Konsum ohne Kontrolle

Wann die Alkoholsucht beginnt und wie man sie bekämpft
Alkohol
Fotos: picture alliance

Über 60.000 Menschen sterben jedes Jahr in Deutschland an den Folgen eines zu hohen Alkoholkonsums. Aber ab wann wird der Genuss zum Risiko, das zur Sucht führt? Christina Rummel, Geschäftsführerin der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), beantwortet die wichtigsten Fragen zum Thema Alkoholsucht.

Die Entstehung, Ausprägung und der Verlauf einer Abhängigkeit von Alkohol ist immer individuell. Den „einen“ Zeitpunkt einer Abhängigkeit gibt es nicht, es ist ein schleichender Prozess. An der Entstehung beteiligt sind biologische, psychologische und soziale Faktoren. Das allabendliche Glas Wein oder Bier zum Essen ist in Deutschland für viele Menschen selbstverständlich. Dabei würde beinahe jeder und jede Erwachsene von sich behaupten, er oder sie „habe das im Griff“. Hier beginnt jedoch bereits der Weg in die Gewöhnung. Der Grat zwischen Genusskonsum und Abhängigkeit ist extrem schmal. Wird dem Körper regelmäßig Alkohol zugeführt, verändern sich die Rezeptoren, die für das Belohnungszentrum im Gehirn zuständig sind. Um die angenehmen Effekte des Rauschs zu erreichen, benötigt man irgendwann größere Mengen Alkohol. Diesen Vorgang, der ein (allerdings nicht zwingend erforderliches) Merkmal der Abhängigkeit ist, nennt man Toleranzentwicklung. Eine Alkoholgefährdung liegt vor, wenn die konsumierende Person ihre Trinkmengen steigert, etwa zur Entspannung oder um Abstand von Problemen zu bekommen.

Von schädlichem Konsum spricht man, sobald das Trinken körperliche, psychische oder psychosoziale Folgeschäden mit sich bringt (etwa Aggression, Einsamkeit oder negativ veränderte Beziehungen, Gefährdung des Arbeitsplatzes oder alkoholisierte Teilnahme am Straßenverkehr). Ein Anzeichen für eine Alkoholabhängigkeit kann zum Beispiel sein, wenn der Verzicht auf Alkohol Entzugserscheinungen verursacht. Getrunken wird dann beinahe nur noch, um diese Symptome zu mildern. In diesem Stadium der Abhängigkeit hat man zumindest zeitweise keine Kontrolle mehr darüber, wann, was und wie viel man trinkt.

Wie viele Menschen sind in Deutschland betroffen?

Alkoholprobleme sind in Deutschland weit verbreitet. Insgesamt 3 Millionen Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren hatten im Jahr 2018 in Deutschland eine alkoholbezogene Störung (Alkoholmissbrauch: 1,4 Millionen; Alkoholabhängigkeit: 1,6 Millionen). 7,9 Millionen Menschen der 18- bis 64-jährigen Bevölkerung konsumieren Alkohol in einer gesundheitlich riskanten Form, das bedeutet, Frauen trinken gemäß dieser Definition mehr als 12 Gramm Alkohol pro Tag (das entspricht etwa einem kleinen Bier oder einem achtel Liter Wein), Männer über 24 Gramm Alkohol pro Tag. Allerdings sollte man die Definition der Betroffenheit weiter fassen und auch das soziale Umfeld bedenken. Dabei zeigt sich, dass nahezu alle Lebensbereiche davon beeinträchtigt sein können (Angehörige, Partner:innen, Kinder, Jugendliche und Ungeborene) und der Alkoholkonsum massives Leid verursacht.

Welche Stadien und Formen nimmt die Sucht an?

