Wie fühlt sich Seligkeit an?

Der transsexuelle Pfarrer Sebastian Klee beschreibt, wie er zu dem wurde, der er ist
Paul Gauguin (1848–1903): „Die Vision nach der Predigt oder Der Kampf Jacobs mit dem Engel“, 1888.
Foto: akg
Paul Gauguin (1848–1903): „Die Vision nach der Predigt oder Der Kampf Jacobs mit dem Engel“, 1888.

Vierzig Jahre lang hatte er dieses Gefühl. Immer wieder glaubte er, er sei irgendwie falsch, ohne zu wissen warum. Immer wieder traf er auf Unverständnis oder Ablehnung, weil sein unbewusstes Verhalten nicht den Erwartungen entsprach, die man in sein weibliches Erscheinungsbild hineintrug. Erfahrungen und Reflektionen des transsexuellen Pfarrers Sebastian Klee aus der Landeskirche in Braunschweig.

Ich werde mich wohl immer an den Sonntagmorgen im Juni 2017 in der Lorenzkirche in Nürnberg erinnern. An den Gottesdienst, als mir klar wurde: Ich bin nicht Frau – ich bin Mann! Und ich kann und will und werde das leben. In dem Moment war die Erkenntnis da. Und mit ihr diese irre Mischung aus Erleichterung und Seligkeit – ich könnte die ganze Welt umarmen. Endlich – angekommen. Und gleichzeitig die ganzen Fragen: Was werden Mutter und Freund_innen sagen? Wie geht mein Leben jetzt weiter? Kann ich Pfarrer bleiben? Und dazwischen dieses einzigartige Gefühl: Wow – das bin ich, und ich bin so!

Männliche Puppe

Selig sind, die zu sich selbst gefunden haben, denn Gott hat sie so gemacht. Ich erinnere mich noch genauso gut an die eine Woche 40 Jahre vorher in der Kita, als alle Mädchen ihre Lieblingspuppe mitbringen durften. Ich stand vor dem Problem, dass ich überhaupt keine Puppe hatte. Notgedrungen kaufte mir meine Mutter eine, wir wollten nicht auffallen. Ich bestand darauf, dass es eine männliche Puppe sein musste. Die lag dann die ganze Woche in der Kita in einer Ecke, während ich auf dem Bauteppich fröhlich Türme und Häuser baute und zum Einsturz brachte. Als am Freitag derselben Woche die Jungen ihr Lieblingsstofftier mitbringen durften, hätte ich eine große Auswahl gehabt, aber ich wurde ja nicht als Junge gelesen. Mein bester Freund brachte seinen Hund mit, und wir hatten viel Spaß an dem Tag, nur dass ich am Ende der Woche mit dem Gefühl nach Hause ging: Etwas passt nicht. Worte oder Ideen hatte ich keine, auch niemanden, der mich in meiner Not verstehen konnte oder wollte.

40 Jahre lang hatte ich dieses Gefühl. Immer wieder spürte ich, ich bin falsch, ohne zu wissen, warum. Immer wieder traf ich auf Unverständnis oder Ablehnung, weil mein unbewusstes Verhalten nicht den Erwartungen entsprach, die man in mein weibliches Erscheinungsbild hineintrug. Es ist eine Erfahrung, die viele trans­idente und auch nichtbinäre Menschen bereits in ihrer Kindheit und Jugend machen. Und die tiefer geht als eine Verweigerung, sich gesellschaftlichen Rollenerwartungen an ein Geschlecht anpassen zu wollen. Es ist ein „Nicht-Können“, kein „Nicht-Wollen“.

Längst im Berufsleben angekommen ging ich zunehmend dazu über, in der Öffentlichkeit Frau zu spielen. In meinen Kirchengemeinden war ich fast ausschließlich von männlichen Kollegen umgeben. Die doppelte Irritation, „da ist eine Frau, das ist neu, aber die verhält sich gar nicht wie eine“, nahm ich wahr. Aber alle Versuche, damit konstruktiv umzugehen, waren zum Scheitern verurteilt. Ich konnte es nicht. Irgendwann fingen die Gemeinden an, sich damit zu arrangieren, und wenn dann mal eine Frau an meiner Seite arbeitete, die sie in sich stimmig erlebten, war es für alle Beteiligten oft eine Erleichterung. Selig sind, die sich nicht unterkriegen lassen von den Windungen und Brüchen des Lebens, Gott verspricht ihnen: Ich bin bei dir.

