Qualität und Quantität

Über das Wachsen und Schrumpfen von Kirchengemeinden in Vorpommern
Blick in die Innenstadt von Greifswald bei Tage.
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Blick in die Innenstadt von Greifswald bei Tage.

Die jüngsten Kirchenaustrittszahlen haben für Aufsehen und Erschrecken gesorgt. Woran liegt es? Was kann man tun? Hans-Jürgen Abromeit, ehemaliger Bischof im vorpommerschen Greifswald, präsentiert eine Studie, die sich diesen Fragen widmet. Sein Fazit: Quantitativ wird sich der Rückgang der Kirchenmitglieder nach Menschenermessen nicht ändern lassen, qualitativ ist aber durchaus in einigen Gemeinden ein erhebliches Wachstum festzustellen.

In Zeiten, in denen kaum etwas so gewiss zu sein scheint wie der stete Rückgang der Mitgliederzahlen der beiden Großkirchen in Deutschland, möchte man gerne wissen, ob Ursachen und Faktoren benannt werden können, die zum Schrumpfen oder Wachsen führen. Wären belastbare Aussagen dazu möglich, könnten unter Umständen die ins Haus stehenden Entwicklungen nicht nur als drohendes, destruktives Schicksal, sondern auch als sinnvolle Phase in der Geschichte des Christentums wahrgenommen und gegebenenfalls in bestimmten Teilen beeinflusst werden.

Empirische Forschung zur Mitgliederstatistik: In den ersten Jahren nach der deutschen Vereinigung lagen für den Osten Deutschlands noch keine belastbaren Gemeindegliederstatistiken vor. Für jede Kirchengemeinde des Pommerschen Evangelischen Kirchenkreises, bis 2012 der selbstständigen Landeskirche (Pommersche Evangelische Kirche), war dies erst seit 2002 der Fall.

Als im Jahr 2019 meine Amtszeit als Bischof in Greifswald nach 18 Jahren zu Ende ging, ergab sich so Gelegenheit, die zum Teil stark differierenden Verläufe der Gemeindegliederzahlen nach Gründen für die unterschiedliche Entwicklung zu untersuchen. Mir schien, dies wäre ein sinnvolles Forschungsprojekt für das damals noch in Greifswald ansässige Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung. Ich schlug dieses Projekt dem Leiter Michael Herbst vor. Er stellte daraufhin eine Forschungsgruppe zusammen, und die EKU-Stiftung und die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland finanzierten das Vorhaben. Im Jahr 2002 hatte die Pommersche Evangelische Kirche 109 194 Gemeindeglieder in 295 Gemeinden, 2020 betrug die Gemeindegliederzahl des Pommerschen Evangelischen Kirchenkreises (PEK) 73 196 Gemeindeglieder in 152 Kirchengemeinden. Damit war die Gemeindegliederzahl auf 67 Prozent der Ausgangsgröße zurückgegangen. Der deutschlandweit feststellbare starke Rückgang der Kirchenmitgliedszahlen konnte mit dieser Studie in Vorpommern wie mit einer Lupe genauer betrachtet werden und eine Landkarte des Wachsens und Schrumpfens der Kirchengemeinden in Vorpommern gezeichnet werden.

„Relativ stabil“?

Die Studie verbindet zwei Methoden der Exploration, eine quantitative und eine qualitative: Zuerst wurden die vorhandenen Zahlen analysiert und ausgehend von den 152 Kirchengemeinden 2020 in drei Kategorien eingeteilt: „wachsend“, „relativ stabil bleibend“ und „schrumpfend“. Der Maßstab dazu war die Größe der Kirchengemeinden 2020 im Verhältnis zu 2002. Hierzu wurde der Median ermittelt und alle Kirchengemeinden, die fünf Prozent über oder unter dem Median lagen wurden der Gruppe „relativ stabil“ zugeordnet. Alles, was oberhalb dieser Gruppe lag, wird als „wachsend“ angesehen, auch wenn es sich nicht um echtes Wachstum handelt, sondern – absolut gesprochen – um ein unterdurchschnittliches Schrumpfen. Auch die als „relativ stabil“ eingeschätzte Gruppe war absolut nicht stabil. Aber in einem Umfeld, das in 19 Jahren durchschnittlich um 33 Prozent geschrumpft ist, hebt sich schon ein nur durchschnittliches Schrumpfen positiv von der Gesamtentwicklung ab. Alle Kirchengemeinden unterhalb der Mittelgruppe wurden als klar „schrumpfend“ eingeordnet. Schon diese quantitative Arbeitsweise ergab aufschlussreiche Ergebnisse.

