Revolutionäre Erkenntnis

Klartext

Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Jürgen Kasiser. Er ist Pfarrer i.R. in Stuttgart.

Auf Augenhöhe

Miserikordias Domini, 14. April

Und sie nannte den Namen des Herrn, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht. (1. Mose 16,13)

Papst Franziskus hat in seiner Neujahrsansprache ein weltweites Verbot der Leihmutterschaft gefordert. Aber hier haben wir die Geschichte einer Leihmutter, die Gott durch einen Engel als eigenständige Person anspricht. Und die Geschichte der Leihmutter Hagar bedeutet eine Umstürzung der bis dahin geltenden Werte.

Sie ist eine persönliche Sklavin Saras, der Frau Abrahams. Der Patriarch kann deshalb nicht über Hagar verfügen. Und weil Sara davon ausgeht, keine Kinder mehr zu bekommen, fordert sie Abraham auf, mit ihrer Sklavin zu schlafen. Wenn diese schwanger würde, würde sie das Kind auf den Knien ihrer Herrin sitzend gebären. Und dann wäre es rechtlich das Kind der Herrin.

Hagar wird schwanger. Und weil sie für Nachwuchs sorgt, wird sie in der Großfamilie geachtet. Aber dadurch fühlt sich Sara missachtet und lässt es Hagar so massiv spüren, dass diese in die Wüste flieht. Dort wird sie aber von Gott gerettet. Durch einen Boten begegnet er Hagar, gibt dem Kind einen Namen und bestimmt, dass es ihres ist – und bleiben wird. Auch das widerspricht dem damals geltenden Recht. Denn danach gehört das Kind Sara, und nur ihr Mann Abraham kann einen Namen vergeben.

Aber dann geschieht noch etwas: Hagar spricht Gott direkt an und bezeichnet ihn als „Gott, der mich sieht“. Was für ein Gottesbild. Damals sahen die Menschen Götter und verehrten sie in Statuen. Gottheiten wohnten in ihren Abbildungen. Diese standen in Tempeln, um die Kriege geführt wurden. Und waren die Götterstatuen des Gegners zerstört oder verschleppt, waren die Kriege beendet.

Ganz anders verhält es sich mit Abrahams Gott. Ihn kann man nicht in einer Statue einfangen. Er kommt vielmehr zum Menschen und begegnet ihm auf Augenhöhe, nimmt ihn wahr und damit ernst.

Dieser Gott wirbelt auch die menschlichen Macht- und Herrschaftsstrukturen durcheinander. Die erste Frau, der Gott in der Bibel begegnet, ist ausgerechnet eine Sklavin aus Ägypten. Obwohl sie auf der untersten sozialen Stufe steht, gibt Gott ihr einen Namen. Und der hebt hervor, was den Gott, den wir unseren Vater nennen, auszeichnet: Er sieht und hört dich. Weil er dich gernhat. Diese Aussage ist revolutionär, enthält eine einzigartige Gotteserkenntnis.

Heilende Kräfte

Jubilate, 21. April

Denn wir wissen, dass der, der den Herrn Jesu auferweckt hat, wird uns auch auferwecken mit Jesus und wird uns vor sich stellen samt euch (…). Darum werden wir nicht müde; sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert. (2. Korinther 4,14+16)

Das Grundgefühl, das dieses Jahr bisher prägt, ist das Schwinden aller Sicherheit: Corona ist noch nicht überwunden, in Europa wird Krieg geführt, völkisches Denken erwacht, das Vertrauen in die Regierung schwindet, und manche Mitbürger werden komischer.

