In Gott geborgen, als Mensch geboren

Eine weihnachtliche Legitimation des theologischen Anthropomorphismus
Arie "Flöß, mein Heiland" aus der Originalpartitur des Weihnachtsoratoriums
Ausschnitt Sopranarie BWV 248/IV: Flöß, mein Heiland

Für den heutigen Neujahrstag ist die vierte Kantate des Weihnachtsoratoriums von J.S. Bach vorgesehen („Fallt mit Danken, fallt mit Loben“). Der Text der zentralen Sopranarie, der sogenannten „Echo-Arie“, bringt den Greifswalder Theologen Henning Theißen zu überraschenden Erkenntnissen in Sachen Gotteslehre.

Die theologische Erkenntnis, dass von Gott auf mehrerlei Weise die Rede sein kann, ist beinahe so alt wie die Theologie selbst. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich eine Frage als besonders bedeutsam herausgestellt. Sie betrifft das Problem des Anthropomorphismus, d.h. der Rede von Gott in menschengestaltigen sprachlichen Formen. 

Kein Zweifel, theologisch widerspricht solche Rede den fundamentalen Einsichten des biblischen Glaubens an Gott und dem Monotheismus: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken“ (Jesaja 55,8-9). Andererseits offenbart sich dieser den Menschen himmelhoch überlegene Gott in dem Menschen Jesus von Nazareth, von dem der Kolosserbrief im Neuen Testament sagt: „Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (Kolosser 1,15).

Das Dilemma, das zwischen diesen beiden exemplarischen Bibelstellen besteht, hat sich spätestens mit der Aufklärung, die das Vermögen, aber auch die Grenzen der menschlichen Vernunft ans Licht gebracht hat, in das kollektive theologische Gedächtnis der Christenheit gegraben. Seither gilt der aufgeklärte Anthropomorphismus, mit dem F. Schleiermacher (1768-1834) die evangelische Theologie durch das Feuer der Vernunftkritik hindurch neubegründet hat, als Königsweg christlicher Rede von Gott: Zwar kann von Gott nicht direkt in menschlichen Formen gesprochen werden, doch spiegelt sich Gott oder das ‛Unendliche’, wie der junge Schleiermacher stattdessen sagte, in einem religiös bestimmten Bewusstsein von Menschen, so dass indirekt, auf dem Umweg über den menschlichen Bewusstseinsausdruck, sehr wohl anthropomorph von Gott gesprochen werden kann, nur dass die Beschränkungen, denen menschliches Bewusstsein unterliegt, für Gott, auf den dieses Bewusstsein bezogen ist, nicht anzunehmen sind.

Schleiermachers indirekte Ausdruckshermeneutik, für die alle Rede von Gott nach denselben Regeln auszulegen ist wie jede andere Rede, vermochte die Krise, in welche die Aufklärung vor allem den Offenbarungsanspruch der Theologie gestürzt hatte, mit großer Nachhaltigkeit für die Theologie der Moderne zu überwinden. Überraschend ist nur, dass sich in den Krisen, denen die moderne Theologie seitdem ausgesetzt gewesen ist, regelmäßig diejenigen Theologiekonzepte bewährt haben, die sehr direkt und scheinbar naiv von Gottes Offenbarung als Mensch ausgingen und unverdrossen davon redeten. 

Rigoros zugespitzte Theologie

Das gilt sogar schon für Schleiermacher selbst, der die Herleitung der indirekten Gottrede im berühmten Paragraphen 4 seiner ‛Glaubenslehre’ von 1830/31 gleichwohl mit einem fundamentalen Begriff von Offenbarung verknüpfte; es gilt aber vor allem für die Theologie Karl Barths (1886-1968), der in den Jahren, als Deutschland auf die nationalsozialistische Katastrophe zusteuerte, eine rigoros auf die Christusoffenbarung zugespitzte Theologie entwickelte, die sich vor der Herausforderung des Totalitarismus als das mit Abstand resilienteste Theologiekonzept des 20. Jahrhunderts erwies. Ihr wichtigstes Dokument ist die wesentlich auf Barth zurückgehende These I der Barmer Theologischen Erklärung (1934).

