Veränderung benötigt Demut

Was die Evangelische Kirche jetzt braucht
Tradition in Bewegung: Luther und Katharina von Bora, scheinbar in Stein gehauen, als Walking Act.
Foto: epd-bild/Friedrich Stark
Tradition in Bewegung: Luther und Katharina von Bora, scheinbar in Stein gehauen, als Walking Act.

In der Evangelischen Kirche wird mit Demut eher nichts Gutes verbunden, nichts, was für die Zukunft hilfreich sein könnte. Dabei bräuchte es in diesen Zeiten eine Führung mit Demut: nicht ducken, sondern kraftvoll Verantwortung übernehmen, meint Ellen Ueberschär, Vorstandsvorsitzende der Stephanus-Stiftung Berlin.

Demut, die urchristliche Tugend, hat im säkularen Bereich eine erstaunliche Karriere gemacht. Überall dort, wo nach Orientierung und guter Führung gesucht wird, sei es im Non-Profit-Bereich oder in der Wirtschaft, kommt die humility, die Demut ins Spiel. Was ist das Geheimnis eines erfolgreichen und wirkungsvollen Auftritts von Organisationen und Firmen am jeweiligen Markt? Flankierend existiert ein Strang der Forschung, der das Phänomen Demut als philosophisches Konzept verfolgt. Im politischen Raum sind die Versuche, eine Demutskultur zu propagieren, längst abgeflaut, wozu möglicherweise auch die Beobachtung des Politikwissenschaftlers Albrecht von Lucke beitrug, dass die Tugend der Demut beim Soziologie-Klassiker Max Weber nicht auftaucht, vielmehr Augenmaß, Leidenschaft und Verantwortungsgefühl entscheidend für politischen Erfolg seien.

In der Evangelischen Kirche wird mit Demut eher nichts Gutes verbunden, nichts, was für die Zukunft hilfreich sein könnte. Zu tief sitzen die Vorstellungen, dass Demut eine klebrige Angelegenheit ist, die vor allem die Heuchelei fördert und nicht das Selbstbewusstsein. Ein Dienen und eine Dienstbarkeit um ihrer selbst willen, die eher zum Missbrauch einlädt als zur Gestaltung der Welt. Eine eher katholische Tugend, der von einschlägigen Autoren wie Karl Barth oder Paul Tillich mit kontroverstheologischen Einwänden begegnet wurde. Eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit der Demut als Tugend, als Grundhaltung, die sich diskursfähig mit den säkularen Interpretationen zeigt und zugleich die religiöse Tiefendimension wiederbelebt, ist nirgends ein Thema.

Religiöse Tiefendimensionen

In der Tat sind es eher katholische Autoren wie Thomas Eggelsperger, Anselm Bilgri und Anselm Grün, die sich an einer Wiederbelebung der Demut beteiligen. Anselm Bilgri, aus dem Benediktinerorden ausgetreten, versteht Demut als „Mut, sich von etwas Großem, zweifelsfrei Guten, abhängig zu machen“. Es geht „nicht um Dienen im Sinne von ,ducken‘, sondern um eine Haltung, eine kraftvolle Übernahme von Verantwortung“. Der auf evangelischen Kirchentagen beliebte Anselm Grün bringt eine eher psychologische Note ein: „Demut ist der Mut, hinabzusteigen in die Tiefen der Seele, und alles, was da in mir ist, anzunehmen: Das gehört auch zu mir. Wenn ich es annehme, verliert es an Gefährlichkeit. Dieses Hinabsteigen in die Tiefen der eigenen Seele meint Jesus, wenn er sagt: ‚Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden‘ (Lukas 18, 14).“

Dabei war es Rudolf Bultmann, der in Kerygma und Mythos die mit Demut verbundene Lebenshaltung als neutestamentliches Grundthema stark gemacht hat. Leben ist etwas, „das aus dem Unsichtbaren, Unverfügbaren lebt, das also alle selbstgeschaffene Sicherheit preisgibt ..., die radikale Hingabe an Gott, die alles von Gott, nichts von sich erwartet, die damit gegebene Gelöstheit von allem weltlich Verfügbaren, also die Haltung der Entweltlichung, der Freiheit. Diese Haltung macht zugleich offen für das menschliche Miteinander“.

