Ahnung göttlicher Herrlichkeit

Der Theologe und Musiker Janis Berzins hat über Bachkantaten im Gottesdienst promoviert
Janis Berzins
Foto: Jens Schulze

Die Kantaten von Johann Sebastian Bach erfreuen sich auch nach 300 Jahren großer Beliebtheit. Passen sie heute noch in den Gottesdienst? Der Pfarrer und Kirchenmusiker Janis Berzins, 48, hat diese Frage in seiner Promotion von vielen Seiten untersucht und beleuchtet.

Irgendwann sagte mein Lehrer meiner Mutter beim Elternabend: „Der Junge muss ein Instrument lernen. Am besten eines, an dem er sich mit Händen und Füßen austoben kann.“ Schlagzeug oder Orgel schlug er vor. Schlagzeug in der Wohnung? Das ging nicht. So begann ich in der 6. Klasse mit Klavier- und Orgelunterricht. Vorher musste ich Blockflöte lernen, aber das war für mich nicht das Richtige. Aber die Tasten von Orgel und Klavier haben mich gepackt. Etwas später wurde ich Mitglied in der Singschule am Braunschweiger Dom, und als Organist spielte ich bald häufig in Gottesdiensten. Kurz vor dem Abitur führte ich mit begeisterten Freundinnen und Freunden zum ersten Mal eine Bachkantate im Gottesdienst auf. Es war die Kantate „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ (BWV 177). Die Wahl fiel ziemlich zufällig auf dieses Stück ohne Bass-Arie, denn einen Bass-Solisten hatten wir nicht.

Trotz dieser vielfältigen musikalischen Aktivitäten in Kindheit und Jugend wollte ich bis kurz vor dem Abitur eigentlich Chemie studieren und nicht etwa Kirchenmusik. Schließlich wurde es aber Theologie. So ging ich zum Studieren zuerst nach Bethel und dann nach Heidelberg. Musik machte ich natürlich auch immer, aber nur nebenbei, der Hauptakzent lag auf der Theologie. In Heidelberg fiel mir dann mehr und mehr auf: „Du warst auf der Orgel schon mal fitter …“ Und das wollte ich wieder werden. So erkundigte mich bei der Hochschule für Kirchenmusik, ob ich möglicherweise neben Theologie auch Kirchenmusik studieren konnte. Das ging, ich bestand die Aufnahmeprüfung und studierte dann acht Semester vordringlich Kirchenmusik und schloss mit dem B-Examen ab. Während dieser Zeit leitete ich einen Chor, mit dem ich mehrere Bachkantaten aufführen konnte, denn es gab in Heidelberg-Kirchheim ein ambitioniertes Laienorchester, das in den kirchlichen Räumen probte und dafür für Aufführungen zur Verfügung stand – eine Win-win-Situation.

Dann machte ich auch mein theologisches Examen und stand vor der Wahl: Pfarramt oder Kirchenmusik? Ich entschied mich für Ersteres, denn ich hatte das Gefühl, es würde wesentlich komfortabler sein, als Pfarrer nebenbei Kirchenmusik zu machen, als sich – salopp gesagt – als theologisch gebildeter Kirchenmusiker mit Pfarrern herumärgern zu müssen.

So ging ich ins Vikariat in die St. Martinikirche in Braunschweig, eine sehr schöne Zeit, denn dort gab es eine großbesetzte Kirchenmusik. In meiner ersten Gemeinde in Braunlage im Harz war die Situation kirchenmusikalisch übersichtlicher. Aber auch da habe ich zweimal Bachkantaten als Projekt angeboten, bevor ich auf meine zweite Pfarrstelle kam, wieder nach Braunschweig in die Gemeinde St. Pauli-Matthäus. In diesen Jahren leitete ich dann auch einen semiprofessionellen Kammerchor, mit dem wir eine ganze Reihe von Kantatenprojekten verwirklichen konnten.

