Wie hältst du’s mit der Religiosität?

Eine kritische Perspektive auf die soeben erschienene Überblicksdarstellung der KMU VI
Lichtinstallation vor Pyramiden
Foto: picture-alliance

Die neueste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU VI), die jetzt auf der Synodaltagung der EKD in Ulm vorgestellt wurde, stellt auch religionstheoretische Fragen. Doch dabei macht sie Vorannahmen, die zu problematischen Konsequenzen führen, meinen Reiner Anselm, Professor für Systematische Theologie und Ethik in München, Kristin Merle, Professorin für Praktische Theologie in Hamburg und Uta Pohl-Patalong, Professorin für Praktische Theologie in Kiel. Sie gehören dem Wissenschaftlichen Beirat der KMU VI an.

Die Ergebnisse der VI. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) dürften angesichts der Krisen der beiden großen Kirchen in Deutschland mit besonderer Spannung erwartet worden sein. Zum ersten Mal in der Geschichte der alle zehn Jahre durchgeführten repräsentativen KMUs sind auch röm.-katholische Kirchenmitglieder zu ihren Haltungen und Erwartungen Kirche gegenüber befragt worden. Die KMU VI erbringt interessante und wichtige Ergebnisse, zum Beispiel zur Bedeutung der Konfirmation, zur Einschätzung des Gottesdienstbesuchs oder auch zu Motivationsgründen, sich in der Kirche zu engagieren. Etliche neue Items ermöglichen andere Perspektiven auf das Verhältnis der Kirchenmitglieder und Nichtkirchenmitglieder zur evangelischen und katholischen Kirche als bisher. Gleichzeitig lassen sich mit vielen schon in den bisherigen KMUs verwendeten Items Langzeitentwicklungen darstellen – wobei bei der Darstellung und Interpretation von Langzeitenwicklungen Vorsicht geboten ist, weil gerade auch religiös konnotierte Formulierungen heute mitunter anders verstanden werden als vor einem halben Jahrhundert.

Neu und in unseren Augen problematisch ist allerdings auch der religionstheoretische Fokus der jetzt durch das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD erarbeiteten Überblicksdarstellung zur KMU: Gleich nach der Einleitung werden Typen von Religiosität vorgestellt, die zwischen „kirchlicher“, „alternativer“ und „distanzierter“ Religiosität sowie säkularer Weltanschauung  unterscheiden. Nach dieser Darstellung geht nicht nur die „kirchliche“, sondern auch die „alternative“ Religiosität stark zurück, während Distanz zu Religion und Religiosität und vor allem säkulare Haltungen zunehmen.

Da die jetzt erschienene Vorabdarstellung wichtiger Ergebnisse der KMU VI die weitere Interpretation der Einzelergebnisse und Detailanalysen prägen dürfte, erscheint es uns als Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirats der KMU VI erforderlich, auf die Vorannahmen und Begrenzungen dieser Zugangsweise aufmerksam zu machen.

Unzureichende Differenzierung von Religiosität und Kirchlichkeit

Die Items für die Repräsentativbefragung wurden ursprünglich vom Beirat entworfen, um das Verhältnis von Menschen zur Kirche zu erkunden, nicht um daraus ein Panorama der Religiosität von Menschen zu gewinnen. Selbstverständlich haben etliche Items im Fragebogen der KMU VI in irgendeiner Weise mit einer persönlichen religiösen Einstellung oder Überzeugung zu tun (diese sind auch für die Überblicksdarstellung herangezogen worden; 28ff.). Aber für eine Erforschung individueller Religiosität von Menschen, ihrer religiösen Haltung, ihrer Sinnfragen und Transzendenzdispositionen, wären zwingend mehr und andere Items erforderlich gewesen.