Als ich mich vor sechs Jahren auf den Transweg machte, konnte ich mir nicht vorstellen, wie andere Menschen reagieren werden, schon gar nicht im kirchlichen Umfeld. Darum wird mir und wohl auch meiner Gemeinde der 29. Oktober 2017 immer in Erinnerung bleiben. Jener Sonntag, als ich mich ihnen nach dem Gottesdienst erklärte und mich auf den öffentlichen Transweg aufmachte. Und ja, ich selbst habe in den Wochen und Monaten danach mein eigenes Weltbild neu definieren müssen und mich von Vorurteilen verabschiedet. Ich erfuhr eine sehr große Wertschätzung und Offenheit, die ich im Schatten des Würzburger Doms in einer Landgemeinde mit gerade einmal 10 000 Menschen nie und nimmer erwartet hätte. Der Grund war: Sie kannten mich. Abstrakt konnten sich zwar viele schwer vorstellen, was es bedeutet, transident zu sein. Aber bei mir, meinten viele, können sie sich das sehr gut vorstellen. Sie verstanden mich.

Und selig sind, die Gottes Vielfalt trauen, denn ihre Phantasie und Kreativität wird Tag für Tag genährt. Wie oft bin ich gefragt worden: Was sagt eigentlich Gott dazu, was die Bibel. Alles außer einem standardisierten heterosexuellen Leben sei doch Sünde. Und immer wieder frage ich mich selbst: Wer hat eigentlich damit angefangen, in Gott einen vollkommen kreativitätsbefreiten, einfallslosen Zeitgenossen zu sehen? Einen, der zwanghafte Ordnungssysteme braucht, der in der kosmischen Weltregierung den Job des Innenministers perfekt ausfüllen würde?

Sucht man nach biblischen Referenzerzählungen, so fallen drei Geschichten auf, in denen es um tiefgreifende Identitätswechsel oder auch inkongruente Geschlechtsidentitäten geht. Nach dem Kampf am Jabbok vollzieht Jakob einen fundamentalen Identitätswechsel. Von nun an ist er Israel. Kaum etwas erinnert mehr an seine Existenz als Betrüger und Flüchtiger, er wird zum Vater eines großen Volkes. Allerdings bezahlt er diesen Wechsel mit seiner körperlichen Unversehrtheit. Das Ringen mit Gott, mit der Vergangenheit, mit einem Leben im Falschen hinterlässt dauerhafte Spuren. Transidente Menschen kennen diese verlorene Unversehrtheit auf dem Weg zur körperlichen Angleichung, und gleichzeitig erleben viele: Ohne die Operationen und Eingriffe in den Körper geht es nicht.

Auch Paulus vollzieht einen fundamentalen Identitätswechsel, der tiefgreifend sein Leben ändert. Mit dem bisherigen will er nicht mehr viel zu tun haben und auch nicht unbedingt darauf angesprochen werden. So wie die meisten transidenten Menschen auch. Als ich im Juni 2017 in der Lorenzkirche saß und von einem Moment auf den nächsten endlich zu mir gefunden hatte, fehlte nur noch der Lichtstrahl, um mich wie Saulus vor Damaskus zu fühlen.

Als drittes Narrativ lohnt ein Blick auf die Josefsgeschichte. Josef fühlt sich in Kleidern wohl, er trägt sie gern zur Schau. Folgt man den hebräischen Formulierungen, wird deutlich, dass es sich um Frauengewänder handelt. Er wird von seinen Brüdern fast bis zum Tod abgelehnt, überlebt nur knapp. Wir wissen viel zu wenig über die Hintergründe der Geschichte, um eindeutig zu klären, ob es sich hier um eine Erzählung eines transidenten Menschen handelt oder nicht. Transidente Menschen erkennen sich in Josef wieder und schöpfen Hoffnung für ihren eigenen Lebensweg, in dem nach vielen Leiden, Ablehnung, Umwegen und Schmerz am Ende alles gut werden wird, wann auch immer dieses Ende gekommen sein mag.

Selig seid ihr, die ihr euch zeigt. Die ihr von euch erzählt. In eurem Erzählen liegt Segen. Denn durch euer Vorbild finden Menschen zu sich selbst. Finden sie den Mut für ihren Weg. Darf man Gott ins Handwerk pfuschen? Darf man in einen Körper medizinisch eingreifen, um mit ihm leben zu können? Richtigerweise wird diese Frage nicht gestellt, wenn die Hauptschlagadern bei Neugeborenen falsch gewachsen sind oder ihr Körper kein Insulin produziert. Darum sehe ich keine guten theologischen Gründe, die notwendigen Operationen transidenter Menschen infrage zu stellen, ohne die für die meisten kein sinnvolles Leben vorstellbar ist.

Auch die Medizin ist eine gute Gabe Gottes. Sie hilft bei Knochenbrüchen und Depression, bei defekten Herzklappen und Lungenentzündung. Und sie hilft transidenten Menschen aus der oft lebensfeindlichen Dysphorie zwischen Identität und körperlicher Verfasstheit.

