Wege aus der Wüste

Sontagspredigt

Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Dorothee Löhr. Sie ist Pfarrerin in Mannheim.

Fesselndes Bild

15. Sonntag nach Trinitatis, 17. September

Gott sprach zu Abram …: Sieh gen Himmel und zähle die Sterne; kannst du sie zählen? Und sprach zu ihm: So zahlreich sollen deine Nachkommen sein! Abram glaubte dem Herrn, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit. Und er sprach zu ihm: Ich bin der Herr, der dich aus Ur ... geführt hat, auf dass ich dir das Land zu besitzen gebe. (1. Mose 15,5–7)

Wer und was kommt nach mir? Abrahams Frage ist aktuell, immer noch berechtigt. Der Stammvater lebt uns mit seiner Geduld den Glauben an den unsichtbaren Gott vor. Zwar fallen ihm immer wieder interessante Auswege ein: Selbsternannte Erben sollen die Zukunft sichern, Ismael, Sohn der fruchtbaren Nebenfrau Hagar, und Neffe Lot und der Knecht Elieser werden als Zukunftssicherung eingebracht. Zwar bemüht Abraham sich um Nachkommen, Zukunft und Erben, aber als Gott seine Segenszusage und Verheißung unterm Sternenhimmel erneuert, glaubt Abraham erneut – gegen den Augenschein in der Gegenwart.

Der unendliche gestirnte Himmel über uns dient Gott als überwältigendes Gleichnis: Du wirst die Nachkommen des Glaubens nicht zählen können. Und das ist auch für uns eine Sternstunde des Glaubens.

Denn der Blick auf den Himmel macht demütig. Ja, es gibt einen Gott, und ich bin es nicht. Auch die Zukunft liegt in seiner Macht, nicht in meiner. Glauben lohnt sich. Denn er schützt und macht vertrauensvoll. Das ist die fremdartige Gerechtigkeit des Glaubens. Und wer rechnet damit?

 

Wie ein Osterlied

16. Sonntag nach Trinitatis, 24. September

Das Los ist mir gefallen auf liebliches Land; mir ist ein schönes Erbteil geworden. (Psalm 16,6)

Die Formulierung des Beters und die Überschrift des Psalms spielen darauf an, dass das gelobte Land durch Los auf die Stämme Israels aufgeteilt wurde. „Das liebliche Land“ ist aber auch im übertragenen Sinne gemeint, als das gemeinsame Gestaltungsfeld, die Aufgaben, Herausforderungen, Menschen, die mit uns auf Erden das Leben teilen und uns anvertraut werden. Manchmal prägt uns und ist uns wichtig nicht das, was man sich selbst ausgesucht hat. Auch sein Erbe sucht man sich nicht selbst aus. Und doch gilt: Was du ererbt von deinen Eltern, gestalte es, um es zu besitzen. Erbende Angehörige achten aufeinander, wenn es gut geht, und beraten einander in Zeiten der Trauer. Sie teilen das Vertrauen, dass Gott unser Berater und Tröster ist, bei Tag und bei Nacht, im Leben und im Sterben.

Der 16. Psalm spielt auch geheimnisvoll auf Ostern an, auf die Hoffnung, die unsere Sicht, unseren Horizont erweitert: „Auch mein Leib wird sicher liegen, denn du wirst mich nicht dem Tode überlassen und nicht zugeben, dass dein heiliger die Grube sehe!“

Der reformierte Genfer Palter sagt es so: „Ich flieh zu dir, mein Gott bewahre mich. Du bist mein Herr, mein Heil, du bist mein Leben. Die Mächtigen der Welt verachte ich. In ihren Dienst will ich mich nicht begeben. Wer ihnen folgt, vergrößert seine Leiden, nichts in der Welt soll mich von dir Gott scheiden. Mein Glück entspringt aus deiner Hand allein. Du sättigst mich auf grünen Lebensauen. Du tust mir wohl, hüllst mich in Segen ein. Ein gutes Land lässt du mein Auge schauen. Auf ewig willst du meinen Hunger stillen, den Lebensbecher bis zum Rand mir füllen. Doch mahnst du mein Gewissen in der Nacht, dir stets zu danken, täglich dich zu loben. Du hast mein Leben, Herr, so reich gemacht, durch deine Gnade mich so hoch erhoben. Du bist mir nah, du willst mich ewig fassen und selbst dem Tode mich nicht überlassen. Ich freue mich an deiner Wundertat. Von ganzem Herzen will ich dich erheben. Du leitest mich, führst mich nach deinem Rat, gehst mir voran, zeigst mir den Weg zum Leben. Da werde ich mit Wonne und Entzücken in ewger Freude dich, mein Gott erblicken.“

