Zwei Jahre „Zeitenwende“

Eine friedensethische Zwischenbilanz aus kirchlicher Perspektive
Demonstration gegen den russischen Krieg gegen die Ukraine, 24.2.2024 in Bern.
Kundgebung gegen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, genau zwei Jahre danach am 24. Februar 2024 in Bern.

Heute vor genau zwei Jahren überfiel Putins Armee die Ukraine. Wie hat dieses Ereignis die kirchliche Friedensethik beeinflusst? Oder interessiert sich gar niemand mehr dafür, fragt der Theologe und Sozialwissenschaftler Roger Mielke. Der Militärdekan am Zentrum Innere Führung der Bundeswehr in Koblenz ist, was den EKD-internen Prozess angeht, jedenfalls nur bedingt optimistisch …

Zwei Jahre russischer Angriffskrieg in der Ukraine, zehn Jahre Besetzung der Krim und militärischer Konflikt im Donbass. Das sind bedrückende Jahrestage. Drei Tage nach Beginn der Invasion der Ukraine, am 27. Februar 2022, hielt Bundeskanzler Olaf Scholz seine sprichwörtlich gewordene Rede: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Die Rede von der Zeitenwende war zunächst eine Diagnose, dann aber auch die Proklamation eines Politikwechsels: „Wir müssen deutlich mehr in die Sicherheit unseres Landes investieren, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen.“ Was ist daraus geworden? 

Die Einigkeit des Westens war zunächst beeindruckend, die Unterstützung für das angegriffene Land bedeutend. Das hat sich geändert: Die Front in der Ukraine wankt, die Hilfe bröckelt. Der politische Wiedergänger Donald Trump, vielleicht ab Januar 2025 wieder Präsident der USA, blies mit den üblichen dicken Backen in die Welt, was in Europa nur in den Hinterzimmern geflüstert wird: „I would encourage them to do whatever the hell they want. You got to pay. You got to pay your bills.“ Ein Freibrief also für Putin, eine (bislang unbezahlte) Rechnung für die Europäer − und für uns Deutsche zumal. Amerikanische Beobachter versicherten schnell, man solle Trumps Einlassungen nicht zum Nennwert nehmen. In den europäischen Hauptstädten wachsen gleichwohl die Sorgen. Glaubwürdigkeit ist die Quelle der Abschreckung, aber wie glaubwürdig ist die amerikanischen Beistandsverpflichtung, wenn es etwa darum geht, die baltischen Staaten zu verteidigen? 

Unrecht hat Trump ja nicht: Haben wir die Rechnung bezahlt? Das heißt in anderen Worten: Ist auf die Proklamation der Zeitenwende ein energischer Politikwechsel gefolgt? Sind Fähigkeit, Motivation und Bereitschaft zu Verteidigung und Abschreckung gestärkt? Die Ausrüstung der Bundeswehr ist dabei nur das eine, politische Führung, strategische Klarheit und Wahrhaftigkeit sind das andere und wichtigere. Wenn ich Soldatinnen und Soldaten nach ihrer Einschätzung des Zustands und der Aussichten ihrer Bundeswehr frage, stoße ich auf große Skepsis. Kaum jemand spricht offen darüber, aber die Gespräche in den Pausen oder am Tresen sind sehr klar: Es ist jetzt schlechter als vor zwei Jahren und man sieht nicht wirklich, dass etwas in absehbarer Zeit besser wird. Dieser Vertrauensverlust ist vielleicht das beunruhigendste Zeichen politischer Stagnation.

Wen interessiert‘s?

Damit sind wir bei der evangelischen Friedensethik. Aber: Interessiert eigentlich noch irgendjemanden, was die krisengeschüttelten Kirchen zu sicherheitspolitischen Fragen zu sagen haben? Kurze Antwort: Ja, es interessiert, aber es ist wichtig, die eigene Rolle weder zu überschätzen noch sie zu unterschätzen. Politische Entscheidungen sind eingebettet in gesellschaftliche Verständigungsprozesse. Das Feld des Politischen ist größer als die Sphäre der politischen Organisation. Der Jurist Udo di Fabio spricht von „moralisch-kommunikativen öffentlichen Prägeraum“, in dem politische Entscheidungen vorstrukturiert und damit, je nachdem, wahrscheinlicher oder unwahrscheinlich gemacht werden. In diesem Prägeraum bewegen sich die Kirchen. An Moral herrscht da gerade in Deutschland kein Mangel, an seriöser, geduldiger und erfahrungsgesättigter normativer Argumentation aber wohl. 

