Das ungeliebte wilde Kind

Die Circus- und Schausteller-Seelsorge ist gefährdet. Dabei kann Kirche hier viel für ihre Zukunft lernen
Der evangelische Pfarrer Torsten Heinrich beim Gang über die historische Kirmes auf dem Pützchens Markt in Bonn.
Foto: epd-bild/Ebba Hagenberg-Miliu
Der evangelische Pfarrer Torsten Heinrich beim Gang über die historische Kirmes auf dem Pützchens Markt in Bonn.

Dass schon in dem Begriff Kirmes die Kirche steckt, muss man Schausteller-Familien nicht erklären. Vielleicht aber den Finanzverantwortlichen der Kirche? Denn die EKD will bei der Circus- und Schausteller-Seelsorge (CSS) in den kommenden Jahren etwa 70 Prozent sparen und gefährdet damit die Zukunft dieser Arbeit. Doch gerade mit Blick auf die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung sei das ein fataler Fehler, meint Friedrich Brandi, seit 13 Jahren CSS-Pastor für Hamburg und Umgebung.

Die Evangelische Circus- und Schausteller-Seelsorge (CSS) ist so etwas wie das Stiefkind der EKD. Und wie so oft, war die ganze Familie zunächst begeistert von dem Zuwachs. Das Kind war ein bisschen frech und ungewöhnlich, gleichzeitig hatte es jedoch einen Charme versprüht, der viele in den Bann gezogen hat – originell und belebend. So konnte es sich im Laufe der Zeit Respekt im Familienbetrieb Kirche verschaffen. Der aber war immer verknüpft mit etwas hochnäsiger Nachsicht und einem gewissen Amüsement, das man Stiefkindern gerne zukommen lässt. Die Geschwister und manchmal auch die Mutter waren oft neidisch, weil sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit eher um das Stiefkind als um die anderen Geschwister drehte.

Zwar sagte sich die große Familie: „Großartig, was es alles so anstellt – was für eine Bereicherung!“ Aber nach und nach wurde aus dem Stiefkind ein „Bankert“, ein nicht-eheliches Kind, wie es früher etwa der Bauer mit der Magd gezeugt hat. Es wuchsen Ressentiments gegenüber diesem Sonderling, weil sich die Familie doch eher zum Bürgertum hingezogen fühlte. Sie wollte sich lieber mit Akademikerinnen, CEOs und Aufsichtsräten abgeben als mit dem niederen Volk der Jahrmarktbeschicker und Artisten vom Zirkus. Diese können oft ja noch nicht einmal richtig lesen und schreiben. Damit wollen wir lieber nichts zu tun haben. Dieser Bankert passt nicht zu uns, wurde hinter vorgehaltener Hand getuschelt, und so beschloss der Familienrat, ihm den Unterhalt zu streichen – allerdings möglichst so, dass es niemand merkt. Was geht uns dieser Bankert an, wurde jetzt geraunt. Die große Welt wird es so und so nicht merken, wenn er nicht mehr zur Familie gehört.

Wer sich, wie die Circus- und Schaustellerseelsorge, pastoral verantwortlich fühlt für die Jahrmarktbeschicker und Zirkusbetreiber macht immer wieder genau diese Erfahrung. Einerseits: „Toll, dass es die CSS gibt und Ihr das macht“, und dabei lässt man sich gerne erzählen von Taufen im Autoscooter, Trauungen im Bierzelt oder von Beerdigungen, zu denen selbst in der Coronazeit Hunderte aus ganz Deutschland angereist kommen, die bei reichlich verteilten Begrüßungsküsschen schon mal auf die FFP2-Maske verzichten. Das ist originell und irgendwie spannend. Ja, so müsste Kirche sein, wird dann begeistert erzählt. Andererseits wird aber milde und nachsichtig gelächelt – und zur Tagesordnung übergegangen.

Und die sieht dann so aus, dass die EKD laut Synodalbeschluss über die Neuorientierung der Finanzstrategie – Drucksache IX b/1 – innerhalb der kommenden sieben Jahre die Mittel für die Arbeit der CSS um 70 Prozent kürzen will und damit die Zukunft der gesamten Arbeit in Frage stellt.

Doch da sei Gott vor. Und zwar deswegen: Die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsstudie (KMU 6) hat herausgefunden, dass die Kirchen inzwischen eher die Etablierten anziehen „und der Kontakt zu den sozial Ausgegrenzten und Marginalisierten der Gesellschaft weniger intensiv ist. Eine solche Entwicklung (…) hat typischerweise eine sich selbst verstärkende Wirkung. Um daraus wieder auszubrechen, sind neue Formen kirchlichen Handelns wie zum Beispiel eine konsequente Sozialraumorientierung nötig.“ (85) Jetzt ließe sich einwenden, dass die CSS natürlich keine klassisch sozialraumorientierte Tätigkeit der Kirche ist, aber wenn man allein den Hamburger DOM mit seinen etwa zweieinhalb bis dreitausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nimmt (die Besucher müssen dazugerechnet werden), lässt sich schon von einem beachtlichen Sozialraum sprechen. Die Cranger Kirmes, der Stuttgarter Wasen oder das Oktoberfest in München sind zwar kürzer, aber erheblich größer und nähern sich in der Besucherzahl einer Großstadt auf Zeit an.