 

Dankbare Erben

Erntedankfest, 1. Oktober

Jesus sprach zu ihnen: Hütet euch vor der Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat. (Lukas 12,15)

Was Jesus hier sagt, klingt schroff: Wer nicht am Erbbesitz hängt und süchtig nach Haben ist, der ist vielleicht freier. Aber es gibt doch wirklich ungerechte Erbgänge, die Sache ist doch komplizierter. Gerne hätte ich von Jesus nicht nur eine Schelte und Warnung vor Habsucht gehört, sondern auch einen gerechten Rat. Wenn er schon das Thema Erbstreitereien aufgreift, möchte ich eine bessere Antwort haben. Aber offensichtlich traut Jesus uns zu, unsere Erbstreitigkeiten selbst zu schlichten. Wie ein guter Lehrer will er uns frei und handlungsfähig machen, damit wir selbst Antworten finden.

Die christliche Gesellschaft hat sich in der Tat in Bezug auf Erbfragen schon viele Lösungen ausgedacht.

Die nicht Erbberechtigten der ostfriesischen Höfe, die außer Torfstechen keine Überlebenschance hatten, oder die Pfälzer ohne Erbland wanderten aus und fragten nicht lange, ob das gerecht war. Die Auswanderer machten das Beste aus ihrer Situation, sie bestanden nicht auf Teilung des Landes oder Auszahlung des Erbes, sondern gingen weg und fingen neu an. Sie begannen in Amerika ein neues Leben und versöhnten sich oft mit ihrer Vergangenheit. Vielleicht verstanden diese Auswanderer das Wort Jesu besser, nämlich so: Niemand lebt davon, dass er viele Güter hat, sondern ich lebe vom Vertrauen, dass ich mit Gott neu anfangen kann. Das ist mein wahrer Reichtum.

Das Experiment Amerika lebt bis heute von solchen beweglichen Menschen, die Neues säen. Die innere und äußere Beweglichkeit derer, denen säen wichtiger ist als ernten, ist jesuanisch. Jesus hat nämlich Freiheit von Erbstreitereien und Besitz vorgelebt und empfohlen. Er greift nicht in den Streit ums Erbe ein. Er gibt keinen Ratschlag, sondern begnügt sich mit einem elementaren und schroffen Hinweis auf den Ursprung des Streits und den Ursprung des Lebens: Reichtum der Menschen und Reichtum Gottes sind zweierlei. Aus dem einen erwachsen Habgier und Streit fast zwangsläufig, aus dem anderen aber Versöhnung und Neuanfang. Wir haben die Wahl.

Die katholische Kirche bot anders als Jesus immer gerne an, Erbschaftsstreitigkeiten zu schlichten, und sie bewirkte damit viel Gutes: Denn wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte, die Kirche, die angeboten hatte, das Erbe stellvertretend zu übernehmen. So konnten die Klöster mit Hilfe des an sie gefallenen Erbes das Land urbar machen und Schulen gründen. Ora et labora – bete und arbeite heißt die benediktinische Regel.

Diese kreative Erbschaftsregel führte zu großen Vermögensbildungen der Kirche und – zu viel Missbrauch. Jesus warnt sicher auch vor kirchlicher Habgier, und das zu Recht. Für die christliche Kulturarbeit unserer Vorfahren dürfen wir aber trotzdem dankbar sein. Ora et labora – das ist eine gute, im besten Sinne ökumenische Erbschaft.

Beten und arbeiten im richtigen Verhältnis, diese alte europäische Tradition lehrt uns Lebenserntedank. Auch in diesem Sinne ernten wir täglich, wo wir nicht gesät haben. Lasst uns dankbare und versöhnliche Erben sein, die nicht habgierig streiten, sondern weitergeben, was sie empfangen haben.