Die vergangenen fünf Jahre war ich Studienleiter am niedersächsischen Predigerseminar in Loccum und war für die Ausbildung von Vikarinnen und Vikaren zuständig. In dieser Zeit konnte ich dann auch mein Vorhaben umsetzen, das Thema Bachkantaten im Gottesdienst, das mich nun schon eine ganze Weile begleitet hatte, in einer Promotion zu untersuchen. Ich fand mit Jochen Arnold, dem Leiter des Zentrums Gottesdienst und Kirchenmusik in Hildesheim, einen Doktorvater, der mich sehr zu dem Vorhaben ermutigte und mich dabei unterstützte.

Es gibt ja fast zweihundert geistliche Kantaten von Johann Sebastian Bach, für eine Einzeluntersuchung also wirklich ein sehr weites Feld, für fast jeden Sonntag im Kirchenjahr gibt es mehrere zur Auswahl. Eine kleine Gruppe ist sehr speziell, es sind die so genannten Ratswahlkantaten, die Bach schrieb, eine zur Einführung des Rates der Stadt Mühlhausen, wo Bach 1707/08 wirkte (BWV 71), und vier in Leipzig, wo Bach von 1723 bis zum Ende seines Lebens 1750 war (BWV 29, 69, 119, 120). Darüber hinaus noch einmal ein paar, deren Charakteristikum nicht ganz eindeutig ist oder deren Überlieferung und die Autorenschaft Bachs nicht ganz gesichert ist, außerdem einige, von denen nur der Text überliefert ist. Auf jeden Fall ein überschaubares, zusammenhängendes Konvolut.

In meiner Dissertation habe ich in den hinführenden Eingangsteilen zunächst die bisherige moderne theologische Bachforschung skizziert, die Möglichkeit der Verwendung von Bachkantaten im Gottesdienst im Allgemeinen erwogen und ausführlich den Kasus Ratswahl in der Barockzeit vorgestellt. Den Hauptteil meiner Arbeit macht dann die inhaltliche, musikalische und theologische Analyse der Ratswahlkantaten Bachs aus. Dann fasse ich unter der Überschrift „Gegenwärtige Folgerungen“ zusammen, was uns diese Kantaten heute noch sagen können, wo doch mit dem demokratischen Rechtsstaat eine ganz andere Obrigkeitsform existiert als zu Bachs Zeiten. Die überraschende Erkenntnis: Auch in den Texten der Barockzeit lassen sich neben viel uns heute befremdlich anmutender Obrigkeitshörigkeit durchaus auch Widerständiges und Aktuelles entdecken. Schließlich gehe ich in praktisch-theologischer Perspektive der Frage nach, wie es um die konkrete liturgische Tauglichkeit der Ratswahlkantaten für die heutige Gottesdienstgestaltung bestellt ist, und analysiere einige Gottesdienste beziehungsweise Predigten, in denen dies in den vergangenen Jahren versucht wurde.

Insofern ist mein Buch über die Untersuchung der Ratswahlkantaten im Speziellen hinaus auch ein Kompendium, in dem sich vielfältig spiegelt, dass Johann Sebastians Kantaten auch noch nach gut 300 Jahren Menschen faszinieren und im Tiefsten anrühren, weil sie – durch die Zeiten hindurch – in der Lage sind, eine Ahnung göttlicher Herrlichkeit zu vermitteln. In diesem Monat beginne ich meinen Dienst in der Andreaskirche in Hildesheim. Auf Vorschlag des dortigen Kirchenmusikers werden wir im kommenden Jahr eine Gottesdienstreihe mit Bachkantaten angehen. Was für eine Freude!

Die Dissertation „,Preise, Jerusalem, den Herrn’ – Johann Sebastian Bachs Kantaten zur Ratswahl – Historische Zusammenhänge und gegenwärtige liturgische Verwendung“ von Janis Berzins ist in diesem Jahr im Verlag Vandenhoeck und Ruprecht erschienen. Hier lesen Sie eine Rezension.

 

Aufgezeichnet von Reinhard Mawick

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