Direkte Demokratie wagen

Volksentscheide als wirksames Mittel gegen Politikverdruss
Foto: Privat

Das Vertrauen in Politiker und die Zustimmung zur Demokratie sinken, und es wächst die Unzufriedenheit mit der Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP. Umso aktueller ist, was Bundeskanzler Willy Brandt am 15. Januar 1970 in seiner Regierungserklärung sagte: „Wir wollen mehr Demokratie wagen!“

Jetzt, ein halbes Jahrhundert später, ist es an der Zeit, in Deutschland mehr direkte Demokratie zu wagen. Dies würde der Stimmung die Grundlage entziehen, Demokratie sei ein Projekt von Eliten, die auf die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger nur vor Wahlen hören und eingehen.

In Deutschland können die Wahlberechtigten alle vier Jahre den Bundestag wählen. Aber dabei müssen sie sich für ein Gesamtpaket entscheiden, das die Partei ihrer Wahl anbietet. Und dies bedeutet eine Einschränkung der Freiheit. Ein konservativer Mensch, der eine demokratische Partei wählen oder ihr gar beitreten will, muss sich für die CDU und in Bayern für die CSU entscheiden – und damit auch für den Ausbau der Atomenergie. Und was ist mit denen, die aufgrund ihres konservativen, also skeptischen Menschenbildes die Atomtechnologie ablehnen, weil sie fehlbare Menschen überfordert? Bei einer Volksabstimmung könnten Konservative ihre Ablehnung ausdrücken und mit Anhängern anderer Parteien durchsetzen, ohne dass sie ihre grundsätzliche Nähe zu den Unionsparteien aufgeben müssen. Ähnliches gilt für diejenigen, die SPD, Grüne und FDP wählen, aber bestimmte Sachen anders beurteilen als ihre Partei. Und vielleicht würden manche Leute die AfD nicht wählen, könnten sie bei Volksabstimmungen über Anliegen mitentscheiden, die ihnen wichtig sind. Volksbegehren und Volksentscheide erweitern die Freiheit der Wahlberechtigten. Und das kann Populisten den Nährboden entziehen. Zum einen würde deren Lüge entlarvt, nur sie würden „das Volk“ vertreten. Und sie müssten sich im Vorfeld von Volksbegehren und Volksentscheiden den Argumenten ihrer Gegner stellen. Das setzt aber voraus, dass die Wahlberechtigten korrekt und verständlich über den Gegenstand einer Volksabstimmung und die verschiedenen Positionen dazu informiert werden. Dies ist in der Schweiz üblich.

Aber natürlich ist nicht auszuschließen, dass Populisten in einer Volksabstimmung obsiegen. So stimmten vor 15 Jahren 57,5 Prozent der Schweizer Wahlberechtigten dafür, den Bau von Minaretten zu verbieten. Aber das war nur möglich, weil die Schweiz kein Verfassungsgericht hat. In Deutschland hätte Karlsruhe ein entsprechendes Volksbegehren kassiert.

Vor drei Jahren votierte das Schweizervolk mit 64,1 Prozent für die Öffnung der Ehe für Schwule und Lesben. Selbst im katholisch-konservativen Landkanton Appenzell Innerrhoden stimmten 50,8 Prozent mit Ja. Und die höchste Zustimmung gab es mit 74 Prozent im Kanton Basel-Stadt.

Zum Weiterdenken und Vertiefen sei das Buch der ehemaligen Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff empfohlen, das den Titel trägt: Demophobie. Muss man die direkte Demokratie fürchten? Gegner der direkten Demo­kratie ver­weisen oft auf den Brexit. Lübbe-Wolff erinnert zu Recht daran, dass es ein großer Unterschied ist, ob gelegentlich – wie in Großbritannien – von oben ein Referendum angeordnet wird oder ob Abstimmungen aufgrund von Volksinitiativen – wie in der Schweiz – zur politischen Kultur gehören

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