Freie Liturgie

Ebenfalls wird im Resümee der KMU 6 darauf hingewiesen, „dass es nicht da­rum geht, sich innerhalb der traditionellen Strukturen zu öffnen oder auf andere Bevölkerungsgruppen zuzugehen, sondern dass dafür ganz neue Formen kirchlichen Handelns erforderlich sind (...)“. (85) Die CSS praktiziert diese „ganz neuen Formen“ bereits, indem sie Gottesdienst in weitgehend freier Liturgie an jenen Orten feiert, an denen die Menschen leben und arbeiten. Doch das wird kaum wahrgenommen, weil es bei dieser kirchlichen Tätigkeit um Menschen geht, die eben nicht im Zentrum der gesellschaftlichen und – leider auch – kirchlichen Aufmerksamkeit stehen. Denn Banker, Anwältinnen oder Oberkirchenräte gehen eben nicht zum Stadtteilzirkus oder auf die Kirmes – allerhöchstens den Kindern zuliebe.

Dabei – und das nimmt in der EKD offensichtlich niemand wirklich zur Kenntnis – handelt es sich oft um sehr potente Kirchensteuerzahler, denen die Kirchen­oberen in anderen Milieus eher hinterherlaufen. Schausteller und Artisten sind in der Regel außergewöhnlich fromme Menschen. Das mag damit zu tun haben, dass sie entscheidende und zentrale Faktoren ihres Geschäftslebens nicht in der eigenen Hand haben. Denn, ob sie eine Genehmigung für den Aufbau ihres Fahrgeschäfts bekommen (und damit den Kredit, wie geplant, tilgen können) oder ob ihnen ein Platz für ihren Zirkus zugewiesen wird, das lässt sich nicht verlässlich planen. So sind zum Beispiel viele Plätze der Stadtteil-Zirkusse durch die Errichtung von Erstunterkünften für Asylsuchende innerhalb einer Saison verloren gegangen. Und Schausteller können nicht voraussehen, ob das Wetter gut wird und die Menschen ihre Angebote wirklich annehmen.

Ebenso spielt die allgemeine wirtschaftliche Lage unserer Gesellschaft eine entscheidende Rolle, also die Frage, ob das Gehalt der jahrmarktwilligen Eltern ausreicht, mit ihren zwei oder drei Kindern eine Kirmes zu besuchen. Hinzu kommen gesellschaftliche Großereignisse wie Fußballweltmeisterschaften oder jüngst die Coronaauflagen und Ähnliches mehr. Das Geschäftsmodell der Zirkusse und Jahrmärkte ist wenig verlässlich.

Auf dem Seil

Diese besonderen Arbeits- und Lebensumstände schärfen die Sinne für Fragen von Religion und Glaube, in denen es ja auch immer wieder um Unverfügbares geht. Die CSS ließe sich durchaus beschreiben als eine besondere Form der Verkündigung, indem in dieser besonderen Gestalt der Verkündigung die freie Religiosität der Schausteller und Artisten mit der christlichen Tradition verknüpft wird. Oder: indem der unbestimmte, von den Schaustellern nicht wirklich artikulierbare christliche Glaube biblisch fundiert wird. „Ein Artist ist zum Beispiel ein gläubiger Mensch, weil zwischen ihm und der Erde nur einer ist, und das ist Gott. Wenn er oben auf dem Seil steht und runterfällt, gibt es nur einen, der ihn beschützen kann, sonst keiner mehr“, heißt es in einem von Kristin Merle und anderen herausgegebenen Buch zum Thema.

Die KMU 6 hat herausgefunden, dass Religiosität und Kirchlichkeit nicht einfach gleichzusetzen sind. Das ist im Blick auf die Bevölkerung einer Metropole wie Hamburg oder Berlin natürlich keine Überraschung. Bei den Schaustellern bekommt diese Erkenntnis aber noch einen anderen Zungenschlag. Schausteller und Artisten haben nämlich eine ausgesprochen enge Bindung an die Kirche als In­stitution und zahlen verlässlich ihre (häufig ausgesprochen hohe) Kirchensteuer.