Auf diese Weise erfolgt die Herausarbeitung der „religiösen Orientierungstypen“ wesentlich entlang von Items, die kirchlich-religiöse Praktiken und Überzeugungen zum Ausgangspunkt nehmen. Mit dieser Vorgehensweise liegt es nahe, dass für die „religiösen Orientierungstypen“ die Differenz „kirchennah“ versus „kirchenfern“ eine hohe Bedeutung bekommt. Hinzu kommt, dass der Typenbildung methodisch eine Faktorenanalyse zugrunde liegt, diese aber aus methodischen Gründen das diverse Feld verschiedener Formen individualisierter Religiosität aus methodischen Gründen nicht zu erfassen vermag: Bei der Faktorenanalyse werden Faktoren über Gruppierungen von Variablen gebildet, die stark miteinander korrelieren. Dies aber hat zur Folge, dass klarer konturierte Muster von Religiosität deutlich besser erfasst werden können als diffuse und individuell ausdifferenzierte Formen.

Denn während es bei dem „kirchlich-religiösen“ Typus recht wahrscheinlich ist, dass Personen, die regelmäßig den Gottesdienst besuchen, auch regelmäßig beten, können eher diffuse Formen individueller Religiosität mit diesem methodischen Zugang weniger gut erfasst werden: Wer ein religiöses Gefühl beim Spaziergang durch den Wald hat, muss noch lange nicht an Wahrsagerei glauben. Zudem wird die „kirchenferne Religiosität“ nur über wenige Indikatoren zu parareligiösen Vorstellungen, nämlich Wahrsagerei und Astrologie, zu Vorstellungen von Wiedergeburt und Karma und zum offeneren Konzept ‚spiritueller Mensch‘ konturiert. Wenn die hier abgefragten Paraphänomene an gesellschaftlicher Plausibilität verloren haben, lässt sich das jedoch nicht ohne weiteres als Indiz für die Abnahme individualisierter Religiosität überhaupt deuten. Dass somit vieles aus dem Feld individualisierter Religiosität ausgeblendet wurde, dürfte die Prozentzahlen der „religiös distanzierten“ oder „säkularen“ Typen erheblich gestärkt haben.

Religiosität, die sich weder „kirchennah“ noch in einer bestimmten, vor allem parareligiösen Weise als „alternativ“ versteht, kommt also mit dem Vorgehen der Überblicksdarstellung kaum in den Blick. Zwar trägt die Überblicksdarstellung an späterer Stelle eine methodische Einschränkung nach („Möglicherweise kommt eine empirische Analyse, die andere Variablen benutzt, zu anderen Ergebnissen“, S.30). Doch das vermeintlich alternativlose Argument zum allgemeinen und starken Rückgang individualisierter Religiosität ist dann schon gesetzt.

Vorrangige Orientierung an einer säkularisierungstheoretischen Lesart

Mit dieser Herangehensweise folgt die Überblicksdarstellung vorrangig der Säkularisierungstheorie, der zufolge parallel zum Entstehen der differenzierten modernen Gesellschaft die Religion insgesamt unweigerlich abnimmt. Das konkurrierende religionssoziologische Paradigma der Individualisierungstheorie, demzufolge die Religion sich transformiert und in vielfältigen, nicht durch Institutionen die den Kirchen kontrollierten Formen erscheint, bleibt weitgehend unberücksichtigt. Auf diesem Weg kommt die Überblickdarstellung zu dem Ergebnis, Religiosität gehe gesamtgesellschaftlich zurück. Um Missverständnissen vorzubeugen: Anders als manchmal unterstellt wird, behaupten die Vertreter:innen der Individualisierungstheorie nicht,  dass Menschen mit fluiden Transzendenzdispositionen umstandslos für Kirche zu gewinnen wären. Es geht vielmehr darum, Menschen in der (reflexiven oder vorreflexiven) Bearbeitung ihrer Sinn- und Lebensfragen verstehen zu lernen.

