Die Welt in einer Nussschale

Der Weltgebetstag 2024 aus Palästina lädt ein zum gemeinsamen Gebet in Kriegszeiten
Christen und Christinnen feiern an Himmelfahrt 2023 gemeinsam Gottesdienst auf dem Ölberg.
Foto: zeitzeichen
Christen und Christinnen feiern an Himmelfahrt 2023 gemeinsam Gottesdienst auf dem Ölberg.

Die Menschen in Israel haben einen Terroranschlag erlebt, der darauf zielte, so viele Juden wie möglich zu ermorden und den Staat Israel zu vernichten. Dieser neue Ausbruch der Gewalt und das Leiden in der Region verändern auch die Situation, in der der Weltgebetstag der Frauen gefeiert werden wird. Simon Kuntze, evangelischer Theologe und Nahostreferent im Berliner Missionswerk, beschreibt die Schwierigkeiten.

Der ökumenische Weltgebetstag (WGT) der Frauen wird jedes Jahr von Frauen aus einem anderen Land vorbereitet. Frauen aus diesen Ländern schreiben die Liturgie des Gottesdienstes in ihrer Sprache. Und das internationale Komitee veranlasst die Übersetzungen. Die Länderkomitees kümmern sich um die Umsetzung in ihren Ländern. Manche, wie in Deutschland, stellen Begleitmaterial zur Verfügung. In den einzelnen Gemeinden, Dekanaten und Kirchenkreisen bemühen sich Beauftragte um die inhaltliche Vorbereitung und die Durchführung der Gottesdienste. Dann, jeweils am ersten Freitag im März, in zeitlicher Nähe zum internationalen Frauentag am 8. März, finden diese Gottesdienste weltweit statt. Ein gemeinsames Gebet geht um die Welt, ein Gottesdienst wird an einem Tag international gemeinsam gefeiert – ein Zeichen der ökumenischen Verbundenheit der Christen und der Menschen verschiedener Länder; die Umsetzung lebt vom Engagement Vieler, die in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen ihr Christentum und die Botschaft Jesu Christi leben.

„Ertragt einander in Liebe“ lautet das internationale Motto des Weltgebetstages aus Palästina, der am 1. März 2024 weltweit gefeiert werden soll. Bereits um den Titel gab es in Deutschland im Juni 2023 Diskussion. Das deutsche Weltgebetstagskomitee in Stein (Landkreis Fürth) entschied, dass dieser vom internationalen Komitee vorgegebene Bibelvers ungeeignet sei, und wählte einen anderen Halbvers aus demselben Bibelabschnitt als Motto: „Das Band des Friedens.“ Bei manchen Aktiven in den Kirchengemeinden sorgte diese Entscheidung für Ratlosigkeit. Denn die vorgesehene Liturgie aus Palästina nahm auf das ursprüngliche Motto mehrfach Bezug, so dass nun Titel und Ablauf des vorbereiteten Gottesdienstes nicht mehr recht passten.

Auf Nachfrage wurde die Änderung damit begründet, dass der ursprüngliche Titel missverstanden werden könne als Appell an die Palästinenser*innen, ihre Situation schlicht zu ertragen und sich endlich nicht mehr zu wehren. Bereits bei dieser Diskussion zeigte sich: Es wird kompliziert, ganz sicher komplizierter als bei den WGT aus anderen Ländern.

Komplizierte Lage

An wen richtet sich der Appell aus dem Epheserbrief in diesem neuen Zusammenhang der Weltgebetstagsliturgie für das Jahr 2024? Diese Frage wird im Zusammenhang Israel-Palästina sehr schnell sehr direkt auf die politische Situation in Nahost und den Konflikt zwischen jüdischen Israelis auf der einen und christlichen und muslimischen Palästinensern oder arabischen Israelis heruntergebrochen und so leider auch ihrer Fruchtbarkeit und Anwendbarkeit beraubt. Wo jedes geistliche Wort zur politischen Standortbestimmung wird, die falsch oder richtig ist, verkommt jeder Gottesdienst rasch zu einem Streitobjekt.

Palästina – an dem Wort kleben wie Pech und Schwefel Assoziationen von Krieg, Besatzung, Terror und Antijudaismus. Dennoch gibt es in Deutschland wie überall in Europa viele gutwillige Palästinafreunde, die aber selber meist dieses Land einzig als Problemfall wahrnehmen, dem zu helfen ist, oder das es zu retten gilt – in der Regel vor dem Aggressor Israel. Den einen gilt deshalb diesem Land ihre unbedingte Solidarität. Die anderen nehmen das Wort Palästina nicht einmal in den Mund.