Natürlich drängt sich mit Macht die Frage auf, wie das sein kann: Der eine 
Theologe (Schleiermacher) entwickelt unter dem übermächtigen Krisendruck aufgeklärter Kritik ein indirekten theologischen Anthropomorphismus für die Moderne, der ausgerechnet in deren dunkelsten Zeiten von dem anderen Theologen (Barth) zugunsten einer direkten Rückkehr zur anthropomorphen Offenbarungstheologie zurückgestellt wird?! 

Die gegenwärtige Theologie hat eine Menge von Denkfiguren entwickelt, um die naiv erscheinende, aber erstaunlich krisenresiliente Rückkehr zum offenbarungstheologischen Anthropomorphismus zu begreifen. Von einem ‛Bruch’ im theologischen Reden sprach Barths Freund und Weggenosse Eduard Thurneysen; die amerikanische Barthforschung hat unter Rückgriff auf außertheologische Denkfiguren von ‛disruptive power’ gesprochen, die sich in solcher Gottrede zu Wort melde, und in „zeitzeichen“ hat jüngst Albrecht Grözinger in Aufnahme einiger Äußerungen von Ralf Frisch, die ebenfalls mit Barth, aber auch dem katholischen Konzilstheologen Karl Rahner verbindbare Metapher des „Oberlichts“, das auf die Theologie scheine, zu neuen Ehren gebracht

Ich möchte einen weiteren Versuch hinzufügen, der sich kirchenjahreszeitlich an einen in diesem Zusammenhang vielleicht ungewohnten Text anlehnt, nämlich die Kantate Nr. 4 aus Johann Sebastian Bachs „Weihnachtsoratorium“. Sie enthält – freilich avant la lettre – nicht nur Schleiermachers und Barths Problemrekonstruktionen in sich, sondern auch einen dritten Weg, der das augenscheinliche Dilemma beider zu überwinden erlaubt, indem er das Entweder-Oder einer ‛Theologie von oben’ oder ‛von unten’ in eine paradoxe Kombination von göttlicher und menschlicher Rede hinein auflöst.

Senkrecht von oben

Barth hat sein Theologiekonzept, das 1934 in kritischer geschichtlicher Stunde mit den Barmer Thesen hervortrat, über gut zehn Jahre hinweg und unter manchen Wandlungen aus einer Konzeption entwickelt, die meist als Dialektische Theologie bezeichnet wird und die er spätestens 1922 mit einigen überaus öffentlichkeitswirksamen Vorträgen erläutert hat. Furore hat insbesondere die Metapher Gottes als eines die Menschen ‛senkrecht von oben’ treffenden, ebenso richtenden wie rettenden Wortes gemacht. Dogmatisch war dieses Konzept, wie Barth es selbst stilisiert hat, das genaue Gegenteil von Schleiermachers Bewusstseinshermeneutik und ihrem aufgeklärten Anthropomorphismus. Methodisch aber entspricht es diesem fast hundertprozentig, mag Barth auch jedes Ansetzen der Theologie beim menschlichen Bewusstsein als den fatalen Irrtum des vernunfts- und fortschrittsgläubigen 19. Jahrhunderts brandmarken. 

