau liebt so, wie Gott es verlangt, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all ihrer Kraft (5. Mose 6,5). Sie tut das wahrscheinlich, weil sie weiß, wie wenig Liebe es in der Welt gibt. Aber immer sind welche da, die das nicht verstehen. Sie sitzen mit an diesem Tisch. Und besonders den Buchhaltern unter den Gästen, im wirklichen wie im übertragenen Sinn, erzählt Jesus eine Geschichte: „Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er‘s beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben?“ (Lukas 7,41–42).

Kann man Liebe kaufen? Das ist die Frage an diesem Tisch. Geht das so einfach: viele Schulden und viel Vergebung, viel Liebe und weniger Schulden, wenig Vergebung und weniger Liebe? Was für eine Gleichung steckt in diesem Gleichnis? Simon gibt die richtige Antwort. Und im gleichen Moment spürt er, wie alle Berechnungen an ein Ende kommen, wenn es um Liebe geht und um Vergebung. Vorsichtig sagt Simon mehr zu sich selbst als zu den anderen: „Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat“ (Lukas 7,43).

 

Gleiche Rechte

12. Sonntag nach Trinitatis, 27. August

Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen. (Jesaja 29,20–21)

Liebe hat unterschiedliche Gestalten. Es wäre zu klein von der Liebe gedacht, wenn sie nur etwas wäre, das sich zwischen zwei Menschen, in einer Familie und im Freundeskreis ereignet. Aber die prophetische Tradition tut nichts anderes, als den Begriff und den Wirkungsbereich der Liebe fortwährend auszuweiten, vor allem auf die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, in denen Menschen leben.

„Sozialkritik“ ist das exegetische Fachwort dafür. Man kann die prophetische Kritik an den herrschenden Verhältnissen aber auch einfach als unmissverständliche Aufforderung zur Nächstenliebe für alle lesen. Dass die Elenden Freude haben und die Ärmsten unter den Menschen fröhlich werden, wenn man sie und ihr Schicksal mit Mitgefühl und Liebe ansieht. Dabei sind wir schnell bei der Hand mit „ja aber“, „selber Schuld“ und „geht-mich-nichts-an“ und verstoßen so gegen das Gebot der Nächstenliebe.

Jesaja erwähnt auch, wie man im Laufe der Geschichte das Gebot der Nächstenliebe immer wieder verfehlt hat. An Tyrannen und Spöttern, am Tun derer, die das Recht des Einzelnen brechen, ist das zu beobachten. Willkür und Beugung des Rechts zeichnen diese Herrschaftssysteme aus. Und es ist nicht schwer, sie in der jüngeren Vergangenheit unseres Volkes und in der Gegenwart wiederzuerkennen.Man kann die Nächstenliebe auch in der Gestalt der Menschenrechte finden, in der weniger emotional und mehr rational begründeten Auffassung, dass ausnahmslos allen Menschen die gleiche Würde und die gleichen Rechte zustehen. Und alle „Ja aber“ und „Selber Schuld“ werden als das entlarvt, was sie sind: die schiere Unfähigkeit, dem anderen Menschen dieselben Rechte zuzugestehen, die man auch für sich in Anspruch nimmt. Liebe hat leidenschaftliche Seiten und – auch sehr rationale. Und Recht und Gerechtigkeit sind zwei davon.
 

Unsere Erfahrung

13. Sonntag nach Trinitatis, 3. September

Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist Liebe. Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. (1. Johannes 4,8–9)

Leider hat die sprachliche Gestaltung vieler johanneisch geprägter Texte eine gewisse Tendenz zur Verschleierung des konkreten Hintergrundes der verwendeten großen Worte. „Gott ist Liebe“ bindet in beinahe apodiktischer Weise zwei der größten Worte überhaupt eng aneinander. Fleißig machen sich Auslegerinnen und Ausleger deswegen daran, den Umkehrschluss abzuwehren, wonach schon oder nur teilweise die Liebe Gott sei.

