„Mit Gott und mir im Reinen“

Die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus ist heute zurückgetreten
Annette Kurschus
Foto: epd
„Ich bin mir im Reinen“ – Annette Kurschus erklärt ihren Rücktritt von ihren Ämtern (Bielefeld, 20.11. 2023).

Die EKD-Ratsvorsitzende und westfälische Präses Annette Kurschus ist von ihren kirchlichen Leitungsämtern zurückgetreten. Der Grund dafür liegt in der zuletzt bundesweiten Diskussion über Fälle sexualisierter Gewalt in Siegen, wo Kurschus früher als Pastorin tätig war. Eindrücke aus Bielefeld heute und aus den vergangenen Tagen.

Stille. Totale Stille herrscht an diesem Vormittag im Großen Saal des Landeskirchenamtes der Evangelischen Kirche von Westfalen am Altstädter Kirchplatz in Bielefeld. Ein Podium ist aufgebaut. Etwa 40 Medienvertreter, dazu ein, zwei Dutzend Mitarbeitende der Landeskirche sind versammelt, als Annette Kurschus durch den Seiteneingang vom Hof in den Raum kommt, um eine Erklärung abzugeben, die am Freitagabend angekündigt worden war. Die Theologin will sich erklären zu den Vorwürfen gegen ihre Person, die seit gut einer Woche zunächst durch wenige Medien, aber seit dem Wochenende durch die ganze Republik waberten (Näheres siehe unten).

Ihre Stimme ist fest, wenn auch eine hintergründige Brüchigkeit die Belastung der vergangenen Tage anmerken lässt, als sie sagt: „In der Sache bin ich mit mir im Reinen. Ich habe zu jeder Zeit nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.“ Aber seit einer Woche sei „in der Öffentlichkeit ein Konflikt geschürt“ worden, und zwar zwischen „Betroffenen sexualisierter Gewalt und mir als Amtsträgerin“. Diesen Konflikt wolle sie, Kurschus, „auf gar keinen Fall austragen“... Denn dies könne die „Erfolge“ gefährden, „die wir in der Aufarbeitung und Bekämpfung sexualisierter Gewalt gemeinsam mit Betroffenen in vielen Jahren errungen“ haben.

Kurschus beklagt sich, dass ihr „aufrichtiges Bemühen darum, Persönlichkeitsrechte zu schützen“ als „mangelnde Transparenz“ kritisiert werde. Dabei ist es ihr wichtig zu betonen: auch „beschuldigte Menschen und deren Familien sind und bleiben Personen mit Rechten!“ Niemals sei es ihr, Kurschus, darum gegangen, „mich aus der eigenen Verantwortung zu stehlen, wichtige Fakten zurückzuhalten, Sachverhalte zu vertuschen oder gar einen Beschuldigten zu decken.“

„Eine derartige Eigendynamik“

Doch inzwischen habe die Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit „öffentlich eine derartige Eigendynamik entfaltet“, dass eine „absurde und schädliche Verschiebung“ eingetreten sei. Es gehe nun, so Kurschus „statt um die Betroffenen und ihren Schutz seit Tagen ausschließlich um meine Person“. Das müsse aufhören, da sie die „Aufmerksamkeit (…) von den Betroffenen und von der Aufklärung des Unrechts, das ihnen angetan wurde, abziehe“. Dabei gehöre „diese Aufklärung“ in den Fokus. Und deshalb trete sie „mit sofortiger Wirkung“ von ihren Ämtern zurück. Dies falle ihr „nicht leicht“, und sie habe den Schritt „reiflich geprüft“. Sie hätte sich „gern … noch mehr Zeit“ für diese Prüfung gelassen, aber da schon in wenigen Tagen die Synode ihrer Landeskirche beginne, müsse für die weiteren Planungen „Klarheit herrschen“.

Zum Abschluss ihrer Erklärung sagt Kurschus, sie wisse, dass über ihre Entscheidung zum Rücktritt viele Menschen „vor allem in meiner westfälischen Landeskirche“ enttäuscht seien. Viele hätten sie gebeten zu bleiben, aber: „Es geht nicht.“ Wichtig ist es Kurschus, am Schluss noch zu sagen: „Mit Gott und mir selbst bin ich im Reinen, und so gehe ich sehr traurig, aber getrost und aufrecht.“

Nach der etwa siebenminütigen Ansprache (hier der ganze Wortlaut) verlässt die zurückgetretene Kurschus unter dem Applaus vieler Mitarbeitenden den Saal durch den Seiteneingang, durch den sie gekommen war.

„Schwarzer, schwerer Tag“

Kurz nach der Abschiedsrede werden im Ticker Presserklärungen des Betroffenenbeirates der EKD veröffentlicht, sowie eine gemeinsame Erklärung der Synodenpräses Anna-Nicole Heinrich und Kirsten Fehrs, der Stellvertretenden Ratsvorsitzenden. In den Erklärungen wurde der Schritt von Kurschus gewürdigt, besonders im Blick darauf, dass die neu aufgestellte Arbeit des Betroffenenbeirats der EKD nun intensiv weiter geführt werden müsse.