Mit einer Grundhaltung der Hörbereitschaft und Responsivität treffen kirchliche Friedensethikerinnen und Friedensethiker fast immer auf offene Ohren ihrer politischen und militärischen Gegenüber. Genau das ist die Rolle der kirchlichen Friedensethik: Mit zäher Beharrlichkeit diejenigen zu begleiten, die Entscheidungen zu treffen haben und dazu beitragen, diese Entscheidungen kritisch und klug vorzubereiten. Es geht nicht darum, aus moralischen Prinzipien deduktiv und linear politische Folgerungen abzuleiten, und schon gar nicht darum, mit Pastoralmacht die Welt zu erklären, weder in pazifistischer Manier noch in Verstärkung rüstungspolitischer Maximalforderungen. 

Verhältnismäßigkeitserwägungen sind das Kerngeschäft der Friedensethik, das schwierige Handwerk des Entscheidens in Pflichtenkollisionen. Das kann in der Friedensethik, nicht anders als in der Medizinethik oder der Bioethik, sehr ins technische Detail gehen. Anders geht es aber nicht. Friedensethik ist „explorative Ethik“ (Hans Ulrich), und kann als eine Art „Scout“ (Ralf Stöcker, Christian Neuhäuser, Marie-Luise Ratersbeschrieben werden, der erkundet, wohin die verschiedenen Wege des Handelns, wenn sie denn begangen werden, führen können.

Retardierendes Element

Ein Blick auf die verschlungenen Wege der evangelischen Friedensethik seit 2022 führt jedenfalls sehr deutlich vor Augen, dass die evangelische Friedensethik, seit der Friedensdenkschrift 2007 eher orientiert an den militärischen Interventionen des „global war on terror“, kaum vorbereitet war auf die Rückkehr des zwischenstaatlichen Krieges. Der tiefsitzende antimilitärische Affekt der kirchlichen Friedensbewegung wirkte im Frühjahr 2022 als retardierendes Element in den deutschen Debatten um die Unterstützung der Ukraine. Einflussreiche Stimmen des deutschen Protestantismus empfahlen der Ukraine eine schnelle Kapitulation und warnten vor Waffenlieferungen. Die einseitig pazifistische Ausrichtung der EKD-Synode 2019 war angesichts von fünf Jahren russischer Aggression im Donbass schon damals ein Anachronismus und schlichte Wirklichkeitsverweigerung. 

Die Synode und der Rat der EKD 2022 stellten zumindest einen Revisionsbedarf der evangelischen Friedensethik über die Friedensdenkschrift 2007 hinaus fest. Seit dem Sommer 2023 arbeitet daher eine Kommission unter dem Vorsitz der Berliner Akademiedirektorin Friederike Krippner und dem Münchner Systematischen Theologen Reiner Anselm an einem neuen friedensethischen Grundlagentext der EKD. Derzeit läuft, begleitet von vier evangelischen Akademien sowie der „Friedenswerkstatt“ um den Friedensbeauftragen der EKD, den mitteldeutschen Landesbischof Friedrich Kramer, ein Konsultationsprozess, in dem die unterschiedlichen Perspektiven von Politik, Völkerrecht, kirchlicher Friedensarbeit, akademischer Ethik und Bundeswehr, die Militärseelsorge eingeschlossen, zur Geltung kommen. Der Prozess dauert an und fordert zur kritischen Begleitung heraus: Wo steht die friedensethische Debatte gegenwärtig? Ein paar Kommentare und Interventionen vom Spielfeldrand sind vielleicht angebracht.

„Willkommen in der Wirklichkeit“ – so könnte man mit einigem Sarkasmus die Lehre des 24. Februar 2022 umschreiben. Gesellschaft und Politik fanden sich in einer Welt wieder, in der plötzlich der zumindest für Europa überwunden geglaubte Krieg nicht nur möglich, sondern wirklich war. Unter dem nuklearen Schirm der USA hatten sich die deutschen Eliten in eine Welt ohne militärische Gewalt geträumt: Posthistoire. 

