Abenteuer Europa

Warum es nötig ist, eine Theologie der Diaspora zu entwickeln
Die evangelische Pfarrkirche, die Christuskirche, in der Stadt Salzburg.
Foto: picture alliance
Die evangelische Pfarrkirche, die Christuskirche, in der Stadt Salzburg.

Minderheit zu sein, das ist inzwischen die Lebensrealität der meisten Protestanten in Europa. Um dieses Abenteuer bestehen zu können, sei eine Theologie der Diaspora zu entwickeln, fordert der evangelische Pfarrer Karsten Matthis.

Die Mitgliederuntersuchung beider Kirchen (KMU 6) hat eine neue Nachdenklichkeit ausgelöst. Laut der Studie ist die Bereitschaft unter evangelischen und katholischen Kirchenmitgliedern erheblich gestiegen, ihre Kirche zu verlassen. Nur noch 35 Prozent der evangelischen Mitglieder bekundeten, dass für sie ein Austritt nicht infrage komme. Noch vor elf Jahren konnten sich drei Viertel ein Verlassen der Evangelischen Kirche nicht vorstellen. Sorgen muss den Kirchen auch bereiten, dass nur noch 19 Prozent der deutschen Bevölkerung glauben, dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus offenbart hat. Eine religiöse Entfremdung scheint sich noch schneller zu vollziehen, als es von der Freiburger Studie im Jahr 2019 prognostiziert wurde. Diese Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung mögen beunruhigend sein, jedoch sind sie für Europa nicht atypisch. 

Eine Minderheitensituation

Das Thema Religion in Europa scheint im 21. Jahrhundert immer mehr an Bedeutung zu verlieren. Sinkende Mitgliederzahlen in den europäischen Kirchen sind ein Indiz dafür: Von den rund 60 Prozent der Europäer, die angeben, Christinnen und Christen zu sein, bezeichnen sich nur noch elf Prozent als evangelisch. Protestantische Kirchen und ihre Gemeinden geraten zunehmend von Oslo bis Athen in eine Minderheitensituation.

Der Schrumpfungsprozess der Kirchen der Reformation basiert nicht nur auf der europaweiten demografischen Entwicklung, dass mehr Christenmenschen sterben als getauft werden. Es spielen auch vielfältige regionale Aspekte eine Rolle. In den Staaten der Europäischen Union entwickelt sich eine „forcierte Säkularisierung“, welche breite Schichten der Bevölkerungen längst erreicht hat. Während auf anderen Kontinenten das Interesse an Religiosität wächst, bildet Europa hierzu ein Gegenmodell. Die Zahl an Taufen und kirchlichen Eheschließungen sinkt europaweit. Eine Entfremdung vom Glauben und eine Distanz zu den Kirchen wird familiär vererbt. Christliche Traditionen werden weniger gelebt. Es fehlen in vielen europäischen Parlamenten überzeugte Christinnen und Christen, die aus ihrem Glaubensverständnis heraus eine werteorientierte Politik initiieren. Wenn Glaube immer mehr zur Privatsache degeneriert, dann ist er in der Gesellschaft weniger sichtbar.

Für viele Europäerinnen und Europäer hat der Glaube an Relevanz verloren, und eine Bindung zur Kirchengemeinde vor Ort ist kaum vorhanden. Wenn Religion aus dem Leben vieler Einzelner verschwindet, dann hat dies Konsequenzen für die Gesellschaften. Bei weiter sinkenden Mitgliederzahlen wird es immer weniger möglich sein, ein vielfältiges Netz sozialer und kultureller Angebote aufrechtzuerhalten.

Ein Blick auf verschiedene Kirchen Europas bestärkt diese Beobachtung einer „forcierten Säkularisierung“: In Österreich, im Land der Gegenreformation, hat die evangelische Kirche über Jahrhunderte an ihrer Ausgrenzung gelitten. Das so genannte Toleranzpatent von 1781 durch Kaiser Joseph I. gewährte der evangelischen Minderheit nur bescheidene Rechte. Erst im Jahr 1961 erreichte die evangelische Kirche Österreichs mit dem so genannten Protestantengesetz eine Gleichstellung mit dem Katholizismus. Aktuell gehören den evangelischen Kirchengemeinden 265 000 Mitglieder an. Im Jahr 1962 waren es noch 430 000 Mitglieder. Im Jahr 2022 traten 5 988 Menschen aus der evangelischen Kirche Österreichs aus. In der Konfessionsstatistik liegt der Protestantismus an vierter Stelle hinter Katholiken, Muslimen und Orthodoxen. Im Streit um die Abschaffung des Karfreitags im Jahr 2019 bezog die evangelische Kirche Österreichs klar Position und zog vor das Verfassungsgericht, scheiterte aber mit ihrer Klage. Anstelle des Karfreitags wurde ein beweglicher Urlaubstag eingeführt, den die Arbeitnehmer individuell festlegen können.