Ganzheitliche Sichtweise

In einem zweiten Schritt wurden in neun nach der Methodologie der Grounded Theory ausgewählten Gemeinden insgesamt 27 jeweils mindestens einstündige Interviews geführt, anonymisiert transkribiert und mit MAXQDA nach den Themengebieten des Interviewleitfadens codiert. Dadurch wurde es möglich, Einflussfaktoren für das Wachsen und Schrumpfen von Kirchengemeinden in den Blick zu bekommen, die jenseits äußerer Faktoren wie Abwanderung, Sterbeüberschuss, Erschließung von Neubaugebieten et cetera liegen.

Der ganzheitlichen Sichtweise der Studie folgend, legt sie einen sowohl quantitativen als auch qualitativen Begriff von Wachsen und Schrumpfen zu Grunde. „Wachsen wird verstanden als erstens ein numerischer Zuwachs von Kirchengemeindemitgliedern und von Teilnehmenden an kirchlichen Veranstaltungen beziehungsweise am kirchlichen Leben. Des Weiteren wird Wachsen zweitens als das erstmalige Ergreifen oder Intensivieren christlich religiöser Praxis verstanden.“ Entsprechend wird Schrumpfen „als erstens ein numerischer Rückgang der Kirchengemeindemitgliederzahlen und der Teilnehmendenzahlen gesehen, wie auch zweitens die Abnahme der Intensität der Beziehung zur Kirche und zu Glaubensthemen … sowie die Reduktion der Angebote, durch die Menschen in Kontakt mit der Kirche und dem Glauben treten können“.

Viele Ergebnisse der Studie waren für Kundige erwartbar: Die hohe Relevanz nicht kirchlich beeinflussbarer Faktoren (zum Beispiel allgemeine demografische Trends, Folgen der Säkularisierung und der staatlichen Diskriminierung von Christen in der DDR, Landflucht, städteplanerische Vorhaben), die starke Rolle der Pfarrpersonen – negativ gesehen: die Pfarrerzentrierung, die negativen Auswirkungen von Verwaltungs- und Managementaufgaben (Finanzwesen, Bau- und Friedhofsunterhaltung), Erschöpfungsphänomene beim ehrenamtlichen und hauptamtlichen Personal. Hier liegen Gründe für Wachstum und Schrumpfen von Kirchengemeinden. Das ist insgesamt nicht neu.

Manchmal zeigten sich aber durchaus von Kirchenleitung und -verwaltung veränderbare Aspekte. Dazu gehört die Orientierung am staatlichen Verwaltungshandeln. Die Kirche ist nicht länger eine staatsanaloge Institution. Sie darf deswegen ihr Verwaltungshandeln nicht länger am staatlichen Verwaltungshandeln orientieren und staatsanalog gestalten. Es fehlen aber Ideen zu einer radikalen kirchlichen Entbürokratisierung und eventuellen Übertragung bestimmter bisher noch von der Kirche getragener Aufgaben an den Staat (Friedhöfe, Reduktion des kirchlichen Denkmalschutzes). So reiben sich die Mitarbeitenden in der Kirche häufig an Aufgaben auf, die kaum einen Einfluss auf Wachsen und Schrumpfen haben.