Dreifacher Realismus nötig

Thomas Bagger, der langjährige außenpolitische Berater von Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, hatte 2019 in einem Essay geschrieben: „The ‘End of History’ was an American book, but a German reality.” Der Traum war tief und das Erwachen schmerzhaft. Aber: Jedes „Erwachen zur Wirklichkeit“ (Robert Spaemann) ist letztlich gut. Die moralische Wahrnehmung der Friedensethik muss sich an der politischen Wirklichkeit orientieren, so umstritten die Beschreibungen dieser Wirklichkeit im Einzelnen sein mögen. Friedensethik braucht Realismus in dreifacher Hinsicht. 

Sie braucht – erstens – einen pragmatischen Realismus, der die eigene Sprecherposition reflektiert. Die Konjunktur pazifistischer Denkfiguren in der deutschen politischen Kultur und besonders im deutschen Protestantismus lebte von sehr präzise zu beschreibenden Voraussetzungen: dem Grundgefühl, nach dem Ende des „Kalten Krieges“ unangreifbar in der Mitte des friedlichen Europa geborgen zu sein. Sicherheitspolitisches Outsourcing war naheliegend. Schon in Ostmitteleuropa allerdings stellte sich die Lage vollkommen anders dar. Man hätte hören und sehen können, wenn man denn gewollt hätte. 

Zweitens geht es um einen politischen Realismus, der ernst nimmt, dass ein Staat wie die Russische Föderation als Machtmaximierer handelt. Dieses Handeln wird mit historisch verankerten Narrativen und Identitäten legitimiert, die so ganz anders funktionieren als die universalistischen Selbstbeschreibungen der zumindest deutschen Eliten. 

Und drittens bedarf die Friedensethik eines anthropologischen Realismus, der der Gewaltgeneigtheit der conditio humana und der Gewaltförmigkeit sozialer und politischer Praxis nicht ausweicht. Der Protestantismus wäre auf die mit diesen Realismen verbundenen Ambivalenzen eigentlich gut vorbereitet, die reformatorische Tradition liefert dafür wichtige Ressourcen und Einsichten.

Friedensordnungen in einer fragmentierten Welt

Putins imperiale Expansion, Xi Jinpings Drohgebärden gegenüber Taiwan und Trumps „America First“-Rhetorik sind keine Zufälle. Als Folien übereinander gelegt ergeben sie ein Politikmuster, das mit den handelnden Personen an der Spitze der Staaten zwar untrennbar verbunden ist, aber weit über das Persönlich-Individuelle hinausgeht. Das Muster spiegelt einen tiefgreifenden Wandel der ökonomischen Verhältnisse und der politischen Identitäten wider. 

Die Friedensdenkschrift 2007 konnte ungeachtet aller Dysfunktionalitäten internationaler Organisationen noch wie selbstverständlich von einer Friedensordnung als Rechtsordnung im Singular sprechen. Das ist heute nur noch als Beschwörungsformel möglich. Mächterivalität und geopolitische Konfrontationen werden sich künftig eher zuspitzen bis sich, hoffentlich, eine neue Kooperationsordnung herausbilden wird. 

Wie lässt sich diese Konfrontation einhegen, ohne in einen großen und katastrophalen Krieg einzumünden oder sich in viele kleinere, aber kaum weniger zerstörerische regionale Stellvertreterkriege, wie etwa den gegenwärtigen Gazakrieg, zu zerfasern? Von der Frage nach den Ordnungskonzeptionen, in denen der Friede gedacht wird, hängen politische Entscheidungen bis in Detailfragen ab. Die Friedensethik macht keine Politik, sie kann aber Reflexionsmodelle anbieten, in denen Politik konzipiert wird. Evangelische Friedensethik wird ausweisen müssen, ob sie die internationalen Beziehungen etwa in einem liberalen oder institutionalistischen Framework modelliert, ob sie ein realistisches oder konstruktivistisches Verständnis zugrunde gelegt. Auch fordern verschiedene Aspekte des Politischen unterschiedliche Beschreibungssprachen.