Alkoholprobleme müssen als Kontinuum oder fließende Übergänge betrachtet werden. Man differenziert zwischen dem riskanten Konsum, dem schädlichen Gebrauch sowie der Alkoholabhängigkeit. Der riskante Konsum unterscheidet sich vom schädlichen Gebrauch dahingehend, dass ein möglicher gesundheitlicher Schaden noch nicht entstanden ist. Die Menge an Alkohol, die Frequenz, die Art des Konsums oder der Kontext der Einnahme können jedoch im hohen Maße in einer physischen oder psychischen Schädigung für die Konsumierenden oder ihr Umfeld münden. Die Diagnose des schädlichen Gebrauchs erfordert eine tatsächliche Schädigung der psychischen oder physischen Gesundheit der konsumierenden Person. Schädliches Verhalten wird häufig von anderen kritisiert und hat auch häufig unterschiedliche negative soziale Folgen.

Die Diagnose einer Alkoholabhängigkeit wird gestellt, wenn irgendwann während des vergangenen Jahres drei oder mehr der folgenden Kriterien gleichzeitig vorhanden waren: ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, Alkohol zu konsumieren (englisch: Craving); verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Alkoholkonsums; ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Alkoholkonsums; Nachweis einer zunehmenden Alkoholtoleranz; fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen zugunsten des Alkoholtrinkens sowie ein erhöhter Zeitaufwand, um sich Alkohol zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen; anhaltender Alkoholkonsum trotz des Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen, wie zum Beispiel Leberschädigung oder depressive Verstimmungen, die durch Alkohol erzeugt werden. Ein eingeengtes Verhaltensmuster im Umgang mit Alkohol wird ebenfalls als charakteristisches Merkmal beschrieben. Ein aktueller Konsum oder starker Wunsch nach Alkohol wird oft als innerer Zwang erlebt und wird erst bewusst, wenn versucht wird, den Konsum zu beenden oder zu kontrollieren. Das Abhängigkeitssyndrom kann sich nur auf Alkohol beziehen, aber auch gleichzeitig mit dem Konsum anderer Suchtmittel wie Tabak, Drogen oder Medikamente kombiniert sein.

Welche Faktoren führen zur Sucht?

Sucht ist immer ein Zusammenspiel von bio-psycho-sozialen Fakten und multifaktoriell bedingt. Zum einen spielen genetische Einflüsse eine Rolle. Die Häufung der Alkoholabhängigkeit in Familien ist seit vielen Jahren belegt und wird auch in Folgestudien immer wieder bestätigt. Traumatische Kindeserlebnisse mit physischen oder sexuellen Übergriffen sind ein konsistenter Risikofaktor für das in der Biografie frühe Einsetzen des Alkoholkonsums bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Auch Personen, die bereits eine Alkoholkonsumstörung entwickelt haben, berichten davon, dass sie als Folge schwerer Lebensereignisse mehr trinken. Zudem spielen möglicherweise Gen-Umwelt-Interaktionen eine Rolle, bei denen genetische Varianten mit dem Kindheitstrauma wechselwirken und den Alkoholkonsum begünstigen. Als weitere psychologische Risikofaktoren konnten eine niedrige Impulskontrolle, Extraversion, also ein nach außen orientiertes Persönlichkeitsprofil, Neurotizismus, niedrige Gewissenhaftigkeit und ausgeprägtes Suchen nach Sensation identifiziert werden. Zudem steht der Umgang mit psychoaktiven Substanzen im Zusammenhang mit der Entwicklung von Gesellschaften und deren sozialen Normen und Werten. Alkoholkonsum wird in unserer Gesellschaft als „normal“ angesehen, wobei die Abstinenz eher kritisch beäugt wird, ebenso wie der Rausch.

Welche Folgen hat die Sucht?