Gerade gegen Schleiermacher war Barths Argument gerichtet, dass der Gott, dessen Wort Menschen ‛senkrecht von oben’ trifft, mit menschlichem Vermögen völlig unerkennbar ist. Mit geradezu martialischer Metaphorik, die aber kurz nach dem Ersten Weltkrieg unmittelbar verständlich gewesen sein dürfte, sieht Barth an der Stelle, wo Schleiermacher das menschliche Bewusstsein ins Spiel bringt, nichts als nurmehr den ‛Einschlagtrichter’ der göttlichen Offenbarung gähnen. Doch genau mit dieser Metapher wird Schleiermachers Hermeneutik, die vom Menschen aus buchstäblich gar nichts Direktes aussagen kann, ja nur noch zugespitzt. Ohne die Metapher hat Barth diese Theologie, die vom Unaussprechlichem sprechen muss, in einem berühmten Vortrag im thüringischen Elgersburg 1922 zu entfalten versucht. Er charakterisiert dabei nach dem Durchmustern des ‛dogmatischen’ (voraufklärerischen) und des ‛kritischen Weges’ seinen ‛dialektischen Weg’, von Gott zu reden, folgendermaßen:

„Auf diesem schmalen Felsengrat kann man nur gehen, nicht stehen, sonst fällt man herunter, entweder zur Rechten oder zur Linken, aber sicher herunter. So bleibt nur übrig, ein grauenerregendes Schauspiel für alle nicht Schwindelfreien, Beides, Position und Negation gegenseitig aufeinander zu beziehen, Ja am Nein zu verdeutlichen und Nein am Ja, ohne länger als einen Moment in einem starren Ja oder Nein zu verharren“ (GA III/19, 167, Hervorhebungen aufgehoben).

In der Barthforschung hat es wahrlich nicht an Versuchen gefehlt, diese Andeutungen, die Barth nach eigenem Bekenntnis auf der Zugfahrt zum Vortragsort „mit dem Mut der Verzweiflung“ (GA V/4, 107) zu Papier gebracht hat, als eine kohärente Vorgehensweise einer nicht in naiven Anthropomorphismus abgleitenden Offenbarungstheologie zu lesen. Die Kongenialität der Interpretationen mit dem zu interpretierenden Autor geht dabei gelegentlich so weit, dass man meint, in dem Einschlagtrichter, den der Gott der Dialektischen Theologie an der Stelle des Menschen hinterlässt, das Gras wachsen zu hören. Dabei wächst in einem solchen Bombentrichter bekanntlich buchstäblich kein Gras mehr.

Von Todesfurcht zur Glaubensgewissheit

Ich möchte angesichts der in der Barthforschung hinlänglich bekannten Interpretationsschwierigkeiten dieser Äußerung zu einem ganz anderen Text greifen, der m.E. sehr plastisch vorführt, was Barth da im Bild nur unvollkommen beschreibt. Ich denke an die bekannte Echo-Arie aus der 4. Kantate von J.S. Bachs Weihnachtsoratorium, die folgenden Text hat:

„Flößt, mein Heiland, flößt dein Namen / Auch den allerkleinsten Samen

Jenes strengen Schreckens ein? / Nein, du sagst ja selber nein. – (Echo:) Nein!

Sollt ich nun das Sterben scheuen? / Nein, dein süßes Wort ist da!

Oder sollt ich mich erfreuen? Ja, du Heiland sprichst selbst ja. – (Echo:) Ja!“ (BWV 248/IV)

Im Zusammenhang der Kantate, die liturgisch dem – heute durchgehend dem Anlass Neujahr gewichenen – Fest der Beschneidung Jesu am 1. Januar zugeordnet ist, behandelt diese Arie wie die ganze Kantate in bester barocker Manier die allgemein verbreitete Furcht vor dem Tod, die durch den besonderen Tod Jesu, auf den hier schon acht Tage nach seiner Geburt vorausgeblickt wird, überwunden werde. Jesu Sterben am Kreuz verwandelt die Todesfurcht in die Gewissheit der Auferweckung. Das ist zunächst einfach nur gut lutherische Barocktheologie, die Jesu Kreuzeswunden als Siegeszeichen für das Leben feiert, doch die Echo-Arie geht darüber hinaus. Hier wird, ohne dass die ganze lutherische Kreuzestheologie ausgerollt werden muss, die Todesfurcht nämlich genauso verwandelt, wie das Nein der ersten beiden Textzeilen sich zum Ja wandelt.