Die Unbedingtheit der Auseinandersetzungen sowohl in Israel-Palästina selbst als auch in der diese beiden Völker umgebenden Welt hat auch mit dem kollidierenden Opferstatus dieser beiden Nachbarn und Gegner zu tun. Wer für Israel eintritt, tritt meist nicht nur für das selbstverständliche Recht ein, den eigenen Staat zu erhalten und mit Gewalt gegen Gegner zu schützen; sondern zudem gegen den Antisemitismus, der sich in der massiven Gewalt der Hamas Bahn bricht. Und wer für das selbstverständliche Menschenrecht der Palästinenser eintritt, sich frei bewegen zu dürfen, nicht länger unter einer Besatzung leben zu müssen, und wenn unter einer Besatzung, dann nicht benachteiligt und drangsaliert, der findet sich in einem Diskursraum wieder, in dem es nicht allein um das allgemeine Völkerrecht geht, sondern daneben auch um westlichen Kolonialismus und die Legitimität eines jüdischen demokratischen Staates im Nahen Osten.

So findet gerade in der Wahrnehmung Vieler nicht einfach ein Krieg zwischen zwei Völkern statt, die um Land und Ressourcen und die Möglichkeit zu einem guten Leben streiten – es geht um weit mehr, um Rassismus und Genozid, Antisemitismus und Apartheid, Kolonialismus und Völkerrecht; das Leiden und die Ungerechtigkeit der Welt in einer Nussschale. Die Gespräche zum Konflikt und Krieg in Israel-Palästina sind oft klischiert und überraschungsfrei. Sie werden meist mit einer Vehemenz geführt, die keine sensible Argumentation mehr zulässt. In Deutschland ist die Diskussion besonders sensibel, immer vor dem historischen Hintergrund der durch Deutsche verantworteten Shoah. Der Vorstand des WGT-Komitees in Deutschland erfährt gerade die Schärfe der Diskussion um Israel, Palästina und die besondere deutsche Verantwortung gegenüber dem Staat Israel. Nach dem 7. Oktober wurde neu auf die Texte der Liturgie selbst und auf das für den deutschen WGT zur Verfügung gestellte Vorbereitungsmaterial geblickt. Die Menschen in Israel haben einen Terroranschlag erlebt, der darauf zielte, so viele Juden wie möglich zu ermorden und den Staat Israel zu vernichten. Dieser neue Ausbruch der Gewalt, das Leiden in der Region und das Aufleben eines eliminatorischen Antisemitismus verändern auch die Situation, in der der WGT vorbereitet und gefeiert werden wird. Eine Diskussion dazu ist notwendig. Überrascht hat jedoch, dass anscheinend zwischen dem deutschen WGT-Vorstand und den Frauen aus Palästina, die die Liturgie vorbereitet haben, kein Gespräch stattfand, um sich über die notwendigen Schritte abzustimmen.

Die Leiterin des palästinensischen Weltgebetstagskomitees und Pfarrerin der Evangelisch-Lutherischen Kirche Jordaniens und des Heiligen Landes (ELCJHL), Sally Azar, versandte am 15. November einen öffentlichen Brief an den Vorstand des deutschen WGT-Komitees: „Gestern wurden wir darauf aufmerksam, dass das Deutsche Weltgebetstagskomitee eine Erklärung auf seiner Website veröffentlicht hat, in der das Komitee beschlossen hat, das Programm des Weltgebetstags 2024 für Palästina aufgrund ungenannter Bedenken hinsichtlich des Antisemitismus zu überarbeiten. Wir sind überrascht und bestürzt über diese Entscheidung, insbesondere wenn man bedenkt, dass seit Jahresbeginn mehrere Veranstaltungen und Treffen sowohl in Jerusalem als auch online mit verschiedenen Weltgebetstag-Gruppen aus Deutschland und dem Nationalkomitee stattgefunden haben. In all unseren Diskussionen wurde nie von problematischen Punkten in der Gebetsordnung gesprochen; alle haben sie befürwortet und unterstützt. Es ist enttäuschend zu erfahren, dass plötzlich alles anders interpretiert wird.“