In der Schweiz sind die reformierten Landeskirchen und ihre Mitglieder ebenfalls zur Minderheit geworden. Nur noch 23,8 Prozent der eidgenössischen Bevölkerung sind reformiert. In den einstigen Zentren der Reformation, Zürich mit 30 Prozent und Genf mit 10 Prozent, steht den Reformierten eine Mehrheit aus Konfessionslosen und Katholiken gegenüber. Wie in Österreich zeigt sich auch in der begüterten Schweiz eine religiöse Indifferenz, insbesondere in den französisch sprechenden Kantonen. In den Niederlanden ist der Prozess der Säkularisierung noch weiter vorangeschritten. In der Metropole Amsterdam bekennen sich nur noch 2,5 Prozent der Bevölkerung zum Protestantismus. Der Zusammenschluss der evangelischen Kirchen konnte den Relevanzverlust nicht aufhalten. Wie der Protestantismus hat aber auch der Katholizismus seinen ehemals starken Einfluss in Politik und Gesellschaft verloren. Die einstige so genannte Versäulung der Gesellschaft in protestantisch, katholisch und sozialdemokratisch orientierte Niederländerinnen und Niederländer ist längst Geschichte.

In Skandinavien befürwortete eine Mehrheit der Bevölkerung eine stärkere Trennung zwischen lutherischer Nationalkirche und Staat. Eine Konsequenz aus diesem Trennungsprozess ist, dass die lutherischen Kirchen in den nordischen Gesellschaften weniger wirksam sein können. Anders als in Finnland, Norwegen und Dänemark oder Island ist in Schweden eine „forcierte Säkularisierung“ verstärkt zu beobachten. Das Eurobarometer, verantwortet von der Europäischen Kommission, zeigte diese Entwicklung bereits im Jahr 2010 an, in welchem sich nur 18 Prozent der schwedischen Bevölkerung zum Glauben an den einen Gott bekannten. Im Bereich der EU wurde ein Durchschnittswert von 51 Prozent ermittelt. Der Stockholmer Soziologe und Religionswissenschaftler David Thurfjell analysiert die religiöse Situation als „nachchristlich säkular“. Die große Mehrheit der Schweden schätze eine religionslose Gesellschaft und halte die lutherische Kirche in ihrem Glaubensverständnis für veraltet.

Im Baltikum vertritt die lutherische Kirche Lettlands einen strikt konservativen Kurs. Bei der Frauenordination und der Trauung von gleichgeschlechtlichen Paaren orientieren sich die Letten an Altlutheranern wie der deutschen SELK und der US-amerikanischen Missouri-Synode. Im katholisch geprägten Litauen stellen Lutheraner und Reformierte ohnehin nur eine Minderheit dar. Der aufgezwungene Atheismus aus sowjetischer Zeit hatte die evangelischen Kirchen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Ein kirchlicher Neuanfang nach dem Ende russischer Herrschaft stellte sich nach der erzwungenen Entchristlichung als schwierig heraus. Die reformatorischen Kirchen im ehemaligen Osteuropa litten ebenso unter der Ära des Kommunismus. Ihnen wurde diakonisches Wirken untersagt und ihre Öffentlichkeitsarbeit stark eingeschränkt. In Tschechien leidet der Protestantismus zudem unter seiner Zersplitterung. Neben theologischen Differenzen trennen sprachliche Barrieren die kleinen evangelischen Kirchen wie Lutheraner, Böhmische Brüder und Hussiten voneinander. Zu einer Volkskirche konnten die evangelischen Kirchen in einem Umfeld der Habsburger Monarchie nicht reifen. Der Religionssoziologe und Priester Tomas Halik (geboren 1948), ein katholischer Intellektueller, der in seinem Land gehört wird, warnt jedoch vor der Annahme, dass Konfessionslosigkeit gleich Religionslosigkeit bedeute. Durch die Migration der deutschsprachigen Minderheit haben die evangelischen Kirchen Rumäniens in den vergangenen Jahrzehnten stark an Mitgliedern verloren. Staatspräsident Klaus Johannis als Siebenbürger Sachse gehört der evangelischen Minderheit an und bekennt sich zu seiner Konfession. Johannis, Repräsentant von zwei Minderheiten, wurde im Jahr 2019 wiedergewählt. Tonangebend in einer immer noch religionsaffinen Gesellschaft bleibt die rumänische Orthodoxie.

