Tagen in turbulenten Zeiten

Zum heutigen Auftakt der Synodentagungen in Ulm
Kundgebung auf dem Weinmarkt in Ulm am 9. November 2023 zum Gedenken an die Reichspogromnacht
Foto: Jürgen Wandel, zeitzeichen
Kundgebung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Ulm/Neu-Ulm am 9. November 2023 anlässlich des 85-jährigen Gedenkens an die Reichspogromnacht neben der Synagoge auf dem Weinmarkt.

Es ist wieder soweit: In Ulm an der Donau beginnt heute die verbundene Synodaltagung von EKD, UEK und VELKD. Welche Themen werden die Tagung an der Donau prägen? Die neue kirchliche Diskussion um den § 218 der Umgang mit sexualisierter Gewalt oder doch ein vielleicht ein ganz anderes Thema, was gerade  aufploppte: Ein evangelischer Verlag muss ein umstrittenes Corona-Buch vom Markt nehmen.

Mit dem 9. November, jenem vielschichtigen Tag in der deutschen Geschichte, muss die EKD-Synode meist sehr bewusst umgehen, denn traditionell fällt das Datum meist in die Zeit der Tagung. Dieses Mal ist es anders, der gestrige 9. November war der Vorabend des Treffens, das am heutigen Freitag in Ulm mit der Generalsynode der VELKD offiziell beginnt. Dennoch war es EKD-Präses Anna Nicole Heinrich und dem Präsidium der EKD-Synode wichtig, am gestrigen Abend nach einer Andacht im Ulmer Münster zum Gedenken an die Reichspogromnacht von 1938 auch an der Kundgebung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) Ulm/Neu-Ulm auf dem Weinhof teilzunehmen, ebenso wie Hannovers Landesbischof Ralf Meister, der seit 2018 Leitender Bischof der VELKD ist. Der Weinhof ist Platz vor der neuen Synagoge, die 2012 errichtet wurde. An fast derselben Stelle stand bis 1938 die vorherige Ulmer Synagoge, die am 9. November 1938 von den Nazis angezündet worden war.

Bei dieser Kundgebung sprachen neben dem Ulmer OB Gunter Czisch, Vertreter der DIG und der Stolpersteininitiative und – sehr bewegend – der Ulmer Rabbi Shneur Trebnik, der aus beruflichen Gründen gerade in New York weilt. Seine Rede wurde live in den kalten Ulmer Nieselregenabend von der anderen Seite des Atlantiks dazugeschaltet: „Es sind düstere Zeiten“, sagte Trebnik angesichts des Massakers vom 7. Oktober und dem epidemischen Anwachsen antisemitischer Vorfälle in Deutschland und auf der Welt. Er sprach aber auch von vielen kleinen Lichtern um ihn herum und von Menschen, die ihre Solidarität zeigten.

Musikalisch wurde die Gedenkfeier vom Kammerchor der Universität Ulm gestaltet. Er sang „Da pacem, Domine“ von Arvo Pärt, das Friedenslied „Hevenu shalom aleichem“ und Felix Mendelssohns berühmte achtstimmige Motette „Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir“. Dann wurden – in wandernden Rollen – die vielen, vielen Namen der jüdischen Opfer des Naziterros aus Ulm verlesen. An der Veranstaltung nahmen neben dem Präsidium der EKD-Synode auch der Leitende Bischof der VELKD und weitere VELKD-Bischöfe teil, die wegen der Veranstaltung ihre internen Beratungen verschoben hatten.

Heute beginnt die VELKD

Heute Nachmittag hat die Generalsynode der VELKD begonnen (hier weitere Hinweise dazu und auch zum Livestream), deren erster Teil bis morgen Mittag gehen wird. Nach einem Empfang von württembergischer Landeskirche und Landesregierung wird dann am Sonntag dann die 4. Tagung der 13. Synode der EKD mit einem Gottesdienst in der Ulmer Martin-Luther-Kirche eröffnet. Warum nicht im Münster? Weil dort gerade Bauarbeiten stattfinden und größere Teile des Innenraums eingerüstet sind, und das macht sich im Fernsehen nicht so gut. In dem Gottesdienst, dessen Motto „Ich glaube, darum rede ich“ dem 116. Psalm entnommen ist, wird der württembergischen Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl die Predigt halten. Sie kann am Sonntag ab 9:30 Uhr im ZDF verfolgt werden. Weitere Informationen zum Ablauf der Synode erfahren Sie hier.

