Wie hältst du’s mit der hermeneutischen Sorgfalt?

Anmerkungen zu einem Streit um Deutungshoheit an Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen

Die Debatte um die aktuelle Kirchenmigliedschaftuntersuchung (KMU VI) geht weiter. Frithard Scholz, bis 2010 Dezernent im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, beleuchtet auf der Metaebene die Veröffentlichungspraxis aller KMUs. Er stellt fest: Das Langzeitprojekt hat sich von einem Materialpool für „strategische Planung“ hin zu einer PR-Maßnahme entwickelt.

Es konnte nicht lange ausbleiben. Kaum war die KMU VI durch knappe Pressemeldungen als „fertig“ kommuniziert, erscheint das Bändchen „Erste Ergebnisse…“, beides Ende Oktober 2023 – der Termin der Eröffnung der turnusmäßigen EKD-Synode 2023 in Ulm, die als Erörterungsforum gedacht war, drängte. Dass es in Ulm, aus denkbar verschiedenen Gründen, anders kommen würde, war nicht vorhersehbar.

Am Tag der Veröffentlichung der Ergebnisse erscheint auf dieser Website und einen Monat später in der Druckausgabe der „zeitzeichen“ (Dezemberheft 2023) ein KMU-VI-kritischer Artikel dreier Professor*innen [im Folgenden: Anselm&Co]. Man darf ihn – militärische Diktion ist ja seit dem Ukraine-Krieg wieder reputierlich geworden – getrost als „Breitseite“ bewerten; er spricht der KMU VI durch Hinweis auf soziologie-methodische Missgriffe wissenschaftliche Legitimität ab und schwingt sich darüber hinaus zu kirchenpraktischen Empfehlungen auf. Dass die drei Kritiker*innen dem sog. Wissenschaftlichen Beirat der KMU VI angehört haben, mit Gelegenheit, das bemäkelte Fragebogen-Design im Vorfeld seiner Anwendung zu moderieren – das verleiht der Invektive im Nachhinein eine besondere Delikatesse.

Noch bloß einen Monat später ist im der Januar-Ausgabe der „zeitzeichen“ die Entgegnung einer ‚defensiven Dreierkette‘ von EKD-Verantwortlichen zu lesen [in Folgenden: FEW&Co]. Diese Entgegnung wendet sich – detaillistisch an die Widerlegung der methodologischen Vorwürfe fixiert – dem von Anselm & Co Vorgebrachten wie einem Beitrag zum „wissenschaftlichen“ Diskurs zu. Das Eine wie das Andere dito messerscharf dargetan – und doch klingen FEW&Co deutlich „angefressen“.

Diese intuitive Bewertung veranlasst den Kommentator zu einem Kategorien-Switch – anstelle ‚Wissenschaftstheorie‘ eher ‚Psychologie‘ und ‚Historie‘. Warum? Zum einen: die Neigung, die KMU’s als Gesamt-, als Langzeit-Projekt zu bedenken und sie als erst in ihrer Jahrzehnte-Takt-Sequenz von nachhaltigem Interesse zu finden, steht der Bereitschaft entgegen, den vergleichsweise ephemeren darauf bezogenen Sekundär-Publikationen bis in deren letzte argumentative Schnörkel zu verfolgen und so erst mit ungebührlichem Gewicht auszustatten.

Hermeneutik des Verdachts

Zum andern: schon zehn Jahre zuvor, aus Anlass der KMU V, entzündete sich eine ähnliche Interpretations-Kontroverse wie die aktuelle, die zwischen Gerhard Wegner [-and-friends] und Detlef Pollack [-and-friends] – kirchenpraktisch nicht wirklich nachhaltig und religionssoziologisch kaum ergiebig. Die Verbindung von Heftigkeit des Impulses und nur begrenzter Erheblichkeit in der Sache beförderte beim Beobachter den Eindruck, es gehe nicht um Erkenntnisgewinne, sondern um Zustimmungszuwächse beim Publikum – eine Macht- statt eine Wahrheitsfrage.

