Zitronenkuchen bei Starbucks

Zeichen der Zivilcourage sind gefragt. Jetzt erst recht!

Geschichte wiederholt sich selbstverständlich nicht, jedenfalls niemals vollkommen identisch. Aber gleichzeitig gilt, dass man immer wieder einmal beglückt oder erschreckt feststellt, dass sich relativ ähnliche Prozesse vollziehen, die man aus der Geschichte kennt, oder gerade eher das Gegenteil von dem passiert, was schon einmal war. Ich schreibe diese Kolumne in der Nacht vom 9. auf den 10. November, als 1938 in Deutschland rund 1400 Synagogen und Betstuben brannten, Geschäfte, die jüdischen Eigentümern gehörten, verwüstet wurden, mindestens dreißigtausend Menschen in Konzentrationslager verschleppt wurden und hunderte sich das Leben nahmen oder ermordet wurden. „Reichskristallnacht“ hieß das in meiner Jugend verharmlosend und „Reichspogromnacht“ wird es jetzt etwas passender genannt. Die Social media waren voll von Posts, die auf das Ereignis Bezug nahmen und zeigten, dass man sich in diesen Tagen besonders an die damaligen schlimmen Verfolgen jüdischer Mitbürger erinnert.

Am vergangenen Samstag versammelte sich vor einer Starbucks-Filiale an der Friedrichstraße, ein paar hundert Meter von meinem Arbeitsplatz am Gendarmenmarkt entfernt, ein Mob direkt vor der Eingangstür und schrie jeden, der den Laden verlassen oder betreten wollte, mit lautem Gebrüll an: „Shame on you!“, zu Deutsch: „Schande über Dich!“. Die brüllenden Menschen stürmten den Laden, zeigten den wenigen verschreckten Kunden den Mittelfinger und an einer weiteren Filiale an der Friedrichstraße am Checkpoint Charlie wurde ein Kunde sogar angespuckt. Man kann die eine beschriebene Szene in den Social Media nachverfolgen,  (und das ZDF bestätigt die Authentizität des Videos): Demonstranten schwenken palästinensische Fahnen, einige halten Schals und Tücher in palästinensischen Fahnen in die Kamera, ein handgeschriebenes Plakat fordert zum Boykott Israels auf.

Im Visier der Boykott-Bewegung

Der frühere COB und jetzige CEO von Starbucks, Howard D. Schultz, ist freilich gar kein Israeli, sondern Amerikaner und Jude. Er wuchs in einem einfachen Viertel Brooklyns auf und hat sich gleichsam vom Tellerwäscher zum Millionär hochgearbeitet; er kaufte die Kette, deren erstes Geschäft 1971 eröffnete, 1982 dem Gründertrio von Starbucks ab. Warum lösten sich von einem großen propalästinensischen Demonstrationszug größere Menschengruppen und attackierten Starbucks-Filialen? Das Unternehmen war in das Visier einer größeren anti-israelischen Boykott-Bewegung in den Staaten geraten, weil es nach dem entsetzlichen Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 Solidarität mit Opfern bekundet und die Hamas klar verurteilt hatte. Gegen Versuche von Mitarbeitenden, mit dem Starbucks-Logo abweichende politische Botschaften in die Welt zu bringen, war die Firma (vermutlich schon aus ganz grundsätzlichen markenrechtlichen Erwägungen) gerichtlich vorgegangen.

Zu den Regeln dieser Boykottbewegung gehört es, zum Boykott aller Institutionen aufzurufen, die Solidarität mit Israel erklären oder mit israelischen Einrichtungen zusammenarbeiten. Dabei bleibt unklar, ob die Boykottbewegung Israel überhaupt ein Existenzrecht als Staat zubilligt: Lange konnte man auf der deutschen Homepage der Bewegung „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS) lesen, die Hebräische Universität Jerusalem befände sich auf besetzten Gebiet – das ist entweder eine dreiste Lüge (der Gründungscampus der Hebräischen Universität ist laut UN-Teilungsplan 1947 eine israelische Enklave in jordanischem Gebiet, konnte aber bis 1967 nicht für universitären Betrieb genutzt werden, weil der Universität der Zutritt verwehrt wurde) oder ein Zeichen dafür, dass die Initiative die Befreiung des Landes „from the river to the sea“, vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer, erhofft und ganz Israel für eine illegale Besatzung palästinensischen Landes hält.

Natürlich müsste man nun genau analysieren, wer sich am vergangenen Samstag vor der Filiale versammelte – neben gewaltbereitem Mob sicher auch Menschen, die einen solchen gewaltbereiten Mob zu steuern verstehen. Neben Menschen, die einen biographischen Hintergrund im Nahen Osten oder in Palästina haben, sicher auch Berlinerinnen und Berliner, die entweder einem sehr linken oder sehr rechten Spektrum zuzurechnen sind – an dieser Stelle darf man in keinem Fall eine einzige Gruppe für solche unerträglichen Ausschreitungen verantwortlich machen. Außerdem müsste man natürlich auch noch einmal genau analysieren, warum weder in Berlin noch anderswo sich jüdische Menschen vor palästinensischen Kaffeehäusern in Neukölln versammeln und Hamas-Sympathisanten anbrüllen noch die dritte Generation ostpreußischer oder schlesischer Vertriebener in Berlin oder München vor polnischen, russischen oder tschechischen Einrichtungen randaliert.

