Den Vereindeutigern misstrauen

Warum wir trotz allem an Versöhnung glauben sollen
Foto: Rolf Zöllner

Wie ein fremdartiges Mahnmal ragt der Turm der Ruine der ehemals monumentalen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in den Abendhimmel. Von außen, mitten im Lärm der Großstadt, der graue Beton der 1960er- Jahre, von innen aber ein einziges stilles Meer in Blau. Überwältigend. Wie realistisch waren die Menschen, die damals, kaum zehn Jahre nach dem Krieg, diesen „hohlen Zahn“ einfach stehen ließen! Nicht zukleisterten mit Nierentisch-Romantik und Vergessen-Wollen. Ku’Damm 56. Sie müssen – selbst noch ganz unter dem Eindruck der Furchtbarkeiten stehend – geahnt haben, dass es Jahrzehnte später ein solches Nebeneinander, ein Denk-Mal, Innehalten, ein angenagtes Fragment weiterhin braucht.

Betrachte ich das vergehende Jahr, dann sehe ich, wie tödlich die Schuld und der Schrecken des Ersten und Zweiten Weltkriegs, die Shoa mit ihrem Grauen fortwirkt. Der Krieg kam zurück, mitten nach Europa und nun noch dieser furchtbare Zivilisationsbruch der Hamas im „Heiligen Land“ Israel! „Gehasst wird ungenau“, erinnert uns die Publizistin Carolin Emcke. Oder – anders ausgedrückt: Immer dann, wenn ich mir zumute genau hinzuschauen, hinzuhören, wächst mein Verständnis für den jeweils anderen gerade mit seinen Selbstwidersprüchen, mit dem Unfertigen und den Ambivalenzen. Wächst mein Verständnis, die im Wortsinn notwendige Voraussetzung für Versöhnung. Je genauer ich mich auf den anderen einlasse, desto mehr bewahrheitet sich der alte Satz Martin Bubers: „Er ist wie Du.“

Man könnte das Gebot der Nächstenliebe, das der hebräischen Bibel entstammt, mühelos erweitern und umdeuten zu dem Satz: „Lerne den Nächsten verstehen wie dich selbst.“ Die barbarisch-dämonische Macht des Hasses lebt von der unzulässigen Verallgemeinerung, sie bleibt stets konturenlos. Nie unterzieht sie sich der Mühe solchen Verstehen-Wollens. Und umgekehrt: Wo Verständnis, ja Respekt wachsen, da wächst auch die Kraft, von der dieses Heft handelt. Die Humanität und Frieden ermöglichende Kraft der Versöhnung.

Es gibt bis heute – zugegeben oft fragile – Versöhnungsprozesse, auch zwischen verfeindeten Nationen und Gruppen, bei denen das tatsächlich gelungen ist. Immer gefährdet zwar, aber gelungen. Ich denke an den Kniefall Willy Brandts im Warschauer Ghetto (siehe Seite 32) und an das Wunder der Aussöhnung zwischen den Erbfeinden Frankreich und Deutschland durch Adenauer und de Gaulle: Vielfältige Partnerschaften wurden bis in die kleinsten Dörfer gegründet. Darum treffen sich Menschen aus Sechshelden im Dillkreis und Plombières-lès-Dijon bis heute. Nach dem Krieg sprachen sie noch nicht einmal die jeweils andere Sprache!

Das möchte ich mir im Dezember 2023 groß in meinen Kalender schreiben: Misstraue den furchtbaren Vereindeutigern. Schau weiter genau hin und höre genau zu, achte die Widersprüche und lass dir die Hoffnung nicht nehmen. Lass uns weiterarbeiten für mühevolles Verstehen, Eingeständnis auch des eigenen Versagens auf dem Weg zur Versöhnung. Manchmal hilft mir dabei, mich einfach selbst zu unterbrechen – mich still in eine Kirche zu setzen und nach vorne zu schauen. 

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Foto: Rolf Zöllner

Ulrich Lilie

Ulrich Lilie (geboren 1957) studierte evangelische Theologie in Bonn, Göttingen und Hamburg. Bis 2011 arbeitete er unter anderem als Krankenhausseelsorger mit dem Zusatzauftrag der Leitung und Seelsorge im Hospiz am Evangelischen Krankenhaus Düsseldorf. 2011 übernahm Lilie den Theologischen Vorstand der Graf-Recke-Stiftung in Düsseldorf. Seit 2014 ist er Präsident der Diakonie Deutschland.


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