Diese Bindung an die Kirche ist gewachsen durch die jahrzehntelange Begleitung durch Schaustellerpastoren und -pastorinnen, die Taufen, Trauungen und Trauerfeiern gestalten oder sogar Konfirmandenunterricht geben. Die wenigsten Schausteller sehen eine Kirche von innen, zum einen, weil sie fast immer am Wochenende arbeiten, zum anderen aber, weil ihnen die Formen (Liturgie, Raum) und die Sprache der Kirche (Bibel, Gebete und die traditionellen Metaphern) fremd sind – wie allerdings den meisten Menschen unserer Zeit mittlerweile auch. Freilich gibt es durchaus Ausnahmen, wenn, wie in vielen Städten vor dem Pfingst- oder Weihnachtsmarkt, ein großer Eröffnungsgottesdienst mit ansprechender Liturgie gefeiert wird. Dennoch gilt: Mit den Gottesdiensten im Bierzelt oder auf dem Autoscooter sowie mit einer Sprache, die deutlich milieuverbunden ist, verfestigt sich für die Schausteller und Artistinnen ihre Auffassung, dass die Kirche als Institution das angemessene Haus für Religion und Glaube ist. Unter den Schaustellern, die den Kontakt zur CSS pflegen, ist die Bindung an die Kirche eher eng und verlässlich und das Vertrauen in die Amtspersonen sehr ausgeprägt.

Auch wenn der Konfirmandenunterricht oft nur komprimiert stattfinden kann, so werden die Jugendlichen in dieser kurzen Zeit mit der Bibel sowie mit der kirchlichen Tradition (Festtagskalender) und der Diakonie vertraut gemacht. Zudem entsteht in dieser Zeit ein so großes Vertrauensverhältnis, dass die Jugendlichen mit den zuständigen CSS-Pastorinnen und Pastoren im Gespräch bleiben und ihre Fragen zu Glauben und Kirche, aber auch zu Aberglauben und Spiritismus zu formulieren wissen. Wer getauft und konfirmiert ist, lässt sich fast immer auch kirchlich trauen. Und die Kinder aus diesen Ehen werden in der Regel ebenfalls getauft und konfirmiert. Hier funktioniert die Traditionsvermittlung erstaunlich gut. Noch. Dadurch, dass sich das Schaustellerleben wie in einem virtuellen, über ganz Deutschland verstreuten Dorf abspielt, in dem jeder jeden kennt (was natürlich nicht immer nur schön ist), werden Gottesdienste und Kasualien (vor allem Trauerfeiern) weit über den lokalen Anlass hinaus sehr häufig als „kirchliches Großereignis“ wahrgenommen. Nun hat die KMU 6 im Vergleich zu früheren Untersuchungen herausgefunden, dass die Gebildeten in unseren Kirchen überrepräsentiert sind. Das lässt sich an wachsenden Kirchengemeinden in „wohlhabenden Stadtteilen“ belegen, während in „ärmeren Stadtteilen“ die Gemeindegliederzahlen seit Jahren sinken. So sieht die KMU 6 die Gefahr heraufziehen, „… dass die im ‚Bildungsprozess Zurückbleibenden und Zurückgelassenen‘ auch im kirchlichen Leben kaum mehr vorkommen und dieses vornehmlich durch höher Gebildete geprägt wird.“ (83) Die Untersuchung spricht hier von einer kirchlichen „Milieuverengung“, die alles andere als zufällig sei. „In ihr spiegelt sich einerseits das Phänomen, dass sozial Benachteiligte und Marginalisierte auch in der Kirche tendenziell keine Heimat mehr sehen, andererseits die oft ‚Modernisierung‘ genannte Auflösung von Traditionen im Rahmen des kulturellen Wertewandels bei den jüngeren Generationen. Deshalb stecken hinter der kirchlichen Milieuverengung vor allem zwei Fragestellungen: Wie können die Kirchen vermeiden, dass die sozial ohnehin schon Ausgegrenzten sie nicht mehr als Ansprechpartnerinnen wahrnehmen? Wie können die Kirchen mit dem Wertewandel Schritt halten?“ (84)

Die CSS hat es überwiegend mit Menschen mit geringer Schulbildung zu tun, oft sogar mit Analphabeten, die nie eine Schule besucht haben oder aufgrund der Lebensbedingungen besuchen konnten. Gerade diese Klientel ist überaus dankbar für die Zuwendung durch die Kirche und deren Vertreter_innen. „Wenigstens von der Kirche werden wir wahr- und ernst genommen“ – das ist so etwas wie ein Grundgefühl von Artisten und Schaustellerinnen, die in ihrem Alltag fast ständig als Bittsteller auftreten müssen und eher mit spitzen Fingern angefasst werden – manchmal gerade weil sie so hartnäckig für ihre Sache eintreten (müssen).

Es wäre natürlich vermessen zu behaupten, die Circus- und Schaustellerseelsorge wäre die angemessene Antwort auf die oben zitierten Fragen der Untersuchung. Aber ich möchte die Behauptung wagen, dass auf viele der in der KMU 6 aufgezeigten Herausforderungen die Arbeit der CSS schon längst reagiert. Den Strategieüberlegungen der EKD stünde es gut an, auf diesem bereits Bestehenden aufzubauen, anstatt ein traditionelles Tätigkeitsfeld, das von der KMU 6 eingefordert wird, auch noch von der Bildfläche verschwinden zu lassen und möglicherweise neue Institute oder Werke aus dem Boden zu stampfen, die der beklagten Milieuverengung der Kirche entgegenwirken sollen. 

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