Doppelbödig

Macht und ihre Folgen

Es ist ein Buch von schmalem Format, erst recht im Vergleich zu Michael Köhlmeiers umfänglichem Roman Abendland (2007). Der neue Roman des mehrfach ausgezeichneten österreichischen Erzählers Köhlmeier, Das Philosophenschiff, ist freilich dicht und gehaltreich – und wie das erwähnte frühere Buch gesättigt von Historie. Köhlmeier kombiniert geistreich und ironisch Fakten und Fiktionen. Im Mittelpunkt steht hier eine wahrhafte, jedoch fiktive Jahrhundertgestalt: Die 100-jährige Architektin Anouk Perleman-Jacob ist es, die mit riesigen sozial gesinnten Wohnprojekten international von sich reden machte. Der ihr in Wien begegnende Ich-Erzähler ist Schriftsteller und hat Ähnlichkeiten mit dem Autor Köhlmeier. Sie bittet ihn, den Teil ihrer Biografie zu schreiben, der bisher unbekannt geblieben sei. Doch diese Bitte erfolgt unter einer kuriosen Voraussetzung. Wenn ihm, der wegen seines Spiels mit Fakten und Fiktionen berüchtigt sei und seine „Leser hinters Licht“ führe, dann keiner glaube, sei das umso besser, meint sie. Erzählt werden soll es gleichwohl.

Doppelbödig ist diese Erzählung und entfaltet ein schier unglaubliches Geschehen. Anouk, geboren 1908, erlebt mit ihren Eltern, einem Professor für Architektur und einer Ornithologin, die Jahre nach der Oktoberrevolution in Sankt Petersburg. Sie erfährt, wie das Klima ständiger Verdächtigung die Menschen immer mehr zermürbt. Infolge der mangelhaften Versorgungslage verhungern Unzählige, und in der Schicht der Gebildeten finden die Bolschewisten alsbald einen angeblichen Klassenfeind, auf den sich das allseitige Misstrauen richten soll. Besonders Lyrik gilt als verdächtig. Oppositionelle werden tausendfach inhaftiert oder gleich erschossen. Um eine längerfristige „Säuberung“ Sowjetrusslands zu erreichen, ersinnt Lenin persönlich die Aktion „Philosophenschiff“: Unter diesem Namen wurden tatsächlich im Herbst 1922 Intellektuelle zu Hunderten über See außer Landes gebracht, nach Deutschland oder anderswohin. Darunter seien auch die 14-jährige Anouk und ihre Eltern gewesen, berichtet die künftige Architektin. Längst auf See, hält ihr Luxusdampfer noch einmal an, um heimlich einen weiteren Fahrgast an Bord zu bringen. Nur Anouk hält zu ihm Kontakt, und es sei kein Geringerer als der todkranke Lenin selbst gewesen, für den die Mechanismen der Revolution offenbar keine Verwendung mehr hatten.

Wie totalitäre Regime wirken und erlebt werden, welche klaustrophobischen Situationen aus ihnen resultieren, haben in jüngerer Zeit noch andere Romane nachvollziehbar gemacht: Den stalinistischen Terror schilderten Julian Barnes in Der Lärm der Zeit (2