Jedes Glas zu viel kann der Gesundheit schaden. Dieses Zuviel ist schnell erreicht. Und es ist ein Irrtum zu glauben, dass nur Alkoholabhängigkeit zu schweren Gesundheitsschäden führt. Alkoholkonsum ist immer riskant. Deshalb sollte möglichst wenig oder gar kein Alkohol getrunken werden. Studien zeigen, dass mehr als 200 Erkrankungen durch Alkoholkonsum mitverursacht werden. In Deutschland sterben jedes Jahr zehntausende Menschen an den Folgen von Alkohol oder dem kombinierten Konsum von Alkohol und Tabak. Für Deutschland ermittelte eine WHO-Berechnung aus dem Jahr 2016 etwa 19 000 Frauen und 43 000 Männer unter den Todesfällen, die ausschließlich auf Alkohol zurückzuführen sind. Die Diagnosen, die allein auf Alkohol zurückzuführen sind, machen aber nur eine Minderheit unter den jährlichen alkoholbedingten Todesfällen aus. Tatsächlich liegen die Zahlen der an oder mit Alkoholkonsum Verstorbenen höher.

Und wie bereits erwähnt, schädigt sich die konsumierende Person nicht nur selbst gesundheitlich, auch das soziale Umfeld ist betroffen: Auf jeden Alkoholkranken kommen vier bis fünf Angehörige, die unter den Folgen der Sucht leiden. Bei derzeit 1,6 Millionen Alkoholabhängigen in Deutschland wären dies bis zu acht Millionen Personen. Viele Angehörige sorgen sich um die Gesundheit des alkoholabhängigen Angehörigen, fühlen sich hilflos und ohnmächtig, einsam, allein verantwortlich und oftmals nicht ernst genommen.

Besonders ist auf Kinder suchtkranker Eltern hinzuweisen. Es ist ein Trugschluss, dass sie nicht wahrnehmen würden, dass häufig oder zu viel Alkohol getrunken wird. Kinder merken mehr, als man denkt – auch wenn Erwachsene versuchen, den Alkoholkonsum zu verstecken. Es wird von rund 2,65 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland ausgegangen, die in einem Haushalt leben, in dem mindestens eine erwachsene Person eine alkoholbezogene Störung aufweist. Kinder abhängiger Eltern haben ein erhöhtes Risiko, seelisch und körperlich vernachlässigt zu werden sowie psychische Störungen zu entwickeln. Alkohol in der Schwangerschaft ist die häufigste Ursache für nicht vererbte, aber angeborene körperliche, geistige und/oder seelische Behinderungen. Das Kind trinkt immer mit – es gibt keine unbedenkliche Menge. Nach einer aktuellen europaweiten Studie trinken mehr als ein Viertel der Frauen in Deutschland in der Schwangerschaft Alkohol. Pro Jahr sind in Deutschland 10 000 Kinder schon bei ihrer Geburt alkoholgeschädigt, was als Fetale Alkoholspektrum­störung bezeichnet wird (FASD).

Auch im Straßenverkehr hat Alkoholkonsum Auswirkungen: 2021 gab es 13 628 Alkoholunfälle mit Personenschaden, 165 Menschen wurden dabei getötet. Bei über einem Fünftel der Gewalttaten, die der Polizei bekannt werden, ist Alkohol im Spiel. Auch am Arbeitsplatz kann Alkoholkonsum zu massiven Problemen führen. Produktivitätsausfälle, Arbeitsunfälle sowie Qualitätsverluste. Letztlich kostet der Alkoholkonsum die Gesamtgesellschaft rund 57,04 Milliarden Euro. Dem stehen Einnahmen des Staates aus alkoholbezogenen Steuern von nur 2,42 Milliarden Euro im Jahr 2021 gegenüber.

Wie kommt man wieder heraus?