Eine Haltung der Freiheit, in der sich Verantwortliche in einer Institution nicht als Getriebene fühlen, sondern als Freie, als solche, die sich – mit Bonhoeffer – Gott ganz in die Arme werfen und nicht den Wellenbewegungen multipler Stressoren? Verlockend! War der Rücktritt der Ratsvorsitzenden, dem zweiten einer Frau im Amt innerhalb von weniger als zwei Jahrzehnten, ein Akt der Demut? War das Schweigen, das danach eintrat, ein Zeichen der Demut? Beides ist nicht unbedingt mit Ja zu beantworten. Die Beiträge, die zur Erklärung und Aufarbeitung erschienen sind, sprechen eher eine Sprache der Ratlosigkeit. Weder in dem einen noch in dem anderen lag eine Botschaft. Erschöpfung und Resignation, Verunsicherung und Orientierungslosigkeit sind eher die Worte, die das Erscheinungsbild der Leitungsebene der evangelischen Kirche beschreiben.

Überlagerte Krisen

Vielschichtige Krisenthemen überlagern sich, lassen kaum eine gründliche Aufarbeitung zu. Der öffentliche Markt der Glaubwürdigkeit, auf dem Kirche konkurrieren muss, lässt die gründliche Befassung mit einer Thematik – scheinbar – nicht zu. Gerade sind es die Menschen, die sexuelle Gewalt in der evangelischen Kirche und der Diakonie erlitten haben, die zu Recht Aufmerksamkeit und Ressourcen einfordern. Natürlich, Evangelische Kirche will aufklären, will vorbeugen. Guter Wille ist da, und es geschieht auch viel. Kaum ist die ForuM-Studie erschienen, beginnt die Diffusion: Wie war das mit den Personalakten genau? Was war mit den Forschenden vereinbart? Soll man jetzt alle Ressourcen einsetzen, um das nachzuholen, was offenbar zu einem schlechten Rating auf dem Markt geführt hat, um den Preis, andere wichtige Themen zu vernachlässigen? Wer entscheidet hier, wer gibt Orientierung? Was ist jetzt das Beste?

Gleichzeitig warten die Ergebnisse der sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) auf Bearbeitung. Zum ersten Mal sind auch Außerevangelische einbezogen worden. Was für eine Chance. Was für eine Möglichkeit, zu vergleichen, ökumenische Energien freizusetzen, mit Vorurteilen aufzuräumen und die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Wer spricht darüber, wer entwickelt daraus Konzepte, wer bearbeitet die interne Kritik an der zugrundeliegenden These von der erbarmungslosen Säkularisierung, die vielleicht nicht richtig ist? Diese Debatte könnte sehr produktiv werden. Wäre da nicht auch noch der Streit um die Friedensethik. Gerade ist nichts weniger als eine Neujustierung der friedensethischen Positionierung der EKD beschlossen worden. War es vor fast zwanzig Jahren, als noch eine Diskussionsatmosphäre herrschte, in der in Ruhe gesprochen werden konnte, anspruchsvoll, divergierende evangelische Positionen in eine Balance zu bringen, um wieviel schwieriger ist es heute. 

Zu Recht hat die kirchliche Zeithistorikerin Katharina Kunter darauf aufmerksam gemacht, dass eine klare Positionierung für die leidenden Christinnen und Christen in der Ukraine noch immer aussteht, dass Teile der EKD einer Haltung anhängen, die sich auf eine „realitätsfernen Friedenshoffnung mit Russland“ stützt und nachweislich gescheitert ist. Also auch hier – seit zwei Jahren eine Baustelle. Mit viel Engagement und Passion wird inzwischen an einer überarbeiteten Friedenspolitik gefeilt. Wird sie noch die einigende Kraft haben, die der früheren Denkschrift zur Friedensethik zukam? Welche Relevanz wird das Thema neben der ForuM-Studie, der KMU, der Klimakrise haben?

An der Oberfläche

Bei aller Dringlichkeit sind das die Themen an der Oberfläche. Die darunter liegenden nach der Reformfähigkeit der Kirche sind noch nicht einmal gestellt. Die erschütternde Erkenntnis in den Jahren der Pandemie, dass Menschen die Kirche in existenziellen Situationen nicht mehr brauchen, kann unter dem Aktualitätsdruck nicht bearbeitet werden. Genauso wenig wie die Nachwuchskrise der Pfarrerinnen und Pfarrer. Einstellige Zahlen bei den Studienanfängerinnen der Theologie wirken zwar beunruhigend, werden aber außerhalb der Universitäten und Ausbildungsverantwortlichen wenig wahrgenommen. Das Themen­tableau ließe fortschreiben.