Neben den üblichen Geschäften wie Haushalt und Gesetzgebung gibt es immer ein Schwerpunktthema. Dieses Jahr in Ulm ist es am besten mit dem Hashtag #glaubensstark umrissen. Am Montag werden sich die 128 Synodalen in verschiedensten Formen und Weisen damit beschäftigen, wie der Glaube in diesen Zeiten Ausdruck verliehen kann. So hat EKD-Präses Anna-Nicole Heinrich dazu aufgerufen, Kurzvideos mit eigenen „Glaubensbekenntnissen“ aufzunehmen und breit zu teilen (Gebrauchsanweisung der Video-Aktion hier). Es sind schon am heutigen Freitag einige eindrückliche Beispiele auf der EKD-Seite vorhanden …

Spannend verspricht in diesem Zusammenhang auch die Vorstellung der sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD zu werden, die am Dienstagvormittag vorgesehen ist. Veröffentlicht wird der etwa 100-seitige Zusammenfassungsband der Studie, die in den vergangenen Jahren durch eine umfangreiche Befragung von mehr als 2500 Menschen gewonnen wurde. Es wird spannend sein zu erfahren, wie die Experten der EKD diese Untersuchung deuten. Gibt es einen ungebremsten Fortgang der Säkularisierung, des Abbruchs von Glauben und Religiosität, oder tauchen Glauben und Religion nur in individuelleren, persönlicheren Form als früher auf?

Neue Diskussion um § 218?

Auch die Diskussion um den § 218 ist im Vorfeld der Synode im kirchlichen Raum erneut aufgebrochen, nachdem der Rat der EKD seine Antwort auf die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Regelung zum Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuchs möglich ist, veröffentlicht hat. Daraufhin warf der Theologe Ulrich Körtner (Wien) der EKD vor, dass die Stellungnahme ohne theologische Argumente sei und ohne Not den ökumenischen Konsens mit der römisch-katholischen Kirche in existenziellen Lebensfragen aufkündigen würde (siehe hier). Theologische Gründe lieferte eine Phalanx aus vier ethisch kompetenten und ausgewiesenen Theolog:innen wenige Wochen später auf zeitzeichen.net nach, und zwar unter der Überschrift „Dem tatsächlichen Schutz des Lebens dienen“.

Aber damit sind wohl andere gewichtige Kräfte im Raum der EKD noch nicht zufrieden und mahnen weitere interne Abstimmungen an, so zum Beispiel der württembergische Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl, der in seinem zeitzeichen-Text fordert: „Lasst uns nochmal reden!“ Auffällig und sicher ein Zeichen des schwindenden Einflusses der großen Kirchen auf die öffentliche Meinung ist zu bewerten, dass niemand aus den Reihen der Kirchen von der Bundesregierung in die Kommission berufen wurde, die über eine etwaige Änderung des §218 berät.

Gespannt darf man auch auf den Bericht über das neue Beteiligtenform für die Opfer sexualisierter Gewalt am Dienstagnachmittag sein, das von der EKD vor einem Jahr eingesetzt wurde. Verglichen mit den Unruhen, die im Vorfeld der Synode vor einem Jahr zu diesem Themenkreis herrschte, scheint hier ein besseres Verfahren etabliert zu sein, wobei es über die Fragen der angemessenen Entschädigung weiterhin sehr unterschiedliche Auffassungen gibt, und die Kerstin Claus, die Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung, die Bemühungen im Raum der evangelischen Kirche vor einiger Zeit sehr kritisch beurteilte.

Evangelisches Buch mit rechtsextremer, antisemitischer Gesinnung?