Um diese Formen von Religiosität zu erfassen, ist es gerade nicht sinnvoll, explizit nach einem religiösen Selbstverständnis zu fragen. Auch aus anderen empirischen Studien ist bekannt, dass Menschen angeben, „nicht religiös“ zu sein, und doch Transzendenzerfahrungen und entsprechende Praktiken angeben, sobald andere Semantiken gewählt werden. Denn viele Menschen assoziieren Religion bzw. Religiosität immer noch stark mit Kirche, mit traditionellen kirchlich-religiösen Praktiken und bestimmten normativen Glaubensvorstellungen. Möchte man aber religiöse ‚Bricolagen‘ von Menschen mit ihren subjektiven Plausibilitäten erfassen, wären vermutlich Items sinnvoll wie ‚manchmal habe ich den Eindruck, dass alles doch einen tieferen Sinn hat‘ oder ‚es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als wir erfassen können‘. Interessanterweise antworten übrigens 34% der Bevölkerung auf die in der KMU VI entsprechend gestellte Frage, ob sie in einer Kirche eine Kerze anzünden, mit Ja. Ähnliches dürfte für das Aufstellen von Schutzengeln oder das Begehen von Pilgerwegen im Urlaub gelten. Möglicherweise kommt aber auch in der Erhebung individualisierter Religiosität quantitative Religionsforschung insgesamt an ihre Grenzen und sie kann mit qualitativen Zugängen sinnvoller erfasst werden.

Diese virulenten religionstheoretischen Fragen thematisiert bzw. diskutiert die Überblicksdarstellung der KMU VI nicht, sondern sie betont einseitig die Unumkehrbarkeit der Säkularisierung: „Nicht nur die Kirchenbindung geht zurück, sondern auch die Religiosität“ S.13 u.ö.). Dazu ist stimmig, dass die KMU VI für die Arbeit an der Religionstypologie die Schweizer Studie Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft (2014) zum Vorbild nimmt, die säkularisierungstheoretisch grundiert ist und bei „vergleichbaren Vorgehen“ (18), zu erwartbar ähnlichen Religiositätsdimensionen kommt.

 

Abgeblendete Transzendenzvorstellungen der Individualisierungsthese

Es ist bereits angeklungen: Trotz aller beschriebenen methodischen Beschränkungen finden sich in der KMU VI durchaus auch Hinweise auf Phänomene individualisierter Religiosität, und zwar bei Kirchenmitgliedern und Konfessionslosen.

Grafik aus der KMU zu religiösen Vorstellungen und Handlungen

Diese Phänomene zeigen sich im Blick auf alle drei gängigen Dimensionen von Religiosität: Transzendenzvorstellungen, Transzendenzerfahrungen und Transzendenzpraktiken. Die Transzendenzvorstellungen beziehen sich auf höhere Mächte oder ein höheres Wesen, auf das Universum als schöpferische Kraft, auf parareligiöse Vorstellungen und auf ein Leben nach dem Tod (1. bis 5.). Die Transzendenzerfahrungen umfassen spirituelle Erfahrungen sowie religiöse Naturerlebnisse (6. und 7.). Als Transzendenzpraktiken wurden das individuelle Gebet und die religiöse oder spirituelle Meditation aufgenommen (8. und 9.). Diese Phänomene sind unterschiedlich weit verbreitet, wobei auffällt, dass die Transzendenzvorstellungen häufiger sind als entsprechende -erfahrungen und -praktiken.

54 Prozent der Konfessionslosen in Deutschland bejahen mindestens einen, 33 Prozent sogar zwei oder mehr dieser Indikatoren für religiöse Transzendenz in einer individualisierten Form. Für die Kirchenmitglieder liegen die Werte bei 82 Prozent und 66 Prozent. Auch bei Kirchenmitgliedern geht eine möglicherweise eher traditionell geprägte Religiosität mit Prozessen von Individualisierung einher. Mit ihnen können gebundene Formen wie etwa das Glaubensbekenntnis in eigene Plausibilitäten übersetzt werden. Ebenso ist für viele Menschen christlicher Glaube mit Yoga, fernöstlichen Meditationsformen oder auch mit einem Reinkarnationsglauben vereinbar. Das Gebet folgt zum Teil einer kirchlich geprägten Religiosität, und die religiösen Naturerfahrungen werden von kirchlich geprägten Personen mit kirchlich geprägten Gottesvorstellungen in Verbindung gebracht. Nichtsdestotrotz reichen die hier in der Abbildung vorgestellten Phänomene individualisierter Religiosität über die Phänomene kirchlich geprägter Religiosität hinaus. Die Phänomene individualisierter Religiosität betreffen zu erheblichen Teilen solche Personenkreise, die mit kirchlich geprägter Religiosität wenig anfangen können.

