Erfolgreiche Minderheit

Klartext
Foto: privat

Die Predigthilfe dieses Monats kommt von Traugott Schächtele. Er ist Prälat in Schwetzingen.

Heilsamer Seufzer

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 12. November

Die Schöpfung ist ja unter­worfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat –, doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt … Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? (Römer 8,20–22.24)

Ich hoffe, also bin ich: Denn ein Großteil meines Lebens beruht darauf, dass ich auf die Wirklichkeit und die Funktionsfähigkeit von Dingen setze, die ich nicht sehe. Ja, die zunehmende Digitalisierung des Alltags macht es fast zur Regel, dass ich mit der Zuverlässigkeit von Prozessen rechne, deren Voraussetzungen ich längst nicht mehr durchschaue.

Ohne einen Vorschuss an Vertrauen, das meine Hoffnung trägt, kann ich nicht leben. Mein Arzt stellt mir ein Rezept aus, und ich nehme eine Pille ein, deren Zusammensetzung ich nicht überprüfen kann und deren Wirksamkeit sich erst noch erweisen muss. Oder ich überweise eine Spende in der Erwartung, dass das Geld den Empfänger auch erreicht. Längst vorbei sind die Zeiten, in denen Wirklichkeit nur durch persönliche Präsenz garantiert wird, und von Abläufen, die ich einsehen kann. Leben beruht immer auf Hoffnung. Und das bedeutet, dass eine von mir ersehnte positive Wendung eintritt, auch wenn es derzeit nicht danach aussieht, ja sogar wenig dafür spricht.

Was in einer digitalisierten Welt selbst für die banalsten Abläufe des Alltags normal geworden ist, ist seit jeher der Wurzelgrund menschlichen Lebens. Aber Paulus geht das nicht weit genug. Er setzt beim Thema Hoffen ganz grundsätzlich an. Der Apostel weiß: Nicht auf die Ansicht meines Lebens kommt es an, sondern auf dessen Aussicht. Hoffen heißt dann, mit den Augen Gottes über den Horizont der Gegenwart hinauszusehen. Diese mag geprägt sein vom „Seufzen der Kreatur“, der Wahrnehmung meines Eingebundenseins in eine geschundene Schöpfung – als handelnder oder vom Handeln anderer betroffener Mensch. Aber meine Bilder der Zukunft bauen darauf, dass am Ende alles gut wird. Und genau das bringt Paulus mit seinem Plädoyer für das Hoffen zum Ausdruck. Denn Hoffen ist kein Haschen nach Wind. Was für eine atemberaubende Möglichkeit, im Glauben die Wirklichkeit der Welt, wie Gott sie gemeint hat, schon vorwegzunehmen, sie herbei zu hoffen. Und das Seufzen der Schöpfung ist der heilsame Stoßseufzer, der mit Gottes neuer Welt rechnet.

Ohne Schlupfloch

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres, 19. November

Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben. (Matthäus 25,45–46)

Die Daseinsfürsorge die bei uns lange als gesichert galt, steckt in einer gewaltigen Krise. Nicht nur die Diakonie beklagt fehlende Fachkräfte in der Pflege und der Betreuung und Begleitung von Menschen in bedrängten Lebenslagen. Der Sozialstaat ist längst an seine Grenzen gestoßen. Und bei den verantwortlichen Akteuren scheint die Hilflosigkeit nicht selten stärker zu sein als die Empathie für die Betroffenen und die Einsicht in das Setzen von Prioritäten.

Viel zu lange haben wir beim Gleichnis vom Weltgericht nur die Zusage gehört, dass unser Einsatz für die Schwachen am Ende Christus selber gilt: „Das habt ihr mir getan“ (Matthäus 25,40). Doch am Ende des Gleichnisses wird der Spieß umgekehrt. Der Rückzug aus der tätigen Nächstenliebe ist – theologisch gesprochen – Sünde. Die Verweigerung der im Gleichnis genannten Werke der Barmherzigkeit ist Verrat an Christus.

Mein persönlicher Einsatz für den Nächsten und die organisierte Nächstenliebe durch Krankenhäuser, Heime und andere Fürsorgeeinrichtungen können nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sie bilden vielmehr zwei Seiten einer Münze. Und das Schlupfloch, dass etwas anderem der Vorrang gebührt, bietet das Gleichnis Jesu auch nicht. Dafür schildert es in drastischen Worten die Konsequenzen. Was das Gleichnis als Strafe für unterlassene Hilfe beschreibt, ist nur deren bittere Konsequenz. Noch haben wir es in der Hand, recht zu handeln, von der einen auf die andere Seite zu wechseln und dem Gericht zu entgehen.

Engagiertes Warten

Totensonntag, 26. November

Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt. (2. Petrus 3,13)

Mag das Kirchenjahr zu Ende gehen, wir sind noch lange nicht am Ende mit unseren Hoffnungen und unseren Möglichkeiten. Das Ende wird übertroffen von der Aussicht darauf, dass das Beste und Größte noch aussteht. Zeitlich gesehen ist der Zweite Petrusbrief uns nahe wie keine andere Schrift des Neuen Testaments, denn er ist dessen jüngste Schrift.

Wie schön, wenn das auch inhaltlich so wäre. Wenn die Erwartung eines neuen Himmels und einer neuen Erde den Maßstab unseres Glaubens, Hoffens und Handelns abgäbe, sähe die Welt womöglich ganz anders aus. Nicht ohne Grund ließen wir vor vielen Jahren in der Kirchengemeinde, in der ich damals lebte und wirkte, 2. Petrus 3,13 in die neue Gerechtigkeitsglocke eingravieren.