Möglicherweise wird es bei der zu erwartenden Debatte, wie die Kirche wirksam gegen Rechtsextremismus und Demokratiefeindlichkeit vorgehen wird, auch Diskussionen um das umstrittene Buch Angst, Politik, Zivilcourage – Rückschau auf die Coronakrise geben, das in der Evangelischen Verlagsanstalt erschienen ist. Auf zeitzeichen.net kritisierten am 30.Oktober die beiden Praktischen Theologen Kristin Merle und Hans-Ulrich Probst das EVA-Buch als „Nicht salonfähig!“ und führten aus, dass dieser Band „in der Breite ein Zeugnis rechter Agitation“ sei, die auf eine Zersetzung der liberalen Gesellschaft und der demokratischen Verhältnisse“ abziele. Harte Vorwürfe, denen der Leipziger Dogmatikprofessor und Mitautor des Bandes, Rochus Leonhardt, zwei Tage später in einem Offenen Brief an die beiden Autor:innen auf zeitzeichen.net energisch widersprach.

Ganz aktuell wurde am heutigen Freitag Mittag vermeldet, dass die Evangelische Verlagsanstalt (EVA) das Buch „Angst, Politik, Zivilcourage“ wegen demokratiefeindlicher und antisemitischer Aussagen vom Markt nehme. Dies geht aus einer Pressemitteilung des Gemeinschaftswerkes der Evangelischen Publizistik (GEP) in Frankfurt/Main hervor, der als Mehrheitsgesellschafter 74 Prozent des Leipziger Verlages hält. Zweiter Gesellschafter ist die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM). (Sie finden die gesamte Pressemitteilung als Anhang am Ende dieses Textes)

Möglicherweise gibt es nun auch zu diesem heiklen Thema Nachfragen auf der Synode. Nötig wäre es, denn der gesamte Vorgang erscheint noch nicht in allen Facetten transparent.

Auf jeden Fall nötig auf dieser Synode ist eine Nachwahl in den Rat der EKD, denn Ratsmitglied Stephanie Springer, die Präsidentin des Landeskirchenamtes der Hannoverschen Landeskirche, wird aufgrund eines Berufswechsels in ein Landesministerium ausscheiden. Nominiert wurde vom Ratswahlausschuss der leitende Jurist und Stellvertreter des württembergischen Landesbischofs Stefan Werner, dessen Wahl als sicher gilt, auch wenn theoretisch aus dem Kreis der Synode weitere Kandidat:innen aufgestellt werden könnten. Damit wäre die württembergische Landeskirche wieder im Rat der EKD vertreten, allerdings nicht die größte Landeskirche der EKD, Hannover. Das gab’s wohl noch nie. Aber wie heißt es so schön: Never say never again …

Mit der Ratswahl schließt sich in Ulm ein Kreis. Bei der letzten Synode in der Donaustadt, Ende Oktober 2009, wurde bei der damals notwendigen turnusgemäßen Ratswahl die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann mit überwältigender Mehrheit von 132 von 142 Stimmen gewählt. Da am selben Tag auch Bundeskanzlerin Angela Merkel für eine zweite Amtszeit vereidigt wurde, sprach Käßmann vom „Tag der evangelischen Frauen“, was auch in vielen Zeitungen aufgenommen wurden. Das waren noch Zeiten! Allerdings ahnte damals in Ulm niemand, dass die EKD genau 120 Tage später bereits wieder einen neuen Ratsvorsitzenden haben würde. Wie gesagt: „Sag niemals nie …“

 

Hier nun eine Dokumentation des Wortlauts der Pressemeldung des Gemeinschaftswerkes der Evangelischen Publizistik (GEP), die zwar schon auf den 8. November datiert ist, aber erst heute am 10. November  mittags veröffentlicht wurde:

Buch: „Angst, Politik, Zivilcourage“ wird aus dem Handel genommen

Frankfurt am Main, den 8. November 2023 – Evangelische Publizistik ist ein evangelischer Beitrag zur Gestaltung einer demokratischen, gerechten, nachhaltigen und friedlichen Gesellschaft. Diesem Grundsatz fühlt sich das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) verpflichtet, das mit seinen Produkten und Dienstleistungen seit mehr als 50 Jahren einen wichtigen Beitrag zur Medienvielfalt in Deutschland leistet. Dazu gehört auch, zusammen mit den evangelischen Unternehmen, an denen das GEP beteiligt ist, für die grundrechtlich garantierte Presse- und Meinungsfreiheit nach innen und außen einzutreten. Die Pluralität von Meinungen, mutige Anstöße zu gesellschaftlichen und kirchlichen Debatten sowie eine wertschätzende Streitkultur sind für uns Ausdruck evangelischer Freiheit. 