Im friedensethischen Debattenbeitrag der Militärseelsorge „Maß des Möglichen“ wurde für die zwischenstaatlichen Beziehungen etwa das Konzept eines „regelgeleiteten Pluralismus“ skizziert. Diese Diskurse um Ordnungskonzepte werden in der nächsten Zukunft sicher zu den interessantesten konzeptionellen Fragen evangelischer Friedensethik gehören. Der Krieg in der Ukraine und die großen geopolitischen Konflikte haben diese Debatte in Bewegung gebracht. Gleichwohl benötigen unterschiedliche Konfliktebenen, Konfliktformen und Konfliktarenen unterschiedliche konzeptionelle Ressourcen. 

Friede durch Recht – reicht das?

Lokale und regionale Konflikte werden friedensethisch anders zu reflektieren sein, als die großen zwischenstaatlichen Konflikte − und auch diese stellen sich längst schon als hybride Konflikte dar. In der Arena des Informationsraums sind die Grenzen zwischen Krieg und Frieden, zwischen militärischer und ziviler Mobilisierung unscharf. Das klassische Recht des bewaffneten Konflikts stellt sich erst langsam auf diese Unschärfen ein.

Die Friedensdenkschrift 2007 konzipiert die globale Friedensordnung als Rechtsordnung und bindet diese Rechtsordnung, besonders mit Blick auf die Friedenssicherung, politisch an die UN-Institutionen. Gerade in diesem Kernauftrag aber ist die UN-Ordnung nicht mehr funktionsfähig. Andere Bereiche internationaler und transnationaler Institutionen, Organisationen und Regime funktionieren besser. Was überhaupt funktioniert, darf auch nicht kleingeredet und dadurch weiter geschädigt werden. Die Spannung zwischen Rechtsidee und Rechtswirklichkeit ist konstitutiv für das Recht. Dass es allzu oft kontrafaktisch bleibt, spricht nicht gegen die Leistungsfähigkeit des Rechts, ist vielmehr zutiefst mit seiner normativen Grundstruktur, mit dem Sollenscharakter des Rechts verknüpft. 

Dazu kommt, dass das Recht immer eingebettet ist in Lebensformen. Ohne ein Ethos der Rechtsgenossenschaft und der Rechtsbefolgung geht es nicht. In „Maß des Möglichen“ heißt es daher: „Das Recht ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für eine gelingende Friedensordnung. Erst wenn eine Rechtsordnung eingebettet ist in eine Kultur des Friedens, in der das Interesse an rechtsgeleiteter Kooperation alle anderen Interessen überwiegt, kann sie ihre heilsame Wirkung für eine nachhaltige Friedensordnung ausüben.“ (40) 

Sinn für Pluralität pflegen

Die vor allem in deutschen Diskursen gepflegte Vorstellung einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts und einer als „Global Governance“ modellierten Weltinnenpolitik ist zumindest auf Sichtweite nicht tragfähig und auch die Friedensethik sollte sich davon verabschieden. Gerade evangelische Friedensethik sollte, vielleicht anders als ihr römisch-katholisches Pendant, einen wachen Sinn für Pluralität und historische Kontingenzen pflegen. Erst in jüngster Zeit und auch in Reaktion auf die politischen Machtverschiebungen beginnt man die Forderungen aus dem globalen Süden nach einer größeren Inklusivität der internationalen Rechtsgemeinschaft gerade für die postkolonialen Staaten ernst zu nehmen. Dies wird ein wichtiges Thema gerade für die rechtsethischen Aspekte der Friedensethik bleiben. Bei allen Auslegungsdifferenzen im Einzelnen bleibt das Konzept der Menschenrechte, die aus sehr unterschiedlichen Quellen geschöpfte Vorstellung einer „Sakralität der Person“ (Hans Joas), ein unverzichtbarer, ebenso konstruktiver wie kritischer, Orientierungspunkt jeder christlich geprägten Friedensethik. 

Mit der Wendung der Friedensethik zum Leitbild der gerechten Friedens war die Erfahrung ebenso wie die Forderung verbunden, „vom Frieden aus“ zu denken. Bei aller realistischen Einschätzung der Gewaltgefährdung politischer Praxis und der menschlichen Gewaltneigung wird damit das biblische Zeugnis von der ontologischen Priorität des Friedens festgehalten. Das ist nicht trivial. Die politische Theorie des Liberalismus, immerhin prominent für das Selbstverständnis der freiheitlichen Demokratie, changiert zwischen Hobbes und Rousseau, zwischen einem düsteren Bild des Politischen als einem Krieg aller gegen alle und dem allzu lichten Bild eines erst durch die Polis zu Konkurrenz und Gewalt verführten Menschen. 