Man kann, nein: man muss mit Barth sagen, dass hier im Sinne seines ‛dialektischen Weges’ das Ja am Nein expliziert wird und umgekehrt das Nein als Ja. Natürlich wird man einwenden, dass die Frage, auf welche die Echo-Stimme antwortet, ja nicht beide Male dieselbe ist, sondern sich um 180 Grad dreht: Aus der existenziellen Frage, ob der Tod zu fürchten sei, wird die rhetorische Frage, ob er Grund zur Freude sei. Doch die Dialektik des Arientextes ist zu subtil, als dass sie mit diesem offensichtlichen Einwand zu zerstören wäre.

Nicht umsonst ist die Arie als Echo komponiert. Wie aber das Echo nur als Widerhall einer ihm vorausgehenden Stimme existiert, so ist auch die bald Nein, bald Ja lautende Antwort in Wahrheit Teil eines inneren Zwiegespräches, ja eines Selbstgespräches der frommen Seele, der diese Worte in den Mund gelegt werden. Mit anderen Worten: Der Heiland spricht aus der hin und her erwägenden Reflexion des gläubigen Selbst, so dass man wiederum sagen muss: Wenn die Strophenstruktur des Arientextes vom Nein zum Ja Barths ‛dialektischen Weg’ vorwegnimmt, so nimmt die Struktur der betreffenden Zeilen das Verhältnis der Frage zu der vom Echo gegebenen Antwort Schleiermachers bewusstseinshermeneutische Rekonstruktion der menschlichen Rede von Gott vorweg. Was der Heiland konkret sagt, ja was er nach den Worten des lyrischen Ich selber spricht, ist tatsächlich das Ergebnis der inneren Reflexion des menschlichen Selbst, das sich an der Anfechtung der Todesfurcht abarbeitet. Heilandsworte, die das aussagen, was das Ich der Arie vom Heiland zu hören behauptet, sind zum Beispiel in den biblischen Äußerungen Jesu nicht überliefert.

Kein methodischer Kniff

Doch immer noch würde man die Echo-Arie heillos unterschätzen, wenn die Vorstellung von Gott als ‛Partner unserer intimsten Selbstgespräche’ (V.E. Frankl) ihr letztes Wort in Sachen theologischer Anthropomorphismus wäre. Wie bei Barths Dialektischer Theologie wird auch in der Arie kein methodischer Kniff abzuleiten sein, mit dessen Hilfe sich das zweifelnde Ich oder auch die fragende Theologin der Antwort Gottes versichern könnte. Die ganze Prozedur gelingt nur – daran lässt die Kantate keinen Zweifel –, weil der Heiland den Namen Jesus trägt. Die ganze Kantate singt das hohe Lob der Theologie des Namens Jesu.

Nach der barthianischen Strophenstruktur und der schleiermacherischen Zeilenstruktur kommt damit drittens die Stellung der Arie in der Kantate insgesamt zum Tragen, die dem 1. Januar zugeordnet ist, also dem Jahresbeginn im bürgerlichen, nicht im liturgischen Kalender, der das Kirchenjahr bekanntlich mit Advent und Weihnachten beginnen lässt. 

Das Neben- und Ineinander beider Kalender ist theologisch höchst bedeutungsvoll: Erst mit der Beschneidung Jesu am achten Lebenstag bekommt Gott den Namen, in dem ihn die Christenheit anruft, nicht schon mit der Inkarnation oder Fleischwerdung, die liturgisch mit dem Weihnachtsfest verbunden ist: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit“ (Johannes 1,14a = Wochenspruch zum 1. Weihnachtsfeiertag). Gottes Zeit mit den Menschen hat einen doppelten Anfang, der, weil er bei der Beschneidung und Namensgebung Jesu selbst schon in der Zeit liegt, kein zeitlicher Beginn, sondern ein jederzeit möglicher Neuanfang ist, wie es die christliche Taufe aussagt, die deshalb auch nicht nur als Säuglingstaufe am Lebensbeginn, sondern ebenso gut, ja sogar ursprünglich als Mündigentaufe im Erwachsenenalter gefeiert wird.