Vermeintliches Wissen

Betrachtet man die Gott-Mensch-Beziehung in der Bibel differenziert, fällt auf, dass die körperliche Hülle dabei nahezu keine Rolle spielt (Jeremia 1,5). Vielmehr sind Beziehung, Haltung und Handeln wichtig. In 1. Korinther 15 geht Paulus so weit, dass die diesseitige Leiblichkeit vorläufig ist, endet, und ein neuer geistiger Leib entstehen wird. Auch hier zeigt sich, dass die körperliche Verfasstheit für die Gottesbeziehung und die Erlösung eines Menschen keine Rolle spielt. Folglich sollte sich Theologie auch aus der Frage heraushalten, ob der medizinische Transweg von Gott gewollt sein könnte. Der biblische Befund legt nahe, dass es für Gott keine Rolle spielt. Manche Menschen meinen, ganz genau zu wissen, was Gott eigentlich gedacht hat. Ich halte dieses vermeintliche Wissen für übergriffig, besonders dann, wenn es um das Leben anderer geht. Und die Zuwendung Gottes, seine Liebe, sein Mitgehen, hängt nicht an der äußeren Hülle eines Körpers, der vergänglich ist. Die Zuwendung gilt der Person, die immer mehr ist, als wir beschreiben können. Und selig sind, die Gottes Vielfalt trauen, denn ihre Phantasie und Kreativität wird Tag für Tag genährt. Nach den Seligpreisungen sagt Jesus einen sehr wichtigen Satz: Zeigt euch! Nicht verstecken, nicht klein machen. Seid Licht, seid Salz. Seid laut und zeigt euch. Menschenskinder, Gottes geliebte Söhne und Töchter. Mit dem, was ihr seid und braucht.

Selig seid ihr, die ihr euch zeigt. Die ihr laut seid. Die ihr von euch erzählt. In eurem Tun, in eurem Erzählen liegt Segen. Denn durch euer Vorbild finden Menschen zu sich selbst. Finden sie den Mut und finden sie Wegbegleiter_innen. Entgegen meinen ersten Befürchtungen habe ich seit meinem Outing 2017 nur sehr vereinzelt Ablehnung erlebt. Es überwiegt die Erfahrung, dass Menschen erleben, wie kongruent ich mit mir seitdem leben kann, weil ich endlich ich bin. Gerade in kirchlichen Kontexten bin ich auf viel Offenheit gestoßen, sei es in Gemeinden, bei leitenden Personen oder auch in den Personalabteilungen der Landeskirchenämter. Ich habe hier bereits erlebt, was die neueste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung VI bestätigt. Die Offenheit für queeres Leben ist viel breiter in der Mehrheit der kirchlich verbundenen Menschen etabliert, als es die verhärteten ablehnenden Postings in den Echokammern der Kommentarspalten sozialer Netzwerke vermuten lassen.

Geduld und Durchhaltevermögen

Gleichzeitig habe ich große Zumutungen und Härten auf dem Weg erfahren. Diskriminierende Gesetze und einengende medizinische Richtlinien fordern viel Geduld und Durchhaltevermögen. Nicht alle schaffen diesen Weg. Die Wartezeiten auf die verpflichtende Begleitpsychotherapie sind lang, in spezialisierten Kliniken betragen die Wartezeiten teilweise zwei Jahre und mehr. Die Gänge zu Gutachtern und Gerichten, Verhandlungen mit Krankenkassen bilden eine große Hürde. Viele transidente und intersexuelle Personen fürchten sich vor den Gesprächen. Letztlich müssen sich die Gutachter_innen auf die Selbsterklärungen verlassen. Weder Blutbild noch Gehirnscan noch Genanalyse können Transidentität oder Nichtbinärität ausreichend erklären. Und doch gibt es sie.

Ich wünsche mir, dass queere Menschen sich angstfrei auf den Weg machen können, der immer noch genug Klippen und Hürden bereithält. Es bleibt zu hoffen, dass das Selbstbestimmungsgesetz endlich Fortschritte mit sich bringt, auch wenn es nicht alle Probleme löst. Es wird viel Leid mildern und manchen Suizidversuch verhindern.

Ich warte auf den Tag, an dem wir nicht mehr erklären müssen, warum wir sind, wie wir sind. Sondern dass für alle Gottes wunderbarer Satz gilt: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleib gemacht habe. Du bist mein geliebtes Menschenkind. Selig sind, die zu sich selbst gefunden haben, denn Gott hat sie so gemacht. 

 

Hinweis
Sebastian Klee bekannte sich als bayerischer Gemeindepfarrer im Oktober 2017 öffentlich zu seiner Transidentität. Seit 2020 arbeitet er in der evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig. 2019 erschien im Claudius Verlag unter dem Namen Sebastian Wolfrum seine Autobiografie Endlich ich. Ein transsexueller Pfarrer auf dem Weg zu sich selbst.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kirche"