Auch wenn die meisten von uns nicht mehr von der Landwirtschaft leben, fragt man sich: Warum muss der reiche Kornbauer jedes Jahr zum Erntedankfest als Narr beschimpft werden? Ist es denn verwerflich, dass der Tüchtige nach erfolgreicher Arbeit auch mal seine Ruhe haben will? Hat er sich seinen Frühruhestand nicht redlich verdient? Was soll diese schroffe Drohung vom Tod in der kommenden Nacht?

Der reiche Kornbauer spricht mit sich selbst. Er denkt nicht an Gott und auch nicht an die Mitmenschen, weder an Zeitgenossen noch an Nachfahren. Er denkt nur an seine Vorräte. Und in der folgenden Nacht stirbt er. Vielleicht vergaß er in der Ruhephase wie vorher in der Arbeitsphase, dass er sein Leben nicht sich selbst verdankt und dass er nichts mit ins Grab nehmen kann? Vielleicht vergaß er Gott vergessen, dessen Reichtum von Generation zu Generation weitergegeben werden soll? Vielleicht vergaß er, dass er nicht für sich allein lebt? Das Prinzip ora et labora hätte ihm helfen können.

Vielleicht muss Jesus es gerade den Gottvergessenen Tüchtigen immer wieder so schroff sagen: Du bist sterblich und begrenzt. Was wir haben, ist uns gegeben zum Weitergeben. Unsere Sterblichkeit sollte uns klug machen. Alles, was wir sind und haben, ist endlich. Wir sind Gäste auf Erden. Es geht durch unsre Hände, kommt aber her von Gott. Jesus sagt uns unmissverständlich: Sammeln und Vermehren sind kein Selbstzweck. Ernten und Sammeln geht nicht ohne Säen. Und säen heißt loslassen, Zukunft schaffen und Nachhaltigkeit über unseren Tod hinaus. Säen heißt innehalten und für andere mitdenken. Lebens-Erntedank heißt das Empfangene weitergeben. Jesus reizt uns zur Dankbarkeit und warnt vor Habgier, beides ist not-wendig!

 

Wie ein Spiegel

18. Sonntag nach Trinitatis, 8. Oktober

Und Gott redete alle diese Worte: Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägypten­land, aus der Knechtschaft geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir ... Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ... sollst du keine Arbeit tun. (2. Mose 20,1–3 + 8–9)

Die Zehn Gebote, für jeden Finger eines, und die eine Hand für die Gottesliebe, die andere für die Nächstenliebe, sind einfacher zu verstehen als jedes andere Gesetzeswerk.

Auf Doppeltafeln erscheinen sie uns mit Vorder- und Rückseite, zusammengefasst in dem Doppelgebot der Liebe. Bei den Konfirmandinnen und Konfirmanden steht oft die eine Seite für die alten Worte, die Verbote „Du sollst nicht“, und die andere für die Anwendung der Nächstenliebe wie im Kleinen Katechismus Martin Luthers: Du sollst anderen nicht die Lebensmöglichkeiten nehmen, sondern ihnen helfen, ihr Leben zu entfalten. Du sollst nicht immer mehr haben wollen, sondern anderen von deiner Fülle abgeben. Du sollst nicht auf Kosten anderer leben, sondern deine Möglichkeiten nutzen, andere daran teilhaben zu lassen.

Beide Tafeln gehören zusammen: „Du sollst den Feiertag heiligen“ steht zwar auf der ersten Tafel, bei den Geboten, die sich auf Gott beziehen, aber es hat auch eine soziale Dimension: Weil Gott am siebten Tag ruhte, dürfen auch wir ausruhen und sollen das anderen ebenfalls ermöglichen.

Gottes Gebote sind Leitlinien für den Weg mit Gott aus der Knechtschaft und aus der Wüste in ein Land, in dem alle genug haben: Gerechtigkeit, Freiheit, Bildung, Wasser, Brot, Frieden.

Nutzen wir die Gebote in ihrer modernisierten Form als Spiegel: für uns selbst zur Selbsterkenntnis, zur Gotteserkenntnis, zur Welterkenntnis. Welterkenntnis, Gotteserkenntnis, damit wir Gebote Gottes hören, sehen, verstehen und weitergeben.

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