Die Nerven liegen blank!

Reflexhafte Reaktionen auf die KMU VI helfen nicht weiter
Foto: Christian Lademann

Atmet! Das möchte man dieser Tage mitten hineinrufen in die Flut erster Kommentare zur 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, vor allem da, wo reflexhaft vor falschen Schlüssen gewarnt wird, die aus der Untersuchung für die Kirche gezogen werden könnten. Augen zwinkernd möchte man hinzufügen: Beruhigt euch! Die KMU´s haben seit den 1970er-Jahren nie dazu geführt, dass überhaupt irgendwelche handlungsleitenden Konsequenzen für die Selbststeuerung der Kirche daraus abgeleitet wurden. Wir sind also vollkommen save.

Die breite Resonanz in diesen ersten Tagen nach der Präsentation von Ergebnissen auf der EKD-Synode in Ulm zeigt auch etwas von der Sehnsucht, dass das mit der KMU VI endlich anders wird. Und in der Tat tut die Kirche gut daran, endlich dieses empirische Großprojekt nicht nur als ein (teures) Symbol ihres Interesses an den Menschen zu begreifen, für die sie da ist, sondern es wirklich wahrzunehmen und vor allem dann auch nach den entsprechenden Handlungskonsequenzen zu fragen und diese dann beherzt umzusetzen. Letzteres war in der Vergangenheit der Schritt, der meistens ausblieb.

Irritierende Kritik

Um zu handlungsleitenden Konsequenzen zu kommen, ist zuerst eine präzise Wahrnehmung der Ergebnisse notwendig. Deshalb irritiert es umso mehr, dass die lauteste Warnung vor falschen Handlungskonsequenzen in den vergangenen Tagen aus den Reihen der theologischen Fakultäten zu vernehmen ist. Kristin Merle, Rainer Anselm und Uta Pohl-Patalong formulieren stantepede nahezu zeitgleich zum Erscheinen der Studie eine kritische Perspektive auf die KMU VI (Wie hältst du’s mit der Religiosität? | zeitzeichen.net). Problematisiert wird dabei vor allem der Fokus auf Säkularisierung und der damit einhergehende Zug mit dem Rückgang diffuser individualisierter Formen von Religiosität zu rechnen. Es wird davor gewarnt, dass diese verengte Perspektive zu einer kirchlichen Selbstbezüglichkeit führen könnte und zu einem Stillstand kirchlicher Reformen aufgrund einer reinen Orientierung an hochverbundenen Kirchenmitgliedern.

Dass diese Warnung gerade aus dem Bereich der theologischen Fakultäten erklingt, erscheint irritierend. Gerade in der theologischen Wissenschaft sollte doch eine Klarheit darüber herrschen, dass es zunächst mal um eine intensive und sorgfältige Wahrnehmung der Ergebnisse der KMU gehen muss, bevor richtige oder falsche Handlungskonsequenzen auf den Plan treten. Diese Entschleunigung ist ja gerade der Gewinn empirischer Forschung. Ohne Zweifel gehört dann auch eine saubere Kritik des Vorgehens der Studie und ihres Designs dazu. Wenn all dies geschehen ist, dann wird (und sollte auch!) nach handlungsgleitenden Konsequenzen gefragt werden.

Theologische Fakultäten auf dem Prüfstand

Mir scheint das vorschnelle Abheben auf mögliche falsche Konsequenzen aus der KMU VI von Merle, Anselm und Pohl-Patalong auch ein Symptom dafür zu sein, dass nicht nur in der Kirche die Nerven blank liegen, sondern auch an den theologischen Fakultäten. Die multiplen Krisen der Kirchen führen zu einer ebenso weitreichenden Krise der theologischen Wissenschaft. Der Schwund theologischen Personals führt dazu, dass die Existenz theologischer Fakultäten zutiefst auf dem Pfüfstand steht. Wie viel mehr muss da eine Studie zu Verunsicherung führen, die in den Augen ihrer Kritiker:innen das weite Feld gelebter Religion jenseits der Grenzen kirchlicher Religion scheinbar fraglich erscheinen lässt. Es ist gerade dieses Feld, auf dem vor allem die praktische Theologie in den vergangenen Jahrzehnten ihre vorrangigen Phänomenfelder gefunden hat, während es zwischen Kirche und Theologie zu einer großflächigen Ablösung gekommen ist, die gegenwärtig für beide Seiten zum Problem wird.

Die KMU VI könnte ein Anlass sein, die Fühlung zwischen Kirche und Theologie wieder intensiver aufzunehmen. Das gelingt allerdings nicht mit vorschnellen Warnungen, sondern durch die behutsame Begleitung einer intensiven Wahrnehmung, die der wichtige erste Schritt ist, um anschließend gemeinsam nach handlungsleitenden Impulsen zu fragen. Diese Impulse müssen dann natürlich auch kirchenleitend umgesetzt werden.

Individuelle Sinndeutungen

Am Ende ist die Schwarz-weiß-Alternative zwischen Sakularisierungsthese und Individualisierungstheorem nicht das Entscheidende. Im gelingenden Fall wird das Forschungsdesign der KMU VI dazu führen, dass in den Reihen der Kirche endlich die Unumkehrbarkeit der Entwicklungen zu einem kollektiv geteilten Wissen wird. Das leistet der Fokus auf Säkularisierung. Über das Feld individualisierter Religion lässt sich auf dem Boden der Studie meiner Wahrnehmung nach kaum etwas sagen, sondern eher darüber, dass diese diffusen Formen von Religiosität  sich nicht von selbst an die Sprachspiele kirchlichen Christentums anschließen lassen.

Das bedeutet zunächst mal schlicht, dass gelebte Religion nicht das implizite Versprechen für die Kirche ist, gegen den Trend wieder zu wachsen. Dass die Kirche aber gut daran tut, sich auf die individuellen Sinndeutungen von Menschen einzustellen um gesellschaftlich sprach- und resonanzfähig zu bleiben, ist damit doch unbestritten. In diesem Sinne: Durchatmen, hinschauen, nochmal atmen, nochmal hinschauen, nach entstehenden Handlungsimpulsen fragen und dann beherzt handeln!

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Foto: Christian Lademann

Katharina Scholl

Dr. Katharina Scholl ist Studienleiterin am Evangelischen Studienseminar Hofgeismar. Zuvor war sie Gemeindepfarrerin in Hanau-Großauheim.


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