Aus Unsicherheit stellt man alles Bestehende in Frage. Und das war in der Hafenstadt Korinth im Jahr 55 nach Christus ähnlich. Nicht wegen der Weltpolitik, sondern wegen der Zukunft der Christengemeinde. Paulus hatte sich mit der weltoffenen, globalisierten Stadt und ihrer christlichen Gemeinde auseinandergesetzt wie mit keiner anderen in der damaligen Welt. Kaum zog er weiter, erschienen Apostel, die die Gemeindeglieder verwirrten. Diese Männer traten weltmännisch und charismatisch auf, und viele korinthische Christen zweifelten an Paulus. Der nannte die Blender „Überapostel“, denn sie wirkten wie Gift in der Gemeinde. Er kämpfte um sein Apostelamt und schrieb Briefe. Paulus verwies auf die Schwachheit seines Körpers und zunehmende Altersbeschwerden, um so die Größe und Stärke des Geistes Gottes zu beweisen. Deshalb erinnerte Paulus auch an das Leiden Jesu und pries zugleich dessen Auferweckung durch Gott.

Der Völkerapostel drückte sich in der Sprache und Denkweise seiner gebildeten griechischen Mitchristen aus, indem er zum Beispiel zwischen dem äußeren und dem inneren Menschen unterschied. So verstanden sie, dass beide sich nicht gegenseitig bedingen. Paulus beschrieb ausgerechnet anhand seines körperlichen Verfalls Gottes Handeln und seine Größe. Aber mit dieser Dialektik konnten Griechen etwas anfangen.

So konnte der Apostel auch von der zukünftigen Auferstehung reden, selbst wenn alle Realitäten so aussahen, als ob es keine Zukunft gäbe. So konnte er bekennen, dass alle Glaubenden eine Zukunft haben. Damit konnte er begründen, warum trotz allem nicht nur er, sondern Christen überhaupt, nicht müde werden.

Diese Botschaft passt zum Sonntag Jubilate. Wir werden nicht müde! Das ist kein Appell, sondern die Beschreibung eines Zustandes. Weil Christen um die Auferstehung wissen, weil ihnen zugesprochen ist, mit dabei zu sein, geben sie diese Welt – mag alles noch so unsicher aussehen – nicht auf. Weil Gott sie auch nicht aufgibt.

Paulus beschreibt die Selbstheilungskräfte des Glaubens. Und darauf kann man in Zeiten der Unsicherheit bauen.

Jüdische Wurzeln

Kantate, 28. April

Und ich sah, wie sich ein gläsernes Meer mit Feuer ver­mengte, und die den Sieg behalten hatten über das Tier und sein Bild und über die Zahl seines Namens, die standen an dem gläsernen Meer und hatten Gottes Harfen und sangen das Lied Moses, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes. (Offenbarung 15,2–3a)

Im Osten des römischen Reiches (dem Gebiet der heutigen Türkei) wurde der römische Kaiser besonders verehrt – wie ein Gott. Dort lebten Christengemeinden, die sich – wie in Ephesus und Pergamon – dem johanneischen Kreis zugeordnet fanden. In diesem entstand nicht nur ein Evangelium, sondern es entstanden auch die Briefe und die Offenbarung, alle vereint unter einem charismatischen Namen: Johannes.

Die Gemeinden des johanneischen Kreises waren zwar von hellenistischem Denken geprägt, aber grenzten sich sowohl gegen die Theologie des Paulus ab als auch gegen den römischen Staatskult und die griechisch-römische Gesellschaft.

Die größte Herausforderung für die Christen waren damals nicht Verfolgungen, sondern die Integration in die Gesellschaft. Denn um 90 und 110 nach Christus herrschten in Kleinasien wirtschaftlicher Aufschwung und staatliche Liberalität. Die Gelehrten sind sich zwar uneins, wann genau die Johannesoffenbarung geschrieben wurde. Aber in dem Zeitraum, in dem sie wohl verfasst wurde, ging es den Menschen jedenfalls gut. Und sie erlagen manchen Verlockungen. Hier setzt Johannes an und beschreibt die christliche Existenz als Entscheidung zwischen Gut und Böse, christlich und heidnisch. Es gibt eben nur schwarz oder weiß. Und zwischen ihnen muss man sich entscheiden. Für Johannes ist der römische Kaiser nicht mehr die Obrigkeit, der man gehorchen soll, wie Paulus im 13. Kapitel des Römerbriefs betont, sondern „das Tier“. Der Kaiserkult wird komplett abgelehnt. Dabei war er im Osten mit dem alltäglichen Leben verbunden.

