Leise kaum möglich

Demut ist im Kommen und will sich inszenieren
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„Demut ist in aller Munde“ – stellte schon vor zwei Jahren der Bochumer Literaturwissenschaftler Manfred Schneider in einem Gastbeitrag bei der NZZ fest. Er konnte programmatische Sätze von Politiker*innen anführen und fragte sich rhetorisch ungläubig, ob die Mächtigen und Erfolgreichen plötzlich bescheiden geworden seien. Die Häufung der Rede von Demut fiel in die Zeit des Regierungswechsels. Mit „Dankbarkeit und Demut“ sah Angela Merkel auf ihre Amtszeit zurück, mit erklärter Demut traten andere ihr Amt an. Ein Blick in die Wortverlaufskurve der Datenbank des deutschen Wortschatzes zeigt, dass vor etwa 20 Jahren der Gebrauch des Wortes Demut in den Zeitungen die Frequenz in der Nachkriegszeit – nach einem Tiefststand in den 1970er-Jahren – wieder überschritten hat und seither kräftig ansteigt.

Im Zuge ihrer Wiederkehr ist die Demut heute zu einer säkularen Tugend geworden. Demut wird mit Bescheidenheit, Respekt, Anerkennung der eigenen Grenzen, ja auch mit dem Eingeständnis von Fehlern verbunden. Aber die gottesfürchtige Haltung, die in den biblischen Schriften die Demut kennzeichnet, ist nicht mehr im Blick, schon gar nicht die Selbsterniedrigung und Selbstverachtung, die nach Luther die Demut im Gegensatz zum Hochmut ausmacht. Ausgerechnet die neue säkulare Prominenz der Demut kommt den Kirchen aber derzeit zugute. Wenn die amtierende Ratsvorsitzende der EKD die gewollte und initiierte ForuM-Studie öffentlich „mit Demut“ annimmt, hört man keinen verstaubten religiösen Begriff. Ähnlich ist es, wenn römisch-katholische Bischöfe mit Blick auf den synodalen Prozess davon sprechen, das Christentum müsse kleiner und demütiger werden. „Wir brauchen Demut!“, forderte unlängst auch der tschechische Soziologe und Theologe Thomás Halík für das Christentum in Europa.

Blickt man auf die Kirchen- und Theologiegeschichte zurück, so treten wesentliche Veränderungen im Wandel der Rede von Demut wie in einem Brennglas hervor. Lange stand Demut im Zentrum der Bußfrömmigkeit. Im späten 19. Jahrhundert hingegen verstand Albrecht Ritschl sie als Folge aus der Versöhnung mit Gott und als Wurzel christlicher Sittlichkeit. Demut ist gepaart mit der Geduld eine Stimmung, die das christliche Leben begleitet. Die „spezifische Probe christlicher Frömmigkeit“ sieht er darin, „die Geduld gegen den Mangel an Erfolg, die Demuth bei der Fülle des Erfolges aufrecht zu erhalten“. Weil Demut allererst aus der Versöhnung mit Gott entspringt, sind weder echte Reue noch erfahrene Demütigung notwendige Voraussetzungen. Im Hintergrund steht die Moralphilosophie von Immanuel Kant, der mit Demut die Einsicht in die Grenzen der moralischen Vollkommenheit verband. Eine Demütigung von außen ist dafür nicht nötig, ja sogar hinderlich. Das ist anspruchsvoll, aber machbar, wenn man öffentliches Reden von Demut besieht. Sehr viel anspruchsvoller mag heute die Vorstellung lutherischer Erbauungsliteratur erscheinen, die Ritschl in Erinnerung ruft: „die rechte Demuth weiß gar nicht, daß sie da ist.“ Möglicherweise gehört es zum Dilemma moderner Öffentlichkeiten, dass wir es uns nicht leisten können, Tugenden still und leise zu praktizieren. 

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Friederike Nüssel

Friederike Nüssel ist Professorin für Systematische Theologie in Heidelberg und Herausgeberin von zeitzeichen.


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