Überwundene Streitthemen

In Ländern, in denen sich eine Reformation aufgrund der osmanischen Herrschaft nicht ereignen konnte, sind die evangelischen Kirchen schon vor Jahrhunderten in einer Diaspora-Situation. Beispiele hierfür sind Albanien und Bulgarien, in denen aber die Orthodoxie gefestigt erscheint. In den Staaten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens behindern Streitigkeiten um Eigentum und weitere Rechtsunsicherheiten die Aktivitäten der evangelischen Minderheitskirchen.

In Griechenland versuchten amerikanische Missionare im 19. Jahrhundert, evangelische Gemeinden zu gründen. Diese missionarischen Bemühungen stießen aber auf heftigen Widerstand der orthodoxen Staatskirche, die fest mit dem griechischen Staat verwoben ist. In Griechenland zählt die reformierte Kirche aktuell 5 000 Mitglieder.

In Süd- und Südosteuropa leben evangelische Gemeinden seit Jahrhunderten in einer Diaspora-Situation. Dies trifft vor allem auf Spanien und Portugal zu. Unter den Diktaturen Francos und Salazars wurde der Katholizismus zur Staatskirche emporgehoben und die evangelischen Minderheiten wurden als etwas Fremdes im Land diskriminiert. Evangelischen Pfarrern wurde der Zutritt zur Rentenkasse beispielsweise in Spanien lange verwehrt. Erst nach der Demokratisierung der beiden Länder wurden den evangelischen Gemeinden weitgehende Rechte zugestanden. Wie können evangelische Kirchen Europas mit dem Mitgliederrückgang und einer sich verschärfenden Säkularisierung umgehen? Die Leuenberger Konkordie hat den Weg einer innerprotestantischen Versöhnung gewiesen. Alte innerevangelische Streitthemen wie das Verständnis vom Abendmahl wurden überwunden. Eine geeinte evangelische Kirche wird in den europäischen Gesellschaften gesellschaftlich stärker wahrgenommen als verschiedene kleine Kirchen. Die Kirchen der Reformation haben „Salz der Welt“ zu sein, sich gesellschaftlich einzubringen und ihr reformatorisches Erbe, ihre Theologie und ihr Verständnis von Kirche sichtbarer werden zu lassen. Eberhard Jüngel (1934–2021) hat im Jahr 1992 in einem Vortrag bei der europäischen evangelischen Versammlung in Budapest (GEKE) auf die befreiende Kraft der Lehre von der Rechtfertigung hingewiesen. Über die GEKE hinaus muss sich der Protestantismus weiter zusammenschließen. Werke, Verbände und Initiativen könnten sich europaweit aufstellen. Theologische Hochschulen und Akademien müssen sich noch stärker vernetzen, um europaweit Studentinnen und Studenten sowie Interessenten zu gewinnen.

Heutige evangelische Großkirchen, die weiter zusammenschmelzen werden, können von kleinen Kirchen wie den Waldensern lernen. In Italien widmen sich die Waldenser sozialen Brennpunkten, versuchen nicht, eine flächendeckende Diakonie zu betreiben. Sinnvoll erscheint eine Fokussierung auf wenige Themen und Projekte.

Als „protestantisches Abenteuer in einer nicht-protestantischen Umwelt“ beschrieb einst der österreichische Theologe Wilhelm Dantine (1911–1981) die evangelische Diaspora-Situation in Europa. Minderheit zu sein, entspricht der Lebensrealität der meisten Evangelischen in Europa. Um dieses Abenteuer bestehen zu können, ist es dringend nötig, eine Theologie der Diaspora zu entwickeln. 

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kirche"