Begrenzt wird dieser weite Raum der Freiheit da, wo die christlichen Gebote der Nächstenliebe grob verletzt werden. Zum Beispiel, indem Menschenfeindlichkeit, Demokratieverachtung und Antisemitismus offen propagiert werden. Eine solche Grenzziehung markiert Rote Linien, die nicht im Widerspruch zur Presse- und Meinungsfreiheit stehen, sondern im Gegenteil Voraussetzung für jeden gelingenden demokratischen Diskurs sind.

Mit Bedauern müssen wir feststellen, dass in einer Buch-Veröffentlichung der Evangelischen Verlagsanstalt in Leipzig (EVA) (ein Tagungsband) diese Roten Linien in eklatanter Weise überschritten wurden.  Das GEP hält eine Mehrheitsbeteiligung an der EVA, zweiter Gesellschafter ist die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Die EKM teilt unser Bedauern.  

Prof. Kristin Merle und Hans-Ulrich Probst haben am 30. Oktober in der evangelischen Zeitschrift „Zeitzeichen" sorgfältig belegt, dass wesentliche Passagen des Buches „Angst, Politik, Zivilcourage" demokratiefeindliche, geschichtsrevisionistische, verschwörungsideologische und antisemitische Narrative bedienen. 

Tatsächlich gibt es Passagen in dem Buch, die keinen Zweifel lassen, dass sie weder mit den publizistischen Standards der evangelischen Publizistik vereinbar, noch durch die Meinungsfreiheit gedeckt sind. Das gilt ganz besonders für eine zutiefst antisemitische Aussage, in der die Angehörigen der Opfer der Terroranschläge bei den Olympischen Spielen 1972 auf menschenverachtende Weise diffamiert werden. Das GEP verurteilt diese ehrverletzenden persönlichen Angriffe auf das Schärfste, bittet die Angehörigen der Opfer für die Veröffentlichung dieser Aussagen um Verzeihung und steht in der Analyse im Konsens mit der EKM. 

Ebenfalls völlig unakzeptabel ist die offene Propagierung von mehreren als gesichert rechtsextremistisch eingestuften Medien sowie von antisemitischen Verschwörungsportalen als „Gegenöffentlichkeit" zu den im Text als angeblich korrupt und fremdgesteuerten Medien. Dabei werden Personen als Experten zitiert, ohne kenntlich zu machen, dass es sich dabei um aktive Politiker aus der rechtsextremen Szene handelt. 

Auch wenn mit der Einstufung einzelner Textpassagen als Überschreitung Roter Linien zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Bewertung der übrigen Texte im Buch verbunden ist, sehen wir uns zum Handeln gezwungen. 

Die Gesellschafter der EVA, GEP und EKM, halten es für notwendig, das Buch umgehend aus dem Verkauf zu nehmen. Wir sind froh, in diesem Punkt nach eingehenden Beratungen mit der Geschäftsführung der EVA übereinzustimmen. Dabei handelt es sich um einen einmaligen Schritt in der mehr als 50-jährigen Geschichte des GEP, aber um einen unverzichtbaren. Es wäre abwegig, diesen singulären Schritt als einen Eingriff in die Meinungsfreiheit zu interpretieren.

Selbstverständlich werden wir den Vorgang gründlich untersuchen. Das braucht Zeit und findet im Bewusstsein für die publizistischen Standards des GEP und der EVA, für die Ansprüche der evangelischen Publizistik, für das hohe Gut der Meinungsfreiheit, für die verlegerische Unabhängigkeit sowie die Fürsorgepflicht für Beteiligte statt. 

Wir sind überzeugt, dass sich die Qualität eines Unternehmens auch in ihrer Fehlerkultur erweist. Das Buch „Angst, Politik, Zivilcourage" war ein gravierender Fehler, den wir zutiefst bedauern. Wir werden daraus lernen.



 

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