Verletzte nationale Würde

Was war passiert? Das deutsche WGT-Komitee hatte sich dazu entschlossen, das deutsche Begleitmaterial zum WGT, das teilweise für Ungenauigkeiten und implizite Antisemitismen kritisiert wurde, zu überarbeiten; die Liturgie sollte nach der geänderten Lage seit den Anschlägen der Hamas und dem Krieg in Israel-Palästina neu bedacht werden; das Bild zum WGT der Künstlerin Halima Azar wurde erst einmal zurückgezogen, nachdem Vorwürfe laut wurden, dass die Künstlerin sich unterstützend zu dem Massaker der Hamas geäußert habe. All dies waren richtige und nachvollziehbare Schritte. Auch wenn nicht alle eilig geäußerte Kritik verständlich war. Wie zum Beispiel die am Motiv des Schlüssels im WGT-Bild von Halima Aziz. Die Erinnerung an die Nakba, die Vertreibung von 750 000 Palästinenser*innen 1948 und die Sehnsucht nach Rückkehr, wie sie durch die Schlüssel auf dem Bild zum Ausdruck kommt, gehört für die meisten Palästinenser*innen zu ihrer Identität. Dies ist zunächst nicht Ausdruck von Antisemitismus, sondern von verletzter nationaler Würde.

Richtig ist jedoch, dass diese Erinnerung an eine verlorene Heimat und das Beharren auf Rückkehr einer versöhnenden Haltung im Weg stehen kann. In Deutschland erinnern sich manche noch an die Diskussion um die Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg; ihr Anspruch auf ihre frühere Heimat in Schlesien und Pommern machte lange eine Versöhnung zwischen Polen und Deutschland sehr schwer. Es war damals ein befreiendes kirchliches Wort – die sogenannte Ostdenkschrift der EKD von 1965 –, das einen Weg für eine neue Ausrichtung der deutschen Politik bahnte und letztlich zu einer entspannteren und versöhnlicheren Beziehung zwischen Polen und Deutschen beitrug. Nun ist die Situation der Palästinenser nicht gut vergleichbar mit der Situation der deutschen Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Palästinenser*innen haben keinen Angriffskrieg gegen ihre Nachbarländer geführt. Sie haben keine Schuld auf sich geladen, die ihre Vertreibung gerechtfertigt hätte. Aber sie stehen vor einer ähnlichen Aufgabe: Wie kann trotz und mit der Erinnerung an dieses Leid das Verhältnis zum Staat Israel und zu den jüdischen Israelis entspannt werden – um des Friedens und des sicheren Zusammenlebens willen?

Israel auf der anderen Seite ist kein kolonialistischer Staat, der eine Bevölkerungsgruppe auf Grund einer rassistischen Motivation benachteiligt – er ist in diesem Sinne kein Apartheidsstaat. Der jüdische Staat Israel hätte die vergangenen Jahre wohl nicht überstanden, wenn er sich nicht gegen die Angriffe der arabischen Nachbarstaaten und der Palästinenser zur Wehr gesetzt hätte. Das Sicherheitsinteresse Israels legitimiert jedoch nicht das Unrecht, das Palästinenser*innen in der Westbank widerfährt. So lange die Westbank durch Israel besetzt bleibt, trägt der Staat Israel auch die Verantwortung für das Wohlergehen und die Sicherheit der Menschen in diesem Landstrich. Dieser Verantwortung kommt die israelische Regierung aktuell nicht nach.

Die aktuelle Situation in Israel und Palästina kann, soll und wird in den Kirchengemeinden weltweit zur Sprache kommen. Deshalb war der Stopp des deutschen Vorbereitungsmaterials nachvollziehbar. Dass er anscheinend nicht mit den Frauen in Palästina abgestimmt war, ist jedoch bedauerlich. Mittlerweile gibt es Gespräche zwischen dem deutschen und dem palästinensischen Weltgebetstagskomitee. Das deutsche Komitee trägt die Verantwortung für die Vorbereitung der Gottesdienste in Deutschland. Dazu gehört auch, durch vorbereitendes Material und die Begleitung durch Workshops und Gespräche dafür zu sorgen, dass die Gemeinden und Kirchenkreise in den Stand gesetzt werden, die komplizierte Thematik des Nahostkonfliktes einzuordnen, und nicht den kurzschlüssigen und sehr einseitigen Argumentationen zu folgen, die es mittlerweile auch in die Tagespresse schaffen.

Diese Aufgabe ist herausfordernd. Das liegt nicht allein am Krieg, der am 7. Oktober 2023 begann. Auch zum WGT 1994 aus Palästina gab es sehr ähnliche Diskussionen um die Liturgie, die Frauen aus Palästina vorbereitet hatten. Auch damals ging es manchen darum, dass das Leiden der Palästinenser*innen unter der israelischen Besatzung zur Sprache kommt; andere erkannten in der Liturgie Theologumena, die anti-jüdische Topoi aufnahmen.