Dies könnte theoretisch schon auf der Fortsetzung der EKD-Synode geschehen, die wohl in wenigen Wochen per Videokonferenz stattfinden wird. Ob eine Wahl stattfindet scheint wegen des kurzen Vorlaufs zwar unwahrscheinlich, aber es gehört zu den vielen Fragen, zu denen wenige Stunden nach dem Rücktritt einer Ratsvorsitzenden noch nicht viel gesagt werden kann.

Nach dem Abgang der zurückgetretenen Präses sagte Ulf Schlüter, der als Theologischer Vizepräsident nun anstelle von Kurschus zunächst die geistliche Leitung der Westfälischen Landeskirche übernimmt, es sei ein „schwarzer, schwerer Tag für die ganze evangelische Kirche“, dessen Folgen noch lange spürbar sein werden. Allerdings sei der Rücktritt in dieser verworrenen Lage die richtige Lösung gewesen.

Ulf Schlüter
Foto: Reinhard Mawick

„Schwarzer, schwerer Tag für die evangelische Kirche.“ Ulf Schlüter, theologischer Vizepräsident der EKVW (Bielefeld, 20.11. 2023).
 

Durch den Rücktritt von Annette Kurschus – nach exakt 740 Tagen im EKD-Amt und nach gut elf Jahren als leitende Geistliche der westfälischen Landeskirche – amtiert seit heute die Stellvertretende Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs, die Bischöfin der Nordkirche im Sprengel Hamburg und Lübeck, als kommissarische Ratsvorsitzende.

Ob auf dieser Fortsetzung der abgebrochenen Synodaltagung gleich eine neue Wahl des Ratsvorsitzes und des stellvertretenden Ratsvorsitzes erfolgen wird, ist denkbar, aber formal nicht notwendig. Denn die Amtszeit der nun amtierenden kommissarischen Ratsvorsitzenden Kirsten Fehrs gilt nach dem Rücktritt von Annette Kurschus bis zur Herbstsynode der EKD im Jahre 2027 - oder eben solange, bis die zuständigen Organe der EKD, Synode und Kirchenkonferenz, zuvor erneut Wahlen ansetzen. Formal befindet sich die 13. Synode der EKD ja nach dem Abbruch der Ulmer Tagung am vorgestrigen Mittwoch aufgrund des Bahnstreikes noch mitten in ihrer 4. Tagung. Es war ja schon angekündigt worden, die Beratungen per Videokonferenz baldmöglichst wieder aufzunehmen. Der Grund: Es müssen noch wichtige Gesetzesvorhaben und Beschlüsse verabschiedet werden.

Kirsten Frehrs
Foto: epd

Die Hamburgische Bischöfin Kirsten Fehrs, hier auf der EKD-Synode in Ulm im November 2023, amtiert nach dem Rücktritt von Annette Kurschus als kommissarische Ratsvorsitzende der EKD.
 

Fraglos wird diese Entscheidung das Innenleben der Evangelischen Kirche in Deutschland noch lange beschäftigen, denn wie der Presse der vergangenen Tage zu entnehmen war, hat es wohl heftige Auseinandersetzungen zwischen dem Rat der EKD und seiner bisherigen Ratsvorsitzenden sowie Vertretern der westfälischen Landeskirche gegeben. Aber wie konnte das alles überhaupt passieren? Das Drama um Annette Kurschus fing Anfang dieses Jahres an, aber blieb damals noch weitgehend intern und nur wenigen bekannt: Die Theologin erfuhr davon, dass es Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen einen pensionierten Kirchenmitarbeiter gab. Sie beruhten auf einer offenbar anonymen Anzeige gegen den beschuldigten Mann. Es ging zunächst um übergriffiges Verhalten gegenüber volljährigen Männern, die zugleich jedoch im juristischen Sinne Schutzbefohlene des Beschuldigten waren.

Das Brisante daran: Kurschus war, wie sie auf der gerade zu Ende gegangenen EKD-Synode in Ulm erklärte, sehr gut mit dem Mann bekannt. Und noch schlimmer: Der „Siegener Zeitung“ liegen nach eigenen Angaben eidesstattliche Erklärungen vor, dass Kurschus schon Ende der Neunziger Jahre von den Beschuldigungen gegen den Mann erfahren habe, nämlich anscheinend während eines Gesprächs in ihrem Privathaus beziehungsweise in ihrem Garten. Damals war sie noch Gemeindepfarrerin in Siegen.