Aber ob nun die Liebe Gott ist oder Gott die Liebe: Wer jemals geglaubt hat, dies sei eine leichte, angenehme oder gar romantische Vorstellung von Gott oder der Liebe oder beiden, ist bereits der johanneischen Tendenz zur Verschleierung oder sogar Verschwurbelung erlegen. Und hat weder die Liebe mit allen ihren Zumutungen erlebt, noch eine Ahnung davon, was Gott auf sich genommen hat, mit der Entscheidung, Liebe zu sein.

Aufgezählt hat das alles Paulus in seinem Hohelied der Liebe (1. Korinther 13,1–13). Was er da nennt, lässt sich leicht auf das eigene Leben übertragen. Und auf alles, was die Liebe darin glauben, hoffen, dulden und ertragen muss. Es ist wirklich misslich, dass im Johannesbrief nicht Klartext gesprochen wird. Denn Gott sandte Jesus, seinen Sohn, nicht in die Welt, damit dieser anschließend wohlbehalten – wie nach einem schönen, kleinen Ausflug – wieder zu ihm zurückkehrt. Sein Ausflug in die Welt ließ Jesus vielmehr alle Erfahrungen machen, die auch wir in unserer Welt machen. Jesus wurde nicht verstanden. Man lehnte ihn ab.

Er wurde verfolgt und verurteilt, sogar noch als Gefangener verspottet und gefoltert. Und er starb elendiglich und allein. In und mit ihm glaubt, hofft, duldet und erträgt Gott das alles. Darin besteht seine Liebe.

Diese geht aller anderen Liebe voran. Diese muss sich daran orientieren, um sich der Liebe, mit der Gott liebt, wenigstens anzunähern. Sich untereinander lieben – niemand hat gesagt, dass das selbstverständlich sei, leicht oder gar angenehm. Aber es ist unsere Aufgabe.

 

Ohne Scheu

14. Sonntag nach Trinitatis, 10. September

Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. (Lukas 17,15–16)

Lukas, der listigste unter den biblischen Erzählern, bevorzugt mündige Leserinnen und Leser, die ihre eigenen Schlüsse ziehen. Er arbeitet mit Andeutungen, oft nur mit Stichworten, die sich durch seinen ganzen sorgfältig erkundeten Bericht ziehen. „Samariter“ ist so ein Stichwort. Anders als bei Markus, wo die Jünger ausdrücklich davor gewarnt werden, in ein Dorf der Samariter zu gehen, hat Jesus bei Lukas keine Hemmungen, eine Herberge in einem samaritanischen Dorf zu suchen.

Später ist ein Samariter die Hauptfigur einer der bekanntesten Geschichten der Bibel. Denn er weiß, wer sein Nächster ist und wie man einem anderen zum Nächsten wird.

Und es ist auch ein Samariter, der als einer von zehn Männern versteht, was Jesus für ihn tat und was er ihm zu danken hat. Diese Geschichte spielt sich im Grenzgebiet von Galiläa und Samarien ab.

Und grenzüberschreitend ist auch Jesus unterwegs, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Gottes Liebe zu Israel ist und bleibt eine exklusive Liebe, so wie es in den Geschichten vom Anfang dieser besonderen Beziehung erzählt wird. Aber diese Liebe überschreitet trotzdem alle Grenzen: Jesus selbst bewegt sich entlang der Grenze. Er hat keine Scheu, den Samariter als das zu bezeichnen, was er ist: ein Fremder. Und keine Schwierigkeiten, den Glauben dieses Fremden als vorbildlich zu würdigen. Für die Leserinnen und Leser des lukanischen Berichts liegt es nahe, sich mit dem Samariter, überhaupt mit den Fremden zu identifizieren, die nicht von Geburt an zu Gottes Volk gehören. Jesus gibt ihnen – also auch uns – die Hoffnung, dass der Glaube alle Grenzen überwindet. 

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