Grundsätzlich gilt: Alle, die Hilfe suchen, bekommen sie auch. Wenn der eigene Alkoholkonsum und der eines Angehörigen Sorgen bereitet, dann gibt es erste Hilfe und Unterstützung in der Nähe: Die meisten Städte und Kreise bieten spezielle Beratungsstellen. Zudem gibt es Tausende von Selbsthilfegruppen, die offen sind für neue Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Informationen zu Einrichtungen in der Nähe finden sich unter www.suchthilfeverzeichnis.de.
Suchtberatungsstellen informieren bei Suchtproblemen mit Alkohol, Nikotin oder illegalen Drogen oder bei süchtigen Verhaltensweisen (etwa Glücksspiel). Mitarbeitende der Suchtberatung vermitteln bei Bedarf in ambulante oder stationäre Therapien. Die Beraterinnen und Berater sind Fachleute der Sozialen Arbeit, Medizin, Psychologie, Sozialpädagogik et cetera und unterliegen der Schweigepflicht. Sie unterstützen sowohl Betroffene als auch Angehörige bei Fragen zu Suchtthemen.

Was kann die Politik tun?

Alkoholprävention zielt darauf ab, gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Schäden vorzubeugen, die mit dem Konsum von Alkohol verbunden sind. Sie ist eine gesellschaftliche Querschnittsaufgabe mit drei wesentlichen Zielen: Alkoholkonsum vermeiden oder den Beginn weitestgehend hinauszögern, Früherkennung und -intervention bei riskanten Konsummustern, Missbrauch und Abhängigkeiten reduzieren. Um diese Ziele erreichen zu können, ist ein Zusammenspiel aus verhaltens- und verhältnispräventiven Maßnahmen notwendig. Während die Verhaltensprävention das individuelle Verhalten Einzelner zu beeinflussen versucht, geht es bei der Verhältnisprävention um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Die beiden Ansätze gehen idealerweise Hand in Hand. Im Bereich der Verhältnisprävention sind drei wesentliche Arbeitsfelder zu nennen, in denen die Politik dringend etwas ändern muss: die Preisgestaltung, Werbung und Sponsoring und die Verfügbarkeit von Alkohol.

Der Preis für alkoholische Getränke beeinflusst den Gesamtkonsum in der Bevölkerung und damit auch das Ausmaß alkoholbezogener Probleme. Eine Veränderung des Preises zeigt insbesondere bei Jugendlichen eine messbare Veränderung (etwa bei Alkopops). Hier sollten zweckgebundene Abgaben, Erhöhungen der Verbrauchssteuern, Besteuerung des Alkoholgehaltes (nicht nach Getränketypen) oder festgelegte Mindestpreise als Instrumente eingesetzt werden.

Werbung dient einer Ausweitung der abgesetzten Menge alkoholischer Getränke, damit erhöht sie den gesamtgesellschaftlichen Konsum und die gesundheitlichen Folgen. Werbung für Suchtmittel steht in direktem Widerspruch zu gesundheitspolitischen Zielen. Parallel darf das Marketing für Alkoholprodukte Minderjährige nicht erreichen. Untersuchungen zeigen, dass die Bewerbung alkoholischer Getränke einen messbaren Einfluss auf den Konsum von Jugendlichen hat. Die Werbung für Alkohol gehört in jedem Fall von Sportereignissen getrennt! In kaum einem anderen Land ist Alkohol so leicht und jederzeit verfügbar wie in Deutschland. Untersuchungen zeigen auch hier, dass eine leichte Verfügbarkeit mit einem hohen gesellschaftlichen Konsum einhergeht. Politischer Handlungsspielraum für verhältnispräventive Maßnahmen besteht in einer Regulierung der Verfügbarkeit über Beschränkungen für Verkaufsstellen: Die Abgabe alkoholischer und nicht-alkoholischer Getränke ist zu trennen. Auch die 24-Stunden-Verfügbarkeit ist deutlich einzuschränken. Hiermit wird neben einer besseren Umsetzung des Jugendschutzes ein wichtiger Beitrag zur Gewaltprävention geleistet. 

 

Information:

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS) bietet eine Vielzahl an kostenlosen Publikationen zu den Themenfeldern Sucht, Suchtstoffe und abhängiges Verhalten. Alle aktuell verfügbaren Veröffentlichungen können im DHS-Bestellcenter heruntergeladen oder bestellt werden: www.dhs.de/infomaterial.

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