Wenn wir uns am Ende wähnen – und wir auf den Anfang von etwas Neuem hoffen. Wenn die Ungerechtigkeit vor aller Augen Überhand nimmt – und wir mit der Hoffnung auf eine neue, bessere Gerechtigkeit eine Gegenbewegung in Gang setzen. Wenn die Bilder des Himmels zu entgleiten drohen – und wir einfach auf den neuen Himmel Gottes vertrauen. Dass nicht nur mir das alles zu langsam geht, ist auch die Erfahrung, die der Schreiber des Zweiten Petrusbriefes macht.

Spannend finde ich, wie er das scheinbare Hinauszögern der Hilfe Gottes begründet: Gott hat Geduld mit uns, um uns die Möglichkeit der Umkehr zu bieten. Kein Wunder, dass die Altvorderen unseres Glaubens darüber debattierten, ob nicht auch die Toten noch Gelegenheit zur Umkehr haben sollten. Mit den Augen Gottes betrachtet ist auch der Tod nicht das Ende seiner Möglichkeiten, Menschen zur Umkehr zu bewegen. Eine tröstliche Vorstellung gerade am Totensonntag.

Aber einstweilen will ich mich damit zufriedengeben, dass schon auf dem engagierten Warten auf mehr Gerechtigkeit und eine bessere Welt der Segen Gottes liegt.

Unverstellte Nähe

1. Advent, 3. Dezember

Wer darf auf des Herrn Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist, wer nicht bedacht ist auf Lüge und nicht schwört zum Trug: der wird den Segen vom Herrn empfangen und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heils. (Psalm 24,3–5)

Der 24. Psalm ist schon lange der liturgische Begleiter am Ersten Advent. Das wohl bekannteste aller Adventslieder besingt sein Motto, die geöffnete Tür. Dabei ist der Berg des Herrn ein höchst umstrittenes Stück Land. Die Frage, wer Zugang zu ihm hat, hat bis in die Gegenwart zahlreiche Konflikte verursacht und Menschenleben gekostet. Als Ort, den mehrere Religionen als heilig betrachten, ist der Wunsch, Zutritt zu ihm zu erhalten, Sehnsucht und Konflikt­auslöser in einem.

Wenn man den Psalm wörtlich nimmt (der schon vor zweieinhalbtausend Jahren Teil eines „liturgischen Spiels“ beim Zutritt zum Tempelberg war), wird dort kaum ein Gedränge geherrscht haben. Denn zu hoch liegt die ethische Latte, die den Zutrittswilligen auferlegt wird: Nur wer unschuldige Hände hat und ein reines Herz und für den Lug und Trug keine Möglichkeit menschlichen Zusammenlebens sind, durfte sich dem Berg nähern, an dem man Gott so nah sein konnte wie sonst nirgends.

Dass wir dennoch nicht außen vor bleiben müssen, ist eine gute Nachricht in bedrängten Zeiten. Der Segen, den Gott auf die legt, die die Forderungen nach Recht und Gerechtigkeit in ihrem Leben und in dieser Welt zur Geltung bringen, möge uns an jedem Tag dieses neuen Kirchenjahres erreichen. Auch wenn wir immer hinter dem Maßstab eines Lebens in Gerechtigkeit zurückbleiben und die hochgelegte Latte reißen, ist uns die Nähe Gottes nicht verstellt. Die im Tempel betenden Menschen verließen sich darauf. Und der Advent ist für mich Anlass, mich auf den Weg zu dem zu begeben, an dessen Geburt wir demnächst wieder wort- und liedreich erinnert werden.

Neue Welt

2. Advent, 10. Dezember

Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, die niemand zuschließen kann; denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet. (Offenbarung 3,8)

Evaluationen sind heute selbstverständlich. So bewerten wir, was bei Veranstaltungen gelungen ist oder auch nicht. Studierende bewerten ihr Lehrpersonal, und selbst nach Gottesdiensten kann man einen Rückmeldebogen ausgehändigt bekommen. Das Ziel jeder Evaluation ist zu lernen, wie man es besser machen kann.

Zu den Besonderheiten der Johannesoffenbarung gehört, dass sie sieben Evaluierungen frühchristlicher Gemeinden in der Provinz Asia enthält. Und es ist Gott selbst, der den Gemeinden eine Rückmeldung gibt, die sich unter schwierigen Bedingungen bewährt haben. Die Gemeinde von Philadelphia erhält eine sehr gute Bewertung. Denn unter großem Druck von außen hat sie standgehalten. Mit ihren begrenzten Möglichkeiten, ihrer „kleinen Kraft“, hat sie das Bestmögliche erreicht. Entgegen aller Erwartung hat sie einen Prozess in Gang gesetzt, der sie als Minderheit in ihr Umfeld hinein Wirkung entfalten lässt.

Gott hat die Tür zur Welt, die die Gemeinde umgibt, weit geöffnet. Und das Bild der sich öffnenden Tür passt gut in den Advent. Als Kirche und als einzelne Christenmenschen strengen wir uns an, Gott in der Welt im Gespräch zu halten. Und das ist auch dann nicht vergeblich, wenn wir das zusehends als eine an Zahlen kleinere Kirche tun müssen. Denn es ist Gott, der immer wieder unerwartet Türen öffnet und offenhält.

Und im Fest der Geburt des unscheinbaren Kindes, das in einer Absteige im hintersten Winkel des römischen Reiches zur Welt kommt, macht Gott sich selbst zum Gleichnis seiner Rückmeldung nach Philadelphia: Auch mit kleinsten Kräften ist Großes möglich. Schon eine einzelne brennende Kerze im Fenster kann auf eine offene Tür hinweisen, hinter der eine neue Welt beginnt. Jeder Sonntag im Advent erinnert mit seinen brennenden Kerzen an diese Zukunft. 

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