Mit dem Leitbild des gerechten Friedens wird politische Ordnung als Kooperationsordnung, als Freiheits- und Entfaltungsordnung gedacht und zugleich doch die Gefährdung durch Gewalt ernst genommen. Genesis 4, die biblische Genealogie der Gewalt in der Erzählung von Kain und Abel, erinnert an diesen Zusammenhang. Diese innere Spannung zwischen Priorität des Friedens und Gefährdung durch sinnzerstörende Gewalt begegnet in der Friedensethik in der konzeptionellen Spannung zwischen einem Pazifismus kategorischer Gewaltlosigkeit und einer Ethik Gewalt begrenzender und einhegender politischen Institutionen. 

Spannungen aushalten

Beide friedensethischen Grundmodelle, in vielfachen Brechungen und Mischungen auch miteinander verbunden, sind im biblischen Zeugnis verankert und haben ein bleibendes Recht. Evangelische Friedensethik muss diese Spannung aushalten, ohne sie vorschnell zu vermitteln und zu nivellieren. Gegenwärtig jedenfalls scheint die Synthese der pazifistischen und der „realistischen“ Traditionsstränge evangelischer Friedensethik, wie sie in der Friedensdenkschrift 2007 für einen kurzen spannungsvollen Moment gelungen war, nicht auf der Tagesordnung zu stehen. Vielleicht ist es auch für die „Friedenswerkstatt“ zu empfehlen, beide Positionen argumentativ so stark wie möglich durchzuarbeiten, um von dort aus − vielleicht − Übergänge in das jeweils andere Paradigma zu finden.

Was ist nun aus der „Zeitenwende“ und dem „Erwachen zur Wirklichkeit“ geworden? Mit Blick auf die gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen ist Skepsis angebracht. Die Trägheit ist groß und die Fülle der Aufgaben überfordert jeden Arbeitsspeicher. Und die evangelische Friedensethik? In den Gesprächsprozessen scheinen die überkommenen Lager zunächst bei sich selbst geblieben zu sein. Die identitätspolitische Versuchung ist naheliegend: Wenn die Politik zumindest rhetorisch auf „Kriegstauglichkeit“ und militärische Abschreckung setzt, müssten doch wenigstens die Kirche und die evangelische Friedensethik umso energischer bei ihrem Nein zu „Geist, Logik und Praxis der Abschreckung“ bleiben. Damit bleibt man zwar bei sich und vermeidet die Identitätsdiffusion, die sich aus der Begegnung mit einer gewandelten Wirklichkeit ergibt. 

An den gegenwärtigen Aufgaben allerdings geht eine solche Haltung vorbei: Dem russischen Imperialismus und den flagranten, politisch gewollten und unterstützten Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht ist mit aller gebotenen Entschiedenheit und allen vertretbaren Mitteln entgegenzutreten. Die spiegelbildlich entsprechende Versuchung wäre diejenige, die politische Rhetorik der „Zeitenwende“ einfach staatstragend zu verdoppeln, ohne sich den jetzt anstehenden sicherheitspolitischen Dilemmata und Aporien, denken wir nur an die nukleare Abschreckung, in der nötigen Tiefe zu stellen. Es wird interessant sein zu sehen, ob die begleitende Konsultation und der partizipative Prozess im Vorfeld der Arbeit an einem neuen Grundlagentext der EKD sich als produktiv erweist oder ob man sich zu Tode partizipiert – es wäre nicht der erste Prozess, der auf diese Weise scheiterte. 

 

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Roger Mielke

Dr. Roger Mielke, geboren 1964, ist Militärdekan am Zentrum Innere Führung der Bundeswehr in Koblenz und Lehrbeauftragter an der Universität Koblenz und der Universität der Bundeswehr München. Der Theologe und Sozialwissenschaftler war von 1994-2012 Jahre Gemeindepfarrer am Mittelrhein, und von 2012-2018 Oberkirchenrat im Kirchenamt der EKD und Geschäftsführer der Kammer für Öffentliche Verantwortung.


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