Maßgeblichen christlichen Traditionen wie dem reformierten Heidelberger Katechismus (1563; Frage 74) ist dabei bewusst, dass die christliche Taufe auch vom jüdischen Initiationsritual, der Beschneidung, her zu verstehen ist, die ebenfalls ein zweiter Anfang ist, denn die Beschneidung markiert nicht die Zugehörigkeit zum Judentum, die religionsrechtlich vielmehr durch die Geburt von einer jüdischen Mutter bestimmt ist, sondern die Aufnahme in den Gottesbund.

Natürliches Leben verwandelt

Es ist mehr als die viel belächelte barocke Detailverspieltheit, wenn der Arientext aus Bachs Kantate für den Neujahrstag aus dem Weihnachtsoratorium all diese theologischen Kontexte einspielt, indem er den Namen, in dem allein nach christlicher, auf die vom Evangelisten Lukas überlieferte Predigt des Petrus vor dem Jerusalemer Hohen Rat zuürckgehender Überzeugung das Heil ist (Apostelgeschichte 4,12), mit dem Fest der Beschneidung Jesu und nicht mit seiner Geburt zu Weihnachten verbindet. Denn das heißt, dass das Heil der Menschen nicht einfach darin liegt, dass Gott Fleisch – also das, was Gott selbst, der nach Johannes 4,24 Geist ist, ganz sicher nicht ist – annimmt; vielmehr liegt dieses Heil, so die Zuspitzung des Kantatentexts, buchstäblich im Wegnehmen des Fleisches, nämlich der Entfernung der Vorhaut vom männlichen Glied, das im biblischen Hebräisch öfter euphemistisch „Fleisch“ genannt wird (z.B. 3. Mose 15,2; vgl. Jeremia 4,4 zur Beschneidung als Wegnahme). Die bleibende Bedeutsamkeit dieser religiösen Symbolik, die im Christentum bekanntlich nicht praktiziert wird, besteht darin, dass das natürliche Leben, zu dem Menschen geboren sind, von Gott wohl angenommen, dadurch aber auch verwandelt – auf religiös gesagt: ‛geheiligt’ – wird, so dass ‛Fleisch’ und ‛Geist’ für das biblische Denken in einen produktiven Gegensatz treten, der das menschliche Leben auf Gott ausrichtet.

Sagt man es jedoch mit diesen theologisch zwar womöglich wohlgesetzten, aber doch abstrakten Worten, so verfehlt man die reichhaltigen Ober- und Untertöne, die in der barocken Kantate mitschwingen. Dass Gottes Annahme der Menschen zugleich Verwandlung meint, ist nämlich auch der tiefere Grund dafür, dass von Gott anthropomorph geredet wird. Man kann das gerade für das Thema Beschneidung an einem der ‛dunkelsten’ oder ‛schwierigsten’ Texte der Bibel studieren, der kurzen Erzählung der Beschneidung von Moses Sohn Gerschom:

„Und als Mose unterwegs in der Herberge war, kam ihm der HERR entgegen und wollte ihn töten. Da nahm Zippora einen scharfen Stein und beschnitt ihrem Sohn die Vorhaut und berührte damit seine Scham und sprach: Du bist mir ein Blutbräutigam. Da ließ er von ihm ab.“ (2. Mose 4,24-26a)

Der kurze Text, der für sich allein die Erklärung eines wohl schon damals archetypischen Rituals (‛Blutbräutigam’) sein mag, ist in der biblischen Mose-Erzählung so eingeordnet, dass er als Gegentypus zur Befreiung Israels aus der ägyptischen Knechtschaft erscheint, die Mose unmittelbar vor diesen Versen in Aussicht gestellt wird und die nach biblischer Schilderung bekanntlich durch die Tötung der Erstgeburt Ägyptens ermöglicht wird. Und wie Israel sich durch das Blut des Passalammes vor dem sogenannten Würgeengel retten kann, rettet Moses Frau ihren Mann als ‛Blutbräutigam’ durch das Ritual der Beschneidung vor dem Gott, der Mose töten will.