Johannes erinnert seine Mitchristen an den Auszug der Juden aus Ägypten und an das Lied des Mose. Das ist die Wurzel für den Hymnus über Christus als Lamm Gottes. Und dies passt zum Sonntag Kantate. Was Johannes hier schreibt, ist besonders wichtig in einer Zeit, in der der Antisemitismus überall sein Gesicht zeigt. Denn ohne Erinnerung an seine jüdischen Wurzeln ist der christliche Glaube nicht denkbar, lebbar, betbar. Aber die Aufforderung des Johannes, sich von der Welt zu trennen, geistig, geistlich und äußerlich in den Untergrund zu gehen, weil das Ende der Welt nahe ist, passt eher zu christlichen Verschwörungstheoretikern. Da steht Paulus mit seiner Theologie des christlichen Glaubens und des Lebens in der Welt, wie sie ist, näher am Evangelium Jesu Christi.

Mit Gott verhandelt

Rogate, 5. Mai

Warum sollen die Ägypter sagen: Er hat sie zu ihrem Unglück herausgeführt, dass er sie umbrächte im Gebirge und vertilgte sie von dem Erdboden? (…). Gedenke an deine Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen du bei dir selbst geschworen und verheißen hast: Ich werde eure Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel, und dies ganze Land, das ich verheißen habe, will ich euren Nachkommen geben, und sie sollen es besitzen für ewig. Da gereute den Herrn das Unheil, das er seinem Volk angedroht hatte. (2. Mose 32,12+13–14)

Es gibt Bibeltexte, die eine ungeheure Sprengkraft für den Geist und das Handeln des Menschen haben. Dies gilt auch für den Abschnitt aus dem Zweiten Buch Mose, der heute auf den Kanzeln der evangelischen Landeskirchen Deutschlands ausgelegt wird. Viele jüdische Israelis verstehen ihn als Aufforderung, im Westjor­danland illegale Siedlungen zu errichten, frei nach dem Motto: „Alles Euers, spricht der Herr!“ Dabei spricht der Text vom Gebet und nicht von einer Landnahme, weder damals noch heute.

Was er aber vom Gebet sagt, hat es in sich. Denn zunächst geht es um etwas Sensationelles. Gott bietet Moses einen Deal an: Lass es uns nochmals versuchen, nur wir beide, ohne das halsstarrige Volk. Gott äußert seinen Zorn, und Moses ringt mit ihm. Und auch das ist Beten. Moses geht es um das ganze Volk, um Fromme und Gottlose, Bekehrte und Nichtbekehrte, Gutmenschen und Sünder, Gesetzestreue und Kriminelle. Sie wurden vor den Augen der Ägypter aus der Sklaverei geführt und in den Fluten des Roten Meeres bewahrt. Sähen die Ägypter nun die Vernichtung dieses Volkes, würden sie lachen. Moses nutzt das als schlaues Argument und packt Gott bei der Ehre.

Aber Moses hielt sich zu lange auf dem Berg auf. So passte sich das Volk, das im Tal wartete, in der Zwischenzeit der Götterwelt der Umgebung an und erschuf sich einen goldenen Stiergott – wie alle anderen Völker, einen Gott, den man sehen und anfassen kann. Das Alleinstellungsmerkmal des jüdischen Glaubens, einen Gott zu haben ohne Statue und Bildnis, hatten sie nicht verstanden. Dabei hatten die Israeliten etwas Einmaliges, einen Gott im Glauben. Den hatten sie verraten. Und das erklärt Gottes Zorn. Aber Gott lässt sich von Mose überzeugen. Für die Ideologie der illegalen Siedler im Westjordanland taugt dieser Text nicht. Vielmehr zeigt er, welche Kraft im Gebet stecken kann. So macht der Text Mut, niemals locker zu lassen. Und Christen glauben: Weil Gott sich am Ostermorgen zu Jesus bekannt hat, ist aus einem Gott des Zorns endgültig ein liebender Gott geworden. 

 

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