Auch schon vor 100 Jahren

Mir kommt es heute auf etwas Anderes an. Am 5. November 1923, also fast exakt hundert Jahre vor den Ausschreitungen vor der Starbucks-Filiale in der Berliner Friedrichstraße, zog ein Berliner Mob durch das Scheunenviertel, ein am Alexanderplatz gelegenes, hauptsächlich von osteuropäischen jüdischen Menschen bewohntes Viertel, und verprügelte jüdisch aussehende Menschen, vor allem fromme osteuropäische jüdische Männer, die durch Kippa oder Pelzmütze, Bart und Schläfenlocken, Kaftan und andere Details leicht zu erkennen waren. Die Polizei griff erst Stunden später ein, Versuche der jüdischen Community und von Menschen aus dem Scheuenviertel, sich zu verteidigen, halfen kaum gegen viele hundert Menschen Mob in den Straßen. Der Mob prügelte nicht nur, er plünderte die Geschäfte, stahl Waren und leerte die Kassen und stürmte auch die Wohnungen über den Geschäften.

Wie gesagt: Geschichte wiederholt sich nicht. Die Novemberpogrome 1923 fanden auf dem kritischen Höhepunkt einer schrecklichen Hyper-Inflation statt und unter dem Mob befanden sich Arbeitslose, die im nahegelegenen Arbeitsamt keine Unterstützung ausgezahlt bekommen hatten. Im Nahen Osten begann damals erst die antisemitische Agitation der einheimischen palästinischen Bevölkerung durch die Muslimbruderschaft und den Großmufti von Jerusalem und späteren Hitler-Verbündeten Mohammed Amin al-Husseini schreckliche Wirkung zu zeigen; mit dem eskalierenden Konflikt im britischen Mandatsgebiet Palästina hatten die Berliner Pogrome natürlich nichts zu tun. Auch die staatlich gelenkten Pogrome vom November 1938, bei denen Angehörige der SA und SS in Zivilkleidung agierten und „spontane Ausbrüche des Volkszorns“ organisierten, haben auf den ersten Blick wenig mit Ereignissen unserer Tage zu tun.

Zivilcourage zeigen

Gleichzeitig darf man aber auch die schrecklichen Parallelen nicht übersehen: Zum ersten Mal seit 1945 wurde in der Berliner Innenstadt versucht, Menschen, die ein in jüdischem Eigentum befindliches Geschäft betreten oder es verlassen wollten, öffentlich zu beleidigen, einzuschüchtern und so einen Boykott solcher Geschäfte durchzusetzen. Ähnlich wie 1923 gelang es der Polizei nicht, diesen illegalen und inakzeptablen Versuch der gewaltsamen Bedrängung von Menschen zu unterbinden und die Beteiligten – Mob wie Anführer – erkennungsdienstlich zu behandeln. Ähnlich wie 1923 ist dieses schlechterdings unerträgliche Ereignis schnell vergessen worden und man ist relativ wieder schnell zur Tagesordnung übergegangen. Ein paar Posts, ein paar Zeitungsartikel. Dabei ist wieder eine neue Eskalationsstufe antisemitischer Gewalt in unserem Land erreicht, wieder ein Stein aus der Mauer gebrochen, die wir so feierlich mit den Worten „Nie wieder“ an Gedenktagen beschwören. Menschen in Berlin fühlen sich an den Boykott jüdischer Geschäfte im vergangenen Jahrhundert erinnert – und wer wollte es ihnen verdenken trotz aller Unterschiede zwischen damals und heute?

Die Ehefrau und der Sohn des berühmten Orientalisten und Theologen Paul Kahle, der an der Edition der Biblia Hebraica beteiligt war und Professor für Orientalistik in Bonn war, halfen in jüdischen Geschäften nach der Reichspogromnacht 1938, aufzuräumen und die Schäden zu beseitigen. Daraufhin wurde der Sohn von der Universität verwiesen, sein Vater als Beamter und Professor zwangspensioniert und vor der Wohnung der Familie Kahle erschien ein Mob, der Sprechchöre brüllte und Steine in die Fenster warf. Heute bewundern wir die Zivilcourage von Mutter und Sohn Kahle, die auch von anderen Menschen, prominenten wie weniger bekannten, aus den Tagen nach dem 9./10. November 1938 berichtet wird. Bewundern reicht aber nicht. Wir müssen uns inzwischen nicht mehr nur mit Menschenketten vor die Synagogen stellen, um die in unserem Land vor gewalttätigem und antisemitischen Mob zu schützen, sondern auch vor Geschäfte, die von diesem Mob mit Judentum oder Israel in Verbindung gebracht werden. Vielleicht ist es auch wieder Zeit, die armen Menschen, die in diesen Geschäften arbeiten und bei solchen Attacken nicht fortlaufen können, durch einen Solidaritätsbesuch zu unterstützen. Der Zitronenkuchen bei Starbucks schmeckt vorzüglich.

Aber wie auch immer: Angesichts der unerträglichen, sich immer weiter steigernden Ausbrüche des Antisemitismus ist von uns allen Zivilcourage gefordert und öffentlich sichtbare Zeichen der Zivilcourage. Kirchengemeinden und theologische Ausbildungseinrichtungen sollten gemeinsam solche Zivilcourage einüben, sich gegenseitig ermuntern und hilfreiche Zeichen überlegen, die nicht übersehen werden können. Dem antisemitischen und israelkritischen Stammtisch in öffentlichen Verkehrsmitteln deutlich widersprechen, giftige Hassparolen auf Straßen und an Hauswänden übermalen, Kunden in einem von der Boykottbewegung attackierten Filiale zu Hilfe kommen: Geschichte wiederholt sich zwar selten, aber sie kann sich ziemlich identisch wiederholen und die Geschichte der Novemberpogrome von 1923 und 1938 darf sich nicht wiederholen.

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