Erwartungsgemäß zeigen die Kirchenmitglieder mit mindestens einem Transzendenzbezug deutlich häufiger positive Assoziationen mit dem sprachlichen Code ‚Religion‘ als die Konfessionslosen. Aber auch bei ihnen stimmen 34 Prozent der Aussage zu: „Mir selbst sind religiöse Fragen bedeutungslos und egal“. Ebenso sind auch 22 Prozent dieser Gruppe der Meinung: „Das moderne wissenschaftliche Weltbild hat Religionen überflüssig gemacht.“ Distanz zum Sprachcode „Religion“ ist insofern kein Alleinstellungsmerkmal von Konfessionslosen, auch wenn sie bei diesen deutlich stärker ausgeprägt ist.

Problematische Konsequenzen der  gewählten Interpretation

Das Verständnis einer engen Beziehung zwischen Kirchlichkeit und Religiosität in der nun vorliegenden Überblicksdarstellung zur KMU VI hat innerkirchlich wie gegenüber der Öffentlichkeit problematische Konsequenzen.

1.Der inhaltlich überfällige und kirchenpolitisch dringliche Schritt, die individuellen religiösen Formen von Menschen wahr- und ernst zu nehmen, auch wenn sie den traditionellen kirchlichen Überzeugungen und Formen nicht entsprechen, rückt in den Hintergrund. Ebenso kommen die notwendigen Konsequenzen aus den vielfältigen Übergängen zwischen „kirchennahen“ und „kirchenfernen“ Haltungen. Dass beispielsweise die Formulierung „Ich glaube an Gott, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat“ als Grundlage einer kirchennahen Überzeugung gewählt wurde, nimmt nicht wahr, dass vermutlich auch nicht alle kirchlichen Haupt- und Ehrenamtlichen ihre Glaubensvorstellung so formulieren würden.

2. Die säkularisierungstheoretische Lesart ist für die derzeitige Situation der Kirchen fatal, als sie Kirchenreformen eher blockiert als fördert zumal wenn sie sich als sich direkt ‚aus den Daten ableitende‘ und damit alternativlose Lesart präsentiert. Wenn es so wäre, dass mit dem Rückgang der Nähe zu den gegenwärtigen Formen von Kirche unweigerlich religiöse Haltungen und das Interesse an religiösen Themen stark zurückgehen, dann wäre die Konsequenz eine Mangelverwaltung. Man könnte dem Trugschluss folgen, dass man mit den 13 Prozent der Bevölkerung, deren Religiosität kirchennah orientiert ist, in den vertrauten Formen weiterarbeiten könnte. Die vielfältigen Erfahrungen, dass sich mehr und andere Menschen für Kirche interessieren, wenn sie sich in anderen Formen nah an den Bedürfnissen und Interessen von Menschen orientiert, würden ignoriert und nicht als Leitperspektive für eine Veränderungen der Relevanzorientierung künftigen kirchlichen Handelns genutzt.

3. Schlimmstenfalls führt diese Darstellung in eine Resignation der Akteur:innen, die für die Weiterentwicklung der Kirchen keine Perspektiven mehr sieht und sich in die gegenwärtig rasant wachsenden Marginalisierung frustriert fügt– mit der Folge eines sich selbst verstärkenden Effekts.

All dies zusammengenommen erscheint es nicht nur aus Gründen der methodischen Redlichkeit, sondern auch aufgrund der weitreichenden Konsequenzen für die Zukunft der Kirche und ihr Bild in der Öffentlichkeit dringend geboten, zu alternative Lesarten auf die Religiosität von Menschen in Deutschland anzuregen.

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Foto: privat

Kristin Merle

Dr. Kristin Merle ist Professorin für Praktische Theologie an der Universität Hamburg. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehört das Thema Religion und Rechtspopulismus/-extremismus.


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