Die Gefahr des theologischen und denkerischen Kurzschlusses führte damals wie heute zu Debattenengpässen, durch die kaum einer mehr die furchtbare menschliche Situation in Israel und Palästina wahrnahm. Das ist vielleicht die größte Tragik an diesem Konflikt: dass es relativ leicht zu fallen scheint, rechthaberische Meinungsartikel zum Nahostkonflikt zu schreiben; aber dass es so schwer ist, schlicht mitzuleiden mit den Menschen, die in der Westbank und im Gazastreifen schon lange unter schwierigen Bedingungen leben; und ebenso mitzuleiden mit den Menschen in Israel, deren Sicherheit seit Jahrzehnten durch Terroranschläge und Raketenangriffe bedroht ist. Denn jedes Mitleiden scheint daneben auch politische Positionierung zu sein.

So werden viele angesichts der Trauer um die Tausenden Toten sprachlos oder vorwurfsvoll. Diese Sprachlosigkeit erleben wir hier in Deutschland. Doch sie ist in extremerer Form auch in der Kriegsregion gegeben.

In Israel wurden über 50 Personen als Sympathisanten einer Terrororganisation inhaftiert, weil ihre Posts in den sozialen Medien so verstanden werden könnten, dass sie den Terroranschlag der Hamas gutheißen. Israelische Siedler greifen seit dem 7. Oktober verstärkt palästinensische Dörfer an und vertreiben Einwohner. Die israelische Menschenrechtsorganisation „Yesch Din“ berichtete von 225 Angriffen gegen 93 palästinensische Gemeinschaften in dieser Zeit. Aber auch gewaltbereite Palästinenser attackieren regelmäßig israelische Sicherheitskräfte und Siedler.

In der Westbank gab es bereits vor dem Krieg eine starke „Anti-Normalisierungs-Kampagne“ in der palästinensischen Gesellschaft, die gegen jede Form des Dialogs zwischen jüdischen Israelis und Palästinensern stritt. Mittlerweile ist diese Haltung allgegenwärtig. Dort erfordert es Mut, offen Position für den Dialog mit jüdischen Israelis zu beziehen. Es führte bereits zu Drohungen gegenüber einem Lehrer in den sozialen Medien, der im Unterricht den Namen des Staates Israel nannte und somit sein Existenzrecht anerkannte. Auch ein in der Westbank geplantes Gedenken an alle getöteten Zivilisten in diesem Krieg führte zu Protesten, weil damit auch Israelis als zivile Opfer anerkannt werden – sie dürfen und sollen jedoch nur als Aggressoren benannt werden. Das Gedenken für alle Opfer wurde von den palästinensischen Behörden vor Ort schließlich unterbunden.

Ermahnung zur Toleranz

„Miteinander reden“ ist in diesen Kriegszeiten wichtig. In Israel und besonders in Palästina gibt es dafür aktuell hohe Hürden und auch Risiken. Die Menschen, die in der Region für den Dialog engagiert sind, fragen deshalb nach internationaler Unterstützung bei dem weiterhin bestehenden regionalen Engagement für Versöhnung. Allein, so sagen Engagierte wie Regula Alon von der israelischen Friedensorganisation Women Wage Peace oder die palästinensische Friedensaktivistin Sumaya Farhat-Nasser, ist diese Aufgabe nicht zu lösen.

Die Vorbereitung des WGT bringt Menschen weltweit dazu, miteinander über ihren Glauben, ihre Werte und ihre Hoffnungen zu sprechen. Der WGT kann eine wichtige Rolle dabei spielen, dass Menschen sich trotz ihrer unterschiedlichen Erfahrungen und Lebenszusammenhänge besser verstehen. Vielleicht auch begreifen, was sie aneinander nie ganz verstehen werden. Es wäre tragisch, wenn der Weltgebetstag 2024 in Erinnerung bleibt als spaltendes Moment für Christen.

„Ertragt einander in Liebe“. Der Autor der Zeilen dachte nicht daran, bei jüdischen Israelis und christlich-muslimischen Palästinensern um ein friedvolles Miteinander zu werben. Im Epheserbrief wurden zunächst einmal die Christen in Ephesus zu solcher Toleranz untereinander ermahnt. Wie Christen einander mit ihren verschiedenen Haltungen und Erfahrungen ertragen können, wird der Weltgebetstag 2024 zeigen. Und so auch, ob er ein Zeichen des Friedens setzt, oder einzig den Konflikt im sogenannten Heiligen Land spiegelt.

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