Sexuelle Handlungen

Nun sind Sex oder sexuelle Handlungen unter erwachsenen Männern keinerlei Straftat. Wenn allerdings ein Abhängigkeitsverhältnis dabei ausgenutzt wird, dann sieht die Sache anders aus. Und das gilt vor allem dann, wenn das Opfer einer Übergriffigkeit oder gar sexueller Handlungen minderjährig war. Genau das könnte nach einem Bericht der „Siegener Zeitung“ von Donnerstagabend der Fall sein: Es gebe Hinweise auf einen möglicherweise damals minderjährigen Betroffenen, heißt es, das habe die Staatsanwaltschaft Siegen der Zeitung bestätigt - auch wenn die Taten wohl eher in Richtung verbale Entgleisungen gegenüber dem seinerzeit Jugendlichen gingen. Genaueres ist derzeit nicht bekannt.

Das Ganze wird noch verschärft durch die kirchenpolitische und persönliche Fallhöhe und das gesellschaftliche Umfeld des Dramas um Kurschus: Dreizehn Jahre nach Beginn der zaghaften Aufklärungsversuche über sexualisierte Gewalt in den katholischen Bistümern samt vielen Verzögerungen, Rückschlägen und Vertuschungen kommt die Aufarbeitung in der Evangelischen Kirche in Deutschland nämlich nun ernsthaft in Schwung. Das ist spät, aber vielleicht nicht zu spät. Die Opfer im Raum der protestantischen Landeskirchen zeigten sich in Ulm auf der Synode jedenfalls nach verheerenden Enttäuschungen nunmehr von der Kooperation mit der evangelischen Kirche recht zufrieden.

In wenigen Wochen wollen Kirche und Diakonie nach langer Vorarbeit eine Erklärung zur Aufarbeitung des Missbrauchs mit der im Auftrag der Bundesregierung tätigen „Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM)“, Kerstin Claus, unterzeichnen – Claus war selbst Opfer sexualisierter Gewalt im Raum der evangelischen Kirche. Im Januar kommenden Jahres soll eine große Studie zu den grundsätzlichen Bedingungen des Missbrauchs in den Landeskirchen erscheinen. Und die Sache hat neben der guten Bekanntschaft von Kurschus mit dem Beschuldigten noch eine weitere persönliche Note: Kurschus verkündete vor zwei Jahren bei Amtsantritt als Ratsvorsitzende, Aufklärung sei beim Thema sexualisierte Gewalt nun „Chefinnensache“.

„Keine Kenntnis von den Taten“

Auf der EKD-Synode erklärte sich die Ratsvorsitzende vor den Synodalen zu den Anschuldigungen ihr gegenüber – Vergleichbares hatte es noch nie gegeben. Kurschus sagte, sie habe bei dem ominösen Gespräch Ende der Neunziger Jahre "keine Kenntnis von den Taten" des Beschuldigten erhalten. Ihrer Erinnerung nach sei es bei dem Treffen nur um die Homosexualität des Beschuldigten gegangen, was damals im ziemlich konservativ-frommen Landstrich noch ein ziemlicher Aufreger war. Es sei nicht um die mutmaßlichen Taten gegangen, aber sie „prüfe“ sich und ihre Erinnerung da.

Für diese weitgehend frei vorgetragene Erklärung der Ratsvorsitzenden gab es höflichen Beifall von vielen Synodalen. Später glaubten einige Synodale vor der Presse klarstellen zu müssen, dass sie nicht geklatscht hätten. So äußerte sich auch Anna-Nicole Heinrich, seit 2021 Präses der Synode der EKD. Schon dies konnte am vergangenen Mittwoch als eine Form der Distanzierung von Kurschus gewertet werden.

Sehr unterschiedliche Presseeinladungen

Und spätestens, als am Freitagabend aus Bielefeld und Hannover zwei sehr unterschiedliche Presseeinladungen für den heutigen Termin verschickt wurden, war für mit der Materie Vertraute klar, dass die Dinge zwischen der Landeskirche und der Zentrale der EKD in Hannover nicht zum Besten stehen. Ein Kurschus stützender Artikel eines des ehemaligen NRW-Verfassungsrichters und Mitglieds der westfälischen Kirchenleitung, Michael Bertrams, im „Kölner Stadtanzeiger“ verstärkte den Eindruck gegensätzlicher Lagebewertungen zwischen Hannover und Bielefeld. Nun hat der Rücktritt von Annette Kurschus von beiden Ämtern die Sache zwar erstmal geklärt. Aber es bleiben bei diesem Rücktritt viele Fragen offen, die zumindest an diesem Tag noch nicht geklärt werden können. Es bleibt spannend, und es stellt sich die Frage, ob die „Evangelischen Chaostage“ mit denen die FAZ in ihrer heutigen Ausgabe einen Artikel überschrieb, schon vorüber sind.

Annette Kurschus
Foto: epd

Annette Kurschus auf dem Weg zu ihrer Rücktrittsrede in Bielefeld am 23.11. 2023

 

 

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