Von Angesicht zu Angesicht

Zum Tod von Landesbischof i.R. Horst Hirschler – ein Nachruf
Horst Hirschler (1933-1923)
Foto: Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers
Horst Hirschler (1933-2023)

Am Dienstag der vergangenen Woche, am 8. August um kurz vor Mitternacht, verstarb Altbischof Horst Hirschler – wenige Wochen vor seinem 90. Geburtstag. Ein Nachruf von Stephan Schaede, Vizepräsident im Kirchenamt der EKD und Amtsbereichsleiter der VELKD, der viele Jahre in Loccum ein Nachbar des Verstorbenen gewesen ist.

Er liebte die Anfänge. Das Aufhören war deutlich weniger seine Stärke. Immer dann, wenn er etwas anfangen konnte, mit der Kirche, den anderen, dem Kloster Loccum aber auch mit sich selbst, dann blühte Horst Hirschler auf und lief zu seiner ganz eigenen Form auf. Das Aufhören aber mochte er gar nicht. Sichtlich zu greifen, als er aus Einsicht sein geliebtes Abtsamt zu Loccum aufgeben musste.

Einer der einschneidensten biographischen Neuanfänge war mit einem jähen Aufhören verknüpft: Als Horst Hirschler neun Jahre alt war, starb sein Vater, von dem er berichtete, dass der das Boschwerk in Göttingen aufgebaut habe und sich von ihm am Sterbebett Römer 8,38f. vorlesen ließ. Dieses Erlebnis war in zweifacher Hinsicht berufsbiographisch folgenreich: Erstens absolvierte er, früh zum Halbwaisen geworden, auf den Spuren des Vaters eine Ausbildung zum Starkstromelektriker. Unterhalb der Kategorie Starkstrom machte es Horst Hirschler aber sowieso in jeder Hinsicht ungern, was ihm zeitlebens nicht nur im Handwerk und vielen anderen lebenspraktischen Kontexten Respekt und kurze Verständigungswege eintrug. Zweitens aber holte er auf der Abendschule sein Abitur nach und studierte evangelische Theologie.

Römer 8,38f. sollte zu seinem Leitwort werden, war sein Trauspruch und wird über seiner Trauerfeier am kommenden Sonnabend in Loccum stehen. „Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ Darauf vertraute Horst Hirschler. Das glaubte er. Und Glauben entstand für ihn überall da, wo das Rettende unbeirrbar erscheint. Die beeindruckende Phalanx von gefährdenden Lebensablenkungen und Abgründen, die die menschliche Existenz bereithält, die Paulus da aufzählt, ist nicht in der Lage, von der Liebe Gottes zu trennen. Dass das trägt, ihn trug, das ein Leben lang auszukundschaften und kundzugeben, war für Horst Hirschler eine entscheidende Triebkraft.

Neue Pfade der Ausbildung

Gott war für ihn ein Meister der Anfänge. Wo Menschen keinen Anfang mehr setzen, bekommt Gott „das hin“, wie Horst Hirschler gerne sagte, Neuanfänge zu schaffen. Dass Menschen und die menschliche Geschichte gerade kein Ort und Raum sind, in dem wir oder andere etwas hinbekommen, versuchte er nicht weniger stark einzuprägen.

Als Leiter des Predigerseminars Loccum betrat er mit dem theologischen Nachwuchs neue Pfade der Ausbildung gegen so manchen kirchenleitenden Widerstand, dies ein echter Neuanfang. Schon als Pfarrer hatte Horst Hirschler in der traditionsbewussten Stadt Lüneburg munter experimentiert und wurde bereits dort als „roter Horst“ gehandelt. Einen synodalen Neuanfang eröffnete die als progressiv geltende Synodalgruppe „Gruppe Offene Kirche“. Noch 1988, bei der Wahl zum Landesbischof, schien er noch zu den eher weniger konservativen kirchenleitenden Persönlichkeiten zu hören. Ab dann und erst recht während seiner Zeit als Landesbischof blieb von diesem linksorientierten politischen Richtungssinn erstaunlich wenig übrig.