Das ruft nach „inkongruenten Perspektiven“ (Luhmann), ist Nahrung für die Ausbreitung einer Hermeneutik des Verdachts. Selbst wenn ein imaginärer Punktrichter beim ‚Spielstand Neujahr 2024‘ einen gewissen Punktvorsprung für das EKD-Team zu registrieren hätte – den mittelfristigen Aufwuchs jener Hermeneutik des Verdachts haben sich eher EKD und Kirchenamt zuzuschreiben. Der datiert nach Beobachtungen des Kommentators seit der „Promulgation“ (Verkündung) des sog. Impulspapiers „Kirche der Freiheit“ (2006), das abgekürzt als „KdF“ zu zitieren ich mir immer erlaubt habe. Jenem sogenannten Impulspapier, das die Verwirklichung des großspurigen Ideals „Wachsen gegen den Trend“ herbeiargumentieren wollte, wurde schon bald im Rezeptionsprozess vorgeworfen, einen „Top-Down-Tonfall“ zu pflegen, der einem Kirchenreform-Dialog zwischen Gliedkirchen nicht gemäß sei: ein erheblicher Fauxpas in Sachen Governance. 

Noch viel problematischer als beim Missgriff im Tonfall war indes die Überformung der Logik soziologischer Analyse durchs „Top-Down“-Schema, die zu einer drastischen Unterschätzung der Komplexität des Bestehenden führte: Die von KdF propagierte Umstülpung der Begründungsmuster von Vergangenheit auf Zukunft unterstellt die Gewissheit künftiger Realität dessen, was eine gegenwärtig projizierte Zukunft ist, und die Eindeutigkeit von gegenwärtig zu treffenden Maßnahmen, die als Mittel zur Erreichung jener als Zweck schematisierten Zukunft zu bevorzugen seien. Erst 10 Jahre später sah sich der ‚Architekt‘ von KdF, Vizepräsident Thies Gundlach, in der Lage, strategische Fehler im Ansatz von KdF öffentlich einzuräumen.

Neuartiges Prozedere

Seitdem stehen konzeptionelle Verlautbarungen von EKD und ihrem Kirchenamt unter dem Verdacht, einer Tendenz zur Übergriffigkeit zu folgen – nicht immer, aber immer wieder. Einsetzend mit der Publikationskampagne um KMU V lässt zudem ein neuartiges Prozedere aufmerken.

Von KMU I bis KMU IV war, in Jahrzehnt-Schritten, die folgende Sequenz geläufig: In den ersten beiden Jahren des jeweiligen Jahrzehnts erfolgte die  Durchführung der Untersuchung,  zwei Jahre später die Publikation breiter Zusammenfassung der Erträge (incl. „Fragebögen“ et cetera), weitere zwei Jahre später ein umfangreicher Band mit auswertenden Kommentaren (namhaft gemachter Autor*innen). Bei der KMU III, die erstmals neben der „Fragebogen“-Methode die Methode leitfadengestützter „qualitativer Interviews“ einsetzte, folgte, noch einen Jahresschritt später, eine 2-bändige Dokumentation der Interviews – im Sinne von Transparenz und Urteilsbildung durch die Leser*innen mehr als dankenswert.

Nach den KMU V und VI erscheinen, übertitelt als „Engagement und Indifferenz“ (März 2014) bzw. „Wie hält’s du’s mit der Kirche?“ (November 2023), als Erstes schmale Bändchen, untertitelweise als „Erste Ergebnisse…“ bezeichnet. Eine umfangreichere Publikation der Erträge erfolgt erst durch „Vernetzte Vielfalt“ (2015), ein separater ‚Kommentare‘-Band unterbleibt, wird stattdessen gleich hier integriert, oder ist für „2024“ angekündigt.

Switching der Textgenera

Das Prozedere, „Erste Ergebnisse…“ zu publizieren, bevor die „Daten“-Erträge der jeweiligen KMU öffentlich bekannt sein können, ist bemerkenswert. Es scheint kaum möglich, das anders zu deuten denn als aufwändigen Versuch einer Sprachregelung, um die erst später zugelassene öffentliche Wahrnehmung der sogenannten Daten zu lenken, ja deren „Lesart“ vorzuprägen. Damit bewegt sich das Langzeit-Projekt „KMU“ seinerseits auf die Linie eines „switching“ der Textgenera: von einem Materialpool für kirchenorganisationsinterne „strategische Planung“ (wie das 2023 heißt) über die Bereitstellung einer Dokumentation zunutze der Kirchenzeitgeschichts-Wissenschaft hin zu einer PR-Maßnahme (‚schaut nur, wie souverän wir mit den ‚ungeschönten Realitäten‘ umgehen‘).