Die Studie hat eine Vielzahl von Einflussfaktoren auf Wachsen und Schrumpfen von Kirchengemeinden benannt. Als besonders wichtig können diese Einsichten gelten: Der Trend zum Kleinerwerden der Gemeinden und der Kirche insgesamt ist so gewaltig, dass er nach menschlichem Ermessen nicht umgekehrt werden kann. Der hauptsächliche Zugang zur Kirche ist die Taufe. Auf einzelne Kirchengemeinden bezogen können auch schon einmal andere Faktoren eine hohe Bedeutung haben (Erschließung von Neubaugebieten, Attraktivität von Städten für die jüngere Bevölkerung). Blicken wir aber auf die Kirche insgesamt, dann gilt, dass die Kirche – theologisch wie kybernetisch – aus der Taufe lebt.

Für das evangelische Vorpommern bedeutet das, dass es jedes Jahr Taufen in Höhe von 2,2 Prozent und 3,2 Prozent der Mitgliederzahlen bedürfte, um die Zahl der Mitglieder konstant zu halten. „Im Jahr 2019 betrug die Zahl der Taufen 0,64 Prozent der Kirchenmitglieder. Sieht man diese Lücke zwischen vollzogenen und zum Größenerhalt notwendigen Taufen, dann ist das Zitat eines ehrenamtlichen Interviewten, das den Titel der Dokumentation der Studie abgibt, ein frommer Wunsch: „Vielleicht schaffen wir die Trendumkehr.“ Das sich in diesem Wunsch ausdrückende Gott- und Selbstvertrauen ist bewundernswert. Es ist wunderbar, wenn die Gemeinden solch hoch motivierte Mitarbeiter haben. Gleichzeitig zeigt es aber auch ein Problem an. Schnell schlägt eine Überschätzung der eigenen Möglichkeiten in Frust um. Deswegen brauchen gerade engagierte Mitarbeitende Motivierung und Seelsorge, die ihnen helfen, einen langen Atem im Gemeindeaufbau zu entwickeln. Hier liegt eine nicht zu unterschätzende Aufgabe für die Pastorinnen und Pastoren.

Qualitativ erhebliches Wachstum

Die in der Gemeinde Aktiven dürfen die zahlenmäßigen Rückgänge nicht persönlich nehmen. Wir stehen in epochalen Umbrüchen kirchengeschichtlichen Ausmaßes, die nicht aus individuellem Fehlverhalten erklärt werden können.

Die Interpretation des Zahlenmaterials und die Auswertung der durchgeführten Interviews zeigen ein in sich gegenläufiges Bild der kirchengemeindlichen Wirklichkeit in Vorpommern. Quantitativ, besonders bei den Gemeindegliederzahlen, sind fast durchgängig Rückgänge festzustellen. Ausnahme stellt hier lediglich eine Reihe der städtischen Gemeinden dar. Qualitativ ist aber in nicht wenigen Gemeinden ein erhebliches Wachstum festzustellen, das sich gelegentlich auch in bestimmten quantitativen Parametern ausdrückt (zum Beispiel im Gottesdienstbesuch und in der Zahl der Taufen in diesen Gemeinden).

Nach all den Abgesängen, die wir in den vergangenen Jahrzehnten auf die zentrale Stellung des Gottesdienstes für die Gemeindearbeit gehört haben, war es fast überraschend, dass sich in den Gemeinden mit dieser Art von Wachstum eine Korrelation zeigte mit dem Stellenwert, den die zuständige Pfarrperson der Gottesdienstvorbereitung und -durchführung in der Vielzahl der geforderten und erwarteten Aufgaben einräumte. In Gemeinden mit steigendem Gottesdienstbesuch investierten die Pfarrpersonen erhebliche Zeit und theologische Arbeit in Gottesdienst und Predigt.

Man könnte Gemeinden, die Wachstumspotenzial haben und dieses auch zumindest teilweise ausschöpfen, auch lebendige oder vitale Gemeinden nennen. Ein Erkennungszeichen für die Vitalität von Kirchengemeinden ist ihre Offenheit für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Kommt in einer Gemeinde die junge Generation vor, beteiligt sie sich am Gottesdienst und an bestimmten Teilen der Gemeindearbeit, dann hat eine solche Gemeinde Zukunft. Ist das nicht der Fall, handelt es sich mit Sicherheit um eine schrumpfende Gemeinde. Die Anwesenheit von Kindern und Jugendlichen in Gottesdienst und Gemeindeleben zeigt die Offenheit der Gemeinde, auf die Bedürfnisse einer neuen Generation einzugehen. Eine Gemeinde mit der Partizipation von Kindern und Jugendlichen ist bereit zum Wandel, sonst wären diese nicht da.