Befremdlichkeit eingehegt

Natürlich kann diese Erklärung das Befremdliche, auch Abstoßende eines Textes, der von dem Gott erzählt, der den Ersten seines Volkes töten will, nicht wegnehmen und soll das auch gar nicht. Die biblischen Autoren haben es wohl schon genauso empfunden, aber sie haben diese Empfindung eingehegt, indem sie den Text an die bestimmte Stelle im größeren Zusammenhang der Mose-Erzählung platziert und damit typologisch gedeutet haben: Zwischen Gott und Mose ereignet sich hier die Verwandlung vorweg, die als die Befreiung Israels aus der Knechtschaft zur religiösen Urerfahrung des Volkes wird. 

Dass es ausgerechnet Mose ist, den Gott töten will, also der Einzige, von dem die Bibel erzählt, dass er Gott von Angesicht gesehen habe (2. Mose 24,10–11), ist dabei von hoher Bedeutung, denn die Verwandlung, die aus der Todesdrohung den Gegentypus der Befreiung macht, spielt sich damit in Gottes allerengster Umgebung – sagen wir es ruhig: sie spielt sich in Gott selbst ab. Die gleiche göttliche Intimität durchzieht die gesamte Geschichte des Mose, wenn er zu Gott auf den Berg Horeb steigt, um die Tafeln des Bundes entgegenzunehmen, oder wenn die Bibel berichtet, dass Gott selbst Mose nach dessen Tod so begraben habe, dass niemand die Lage des Grabes weiß (5. Mose 34,6). Mit diesen Besonderheiten ist Mose sozusagen in Gottes ‛Immanenz’, wie es in der christlichen Theologie heißt, geborgen, also in Gottes innerer Lebendigkeit, an der die Welt und die Menschen keinen Anteil haben, die aber der Grund dafür ist, dass der eine und einzige Gott sich eine Welt eigenen, freilich endlichen Lebens erschafft.

Im Christentum ist die innere Lebendigkeit des einzigen Gottes der Gegenstand eines ganzen Lehrkapitels mit eigenem Wahrheitsanspruch, der Trinitätslehre, geworden. Die Wurzel dieser Trinitätslehre ist jedoch, wie es nach dem Kirchenvater Augustinus das Siegel aller Wahrheit ist, höchst einfach: In aller göttlichen Überlegenheit birgt Gott in der Gestalt des Menschen Jesus von Nazareth, dem er den eigenen lebendig machenden Heiligen Geist mitteilt, die Menschheit in Gottes Immanenz. Was immer der als jüdischer Mensch geborene Jesus als Gottes Gesandter lebt und erleidet, das ganze Drama seines Lebens, Sterbens und Auferwecktwerdens hat Gott in dieser Immanenz zuvor schon erlebt, durchlitten und überwunden. 

Was die Bibel, etwa in einem prophetischen Kapitel wie Hosea 11, in durch und durch menschengestaltiger Rede von Gott und Gottes Volk erzählt, ist als Zusicherung des Heilsdramas gesagt, zu dem sich die Gläubigen bekennen. In christlich-religiöser Zuspitzung gesagt: Leben und Leiden Jesu, sein Kreuz und seine Auferstehung sind zuerst ein Geschehen in Gott selbst und deshalb und danach das Heilsereignis um der Menschen willen, auf das sich das Christentum konzentriert. Hier liegt der Grund, warum die christliche Theologie anthropomorph von Gott redet.

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