Genug der Langzeitperspektive. Nun der Blick auf FEW & Co selber, die ihre Anti-Kritik aufs soziologisch Methodologische fokussieren. Von der Zurückhaltung des Kommentators vor eben dessen Detail-Diskussion, mangels Kompetenz zum Beispiel, zwischen „Clusteranalyse“ und „Faktorenanalyse“ zu unterscheiden (so ein Streitthema zwischen FEW &Co und Anselm & Co), war oben schon die Rede. 

Gleichwohl ist ihm eine programmatische Passage bei FEW & Co aufgefallen, die er abschließend thematisieren muss: „Die Analyse und Interpretation der Daten darf nicht durch eigene kirchenpolitische Vorstellungen manipulativ überformt werden. Vielmehr gilt es, sich schonungslos der sozialen Realität zu stellen. Welche kirchenpolitischen Handlungsoptionen aus Befunden erwachsen, ist erst in einem zweiten, davon strikt unabhängigen Schritt zu fragen; es darf nicht bereits in die Analyse und Interpretation von Daten mit einfließen.“

Der erste Satz klingt einwandfrei. Er repetiert freilich nur die journalistische Hauptnorm, zwischen „Nachricht“ und „Kommentar“ säuberlich zu trennen. Aber so gut gemeint sie ist: sie lässt sich noch nicht einmal in der Zeitung wirklich befolgen. Keine ‚puren‘ Beschreibungen von Passiertem, ohne dass dazu kommunikativ ‚wert-besetzte‘ sprachliche Ausdrücke erforderlich wären!

Defensive AntiKritik

 Im wissenschaftstheoretisch aufgeladenen Kontext der aktuellen KMU-VI-Kontroverse darf erinnert werden an die hermeneutische Kritik an der „positivistischen“ Hoffnung, eine vermeintlich meinungs-neutrale Wissenschaft lasse sich auf die Unbestreitbarkeit von „Basissätzen“ oder „Protokollsätzen“ gründen. Der Kommentator wähnte sich in der Überzeugung, jenes „Basissatz“-Modell möglichen Wissens sei durch Habermas‘ Widerlegung von Popper – im 1960er-Jahre Kontext des sogenannten Positivismusstreits der Deutschen Gesellschaft für Soziologie – abschließend erledigt. Leider irrtümlich.

Denn es muss festgestellt werden, dass FEW & Co ihre defensive AntiKritik an Anselm & Co eben darauf stützen. Die Explikation jener „Protokollsatz“-Hoffnung durch die normative Vorstellung zweier „Schritte“ – erst „sich schonungslos der sozialen Realität […] stellen“, sodann „strikt unabhängig“ nach „kirchenpolitischen Handlungsoptionen“ fragen! – bekräftigt das. Aber so geht es ja nicht. Und dass es nicht geht, klinisch rein („strikt unabhängig“) zwischen Feststellen und immer schon deutungsgeladenem sprachlichen Bezeichnen zu unterscheiden, bestätigen die Ausführungen von FEW & Co selber: allein schon wenn etwa sie gegen Anselm & Co geltend machen, „dass [bestimmte; FS] Items das Vorliegen kirchenferner Religiosität gut indizieren (und das war der empirische Befund, keine theoretische Setzung)“ – was für eine voraussetzungsreiche Aussage!

Die faktischen Schwierigkeiten, eben darüber zum Konsens zu gelangen, sind es, was den Streit um Deutungshoheit an Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen so zäh, letztendlich nichtendenwollend, macht. Hier konnte nur darauf aufmerksam gemacht werden, wieder einmal.

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Foto: privat

Frithard Scholz

Frithard Scholz ist Pfarrer i.R. und arbeitete zuletzt bis 2010 als Dezernent (Theologische Ausbildung, Gemeindedienste, Gottesdienst, Kirchenmusik) im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck in Hofgeismar.


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