Vor allem die Interviews der Studie lassen erkennen, dass die Voraussetzungen für Wachstum von Kirchengemeinden die Herstellung einer eigenen Gemeindepersönlichkeit, die Gewinnung der Subjektivität im Handeln der Gemeinde und damit der Abbau der Fremdbestimmung sind. Wenn eine Gemeinde ein eigenes Profil entwickelt, den sozialen Reichtum der Kirchengemeinde wahrnimmt und Freude an der Gemeindearbeit entsteht, dann hat sie das Potenzial zu wachsen.

Periphere Lage

Ein großes Hemmnis für Gemeindeentwicklung sind Eins-zu-eins-Relationen. Das klassische Beispiel dafür ist die Pfarrerorientierung. Eine Gemeinde ist mehr. Sie ist ein soziales Beziehungsnetz von Menschen, die ihrerseits wieder in einer Beziehung zu Gott stehen. Die Entfaltung eines gottbezogenen Beziehungsnetzes ist die Voraussetzung für Gemeindewachstum und ein Hindernis für Schrumpfung. Im gleichen Zeitraum, in dem die pommersche Kirche um ein Drittel geschrumpft ist, ist die EKD insgesamt um rund ein Viertel kleiner geworden. Die Entwicklung im deutschen Teil Pommerns ist also nicht extrem. Sie ist aufgrund der DDR-Vorgeschichte und der peripheren Lage etwas ausgeprägter. Die Tendenz der Entwicklung ist gleich. Die damit einhergehenden Abbrüche sind gewaltig. Die in Aussicht stehende Zukunft der Kirche wird mit Sicherheit völlig anders sein als ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart.

So können die in der pommerschen Studie in den Blick gekommenen Bedingungen, die zum Wachsen führen, ebenso wie die Bedingungen, die ein Wachsen hindern, und die Bedingungen, die zum Schrumpfen führen, auch anderenorts Geltung beanspruchen. Gewiss ist die Aufzählung der Bedingungen bei weitem nicht vollständig. Auch haftet dem Erkenntnisweg durch die Interviews mit ausgewählten Gesprächspartnern etwas Zufälliges an. Sie aber, einmal erkannt, nicht weiter zu beachten, wäre sträflich. Vielmehr haben mit den hier beschriebenen Bedingungen pastorales, gemeindliches und kirchenleitendes Handeln Anhaltspunkte, die zukünftiges kirchliches Handeln mitbestimmen sollten. Die Studie ist in ein für die Zukunft der Kirche entscheidendes Gebiet vorgestoßen.

Weitere Forschungsarbeiten in diesem Gebiet sollten folgen, denn eine Kirche, die sich in gewaltigen Transformationsprozessen befindet, die alle mit dem zahlenmäßigen Rückgang der sich als Christen verstehenden Menschen in unserer Gesellschaft einhergehen, sollte ein Interesse an der Klärung der Faktoren haben, die ein qualitatives und/oder ein quantitatives Wachstum der Kirche ermöglichen. Diese Studie hat in Deutschland Neuland betreten und sich auf die exemplarische Erforschung eines überschaubaren Ausschnitts der kirchlichen Landschaft beschränkt. Es ist zu hoffen, dass die in ihr gestellten Fragen, Aufgaben und Aporien weiter untersucht werden. Es gibt zurzeit für die Existenz der Kirche kaum dringendere Fragen. 

 

Literatur
Patrick Todjeras/Benjamin Limbeck/ Elisabeth Schaser: Vielleicht schaffen wir die Trendumkehr – Eine Studie zu Wachsen und Schrumpfen von Kirchengemeinden im Pommerschen Evangelischen Kirchenkreis.
Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2022, 156 Seiten, 25 Euro.

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