Berufsbiographien zerstört

Im harten Kontrast dazu griff Horst Hirschler, der doch öffentlich für die von Martin Luther so hoch gehaltene evangelische Freiheit der Gewissen eintrat, der strikt zu folgen sei, in Sachen der sogenannten Lebensführungsfragen in die Privatsphäre der Pfarrerschaft massiv ein. Es bleibt eines der Rätsel des machtvollen Geistlichen Horst Hirschler, wieso er Homosexuellen, insbesondere den in die AIDS-Seelsorge eingebundenen Geistlichen unter ihnen, keine Chance gab. Brutale Berufsverbote meinte er verantworten zu müssen. Entsprechende Unterstützung war nur im Verborgenen jenseits der Kirchenmauern der Hannoverschen Landeskirche möglich. Das war rücksichtslos, hat Berufsbiographien zerstört und wurde erst von seiner Nachfolgerin im Amt, deren Wahl zur Bischöfin er gerne verhindert hätte, geändert.

Dies zählt zu den bitteren Kehrseiten seines in anderen Arbeitszusammenhängen überaus produktiven Beharrungsvermögens, mit dem er sich für Kirche und Theologie große Verdienste erworben hat. Immer forderte er in Warnung vor halben Sachen, Dinge richtig anzupacken: „Lasst uns das vernünftig machen“, war eine stehende Redewendung.

Das Kloster Loccum, an dem schon zu Predigerseminarszeiten sein Herz hing, wurde für Horst Hirschler als Abt dann zum Ort, um möglichst viele Dinge mal so richtig vernünftig zu machen. Ohne ihn wäre die Renovierung der Klosterkirche, die die von ihm erfolgreich überredeten Geldgeber stöhnen ließ, nicht zu dem geworden, was sie nun ist. Täglich war er auf dem Baugerüst zu sehen! Ohne ihn wäre das 850-jährige Jubiläum des Klosters Loccum im Jahre 2013 nicht zu einem Meilenstein in der Veranstaltungsgeschichte der Hannoverschen Landeskirche geworden: Hatte noch das 750-jährige Klosterjubiläum 1913 innerhalb einer Woche spielend Raum gefunden, so währte das 850-jährige Jubiläum ein geschlagenes Jahr mit einem opulenten hochkarätigen Kultur- und Veranstaltungsprogramm. Bei der damit verknüpften Mammutaufgabe der Finanzierung half ihm seine finanzpolitische Überredungsakrobatik, vor allem aber seine in diverse gesellschaftliche Kontexte reichenden höchstpersönlichen Kontakte, die er unter anderem durch seine legendär inspirierenden Pilgertouren vertieft hatte.

Gegen „handwerkliche Schlamperei“

In dieser Zeit hat er – typisch für seinen Erfindungsreichtum – das nördliche Seitenschiff der Klosterkirche zur Auferstehungskapelle erklärt, dem steinalten Künstler Johannes Schreiter ein entsprechendes Fenster abgetrotzt und ein im Kloster in Stein gemeißeltes Kreuz als silbergoldenes Emblem designen lassen und zum Loccumer „Zisterzienserkreuz“ ernannt. Dass das Zisterzienserkreuz eigentlich ein rotes Flammenkreuz ist, interessierte ihn da wenig. Ebenso ist es sein Verdienst, dass an der A2 Richtung Dortmund ein Hinweisschild auf das Kloster Loccum verweist. Beharrlich war er auch da. Und er hatte keine Scheu, unmittelbar vor dem offiziellen Eröffnungstermin eine Erstversion des Schildes als „handwerkliche Schlamperei“ abzulehnen, weil das Kreuz auf dem Dachreiter der Kirche nicht zur Geltung kam. Autobahn-AG und Straßenmeisterei mussten nacharbeiten …

Freilich musste Horst Hirschler auch erleben, dass sein gestaltungspolitischer Einfluss empfindliche Grenzen haben kann. Entsprechend empfand er es als Affront, dass ein Jahr nach dem Jubiläum zwei Windräder mit einer Nabenhöhe von 138 Metern den Klosterdachreiter um ein Vielfaches übertrumpften. Die Verantwortung über die Geschicke des Predigerseminars wurde dem Konvent des Klosters gegen seinen Widerstand von der Landeskirche entzogen, und der Konvent des Klosters nahm endlich weibliche Mitglieder in seine Reihen auf, was Horst Hirschler mit Verweis auf die Gefährdung der ökumenischen Gemeinschaft mit den römisch-katholischen Zisterzienserklöstern abgelehnt hatte.

Dabei hatte Horst Hirschler in früherer Zeit viel Neues geprägt, zum Beispiel hat er die bis dahin lose miteinander verbundenen evangelisch gewordenen Zisterzienserstandorte zur Gemeinschaft der Zisterziensererben verbunden, was ihm und den fortan sogenannten Zisterziensererben eine regelmäßige Einladung nach Rom einbrachte.

Meister der starken Anekdote

An ökumenischen Neuanfängen war er auch 1999 in Gestalt seiner leidenschaftlichen Unterstützung für die Unterzeichnung einer gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre beteiligt. Als Leitender Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) hat er sich nicht weniger um eine plastische Fassung lutherischer Bekenntnisüberzeugungen verdient gemacht. Seine knappen Lehrauslassungen, oftmals in kurzen Broschüren abgedruckt, sind legendär.

Überhaupt war Hirschler ein Meister der starken Anekdote. Sein großes Talent lag darin, aus dem Stegreif heraus ein geistliches Machtwort in den Raum zu setzen, was ihm deutlich öfter gelang als anderen, die sich in dieser Kunst versuchten. Auf dieser Linie liebte Horst Hirschler zu predigen, mit starken Anfängen und bisweilen nicht so gerne aufhörend. Aber die Leute hingen ihm auch nach geschlagenen 35 Minuten noch an den Lippen.

Die Titel seiner Predigtlehren waren existenzielles Programm: „Konkret predigen“, der Titel der ersten Predigtlehre war der lutherischen Bodenständigkeit geschuldet – „Biblisch predigen“, der Titel der zweiten Predigtlehre, ganz einfach deshalb, weil die Bibel für Horst Hirschler ein Buch war, das tausend- und abertausendfach Menschen den Glauben zugespielt hat, – „Christus predigen“, schließlich der Titel der dritten Predigtlehre, weil Jesus von Nazareth selbst den harten Weg vom verborgenen Gott zum Gott, von dessen Liebe uns selbst der Tod nicht zu trennen vermag, durchgemacht hat.

Staunen über Gott

Mit seiner Stimme, die diesen Dreiklang zu origineller Resonanz gebracht hat, wird Horst Hirschler fehlen. Unverwechselbar war sein tiefer Bass, in dem er die Redeanfänge intonierte, um sich in tenorartige Höhen hinaufzuschwingen insbesondere mit Worten mit viel „e“ wie eine seiner Lieblingsvokabeln: „verstehen“. Und dann folgten diese Pausen, Pausen, die Zeit ließen zu staunen. Denn Horst Hirschler staunte gerne über die Welt, über Gott. Und er freute sich wie ein Kind, wenn es ihm gelang, andere für dieses Staunen zu gewinnen, sie anzustecken. Vor allem im Staunen über neue Entdeckungen.

In seiner späten Lebensphase war der Radius für Neuentdeckungen stark eingeschränkt. Aber auch da fiel ihm das Aufhören-müssen schwer. Aus seiner Angst vor dem Tod und der Abgründigkeit des Lebens hat er auch da keinen Hehl gemacht. Gerade deshalb aber eben Römer 8,38f. Wenn dieses Wort über dem Leben und Sterben von Horst Hirschler wahr wird, dann wird Gott von Angesicht zu Angesicht Horst Hirschler staunen lassen – und kein Wunder wäre, wenn Horst Hirschler nicht auch Gott selbst mit himmlischen Neuentdeckungen und Neuanfängen überraschen wird.

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Stephan Schaede

Stephan Schaede, (*1963) ist  Leiter des Amtsbereichs der VELKD
und Vizepräsident im Kirchenamt der EKD in Hannover. Zuvor war der promovierte Systematische Theologe von 2021 an Regionalbischof im Sprengel Lüneburg und von 2010 bis 2020 Direktor der Evangelischen Akademie in Loccum.

 


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