Es offenbart, dass eine Ära zu Ende geht, die einmal mit dem „Wächteramt der Kirche“ begonnen hat, der moralischen Aufsicht und dem Anspruch auf Mitgestaltung gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen. Vor zehn Jahren bekannten sich beide Kirchen noch zu einer gemeinsamen Verantwortung für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft, zu dem sie beitragen wollten. Bereits das konnte als weniger steile Anspruchshaltung gelesen werden. Wenn heute zwei führende Sozialethiker, Peter Dabrock und Rainer Anselm, lapidar festhalten: „In den vergangenen Jahren ist die Selbstverständlichkeit, mit der sich die EKD als wichtige und einflussreiche Stimme sah, verloren gegangen“, dann ist das ein grundstürzender Realismus, der nach einer Haltung der Demut ruft. Für den Hochmut der langen Nachkriegszeit ist keine Veranlassung mehr gegeben.

Es wäre ein Leichtes, sich in die Reihe der Ratgeberinnen und Kritiker der Evangelischen Kirche einzureihen und ebenfalls Wissen darüber zu suggerieren, „wie die Zukunft der Kirche gelingt“ oder wie die Kirche mit wenigen Kniffen „zu einem religiösen Ort“ wird. Mal sind es die Strukturen, die nur verändert werden müssen, damit sich alles bessert, ein anderes Mal ist es das Kerngeschäft, auf das sich alle konzentrieren sollen. Die Fülle der Ratschläge und des Widerspruchs zeigt an, dass es nicht die eine Lösung gibt und dass möglicherweise nicht einmal das Problem adäquat erfasst wurde.

Die Komplexität, die Volatilität, die Ambiguität und die Unsicherheit des Umfeldes verantwortlichen Handelns in und außerhalb von Organisationen sind unhintergehbar. Sie sind real. Deshalb brauchen Organisationen Menschen, die eine adäquate Führungskultur leben. In dieser spielt die Demut eine entscheidende Rolle für das Gelingen von Veränderung.

Was dann darunter zu verstehen ist, wird landläufig eher mit kirchlichen Amtsträgern assoziiert als mit Managern großer Unternehmen. Das mag überraschend sein. Aber so wenig, wie Demut verordnet oder als Attitüde an den Tag gelegt werden kann, so interessant ist die Beobachtung von Jim Collins, dass Organisationen und Unternehmen, die gelingende Transformationsprozesse durchlebten, von Menschen geführt wurden, die eine tiefe persönliche Demut (deep personal humility) mit einer professionellen Orientierungsstärke (intense professional will) verbanden. In Gesprächen, die Collins führte, der ein Forschungsinstitut für Management-Fragen in Colorado leitet, begründeten die Manager den Erfolg mit externen Faktoren wie Glück oder einer guten Marktlage. Waren die Ergebnisse negativ, suchten sie den Fehler bei sich selbst. Sie verließen sich nicht auf ihr inspirierendes Charisma, um Menschen zu motivieren, sondern auf inspirierende Normen, um ihre Mitarbeitenden zu begeistern. Die meisten der Befragten waren in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt, weil sie nicht die Bühne suchten.

Respekt vor der Expertise Anderer

Eines der wichtigsten Charakteristika von Führung mit Demut ist der Respekt vor der Expertise Anderer. Führungskräfte, die Unerwartetes managen können, so die Erkenntnis, sind bereit, Führungsverantwortung abzugeben an Personen, die für die Aufgabe kompetenter sind. Entscheidungskompetenz wird unabhängig vom Status auf Personen übertragen, die mit dem jeweiligen Problem am besten vertraut sind. Der Soziologe Dirk Baecker nannte das schon vor dreißig Jahren „postheroisches Management“.

Ob eine ganze Organisation, noch dazu eine so vielfältige, in sich plurale und widersprüchliche wie die Evangelische Kirche Demut an den Tag legen kann im Sinne einer inneren Entscheidungsfreiheit, ist offen. Aber eine Stärkung von Führung und Führungskräften, ehren- oder hauptamtlich, die befähigt sind, mit Demut im Sinne Bilgris zu handeln: nicht ducken, sondern kraftvoll Verantwortung übernehmen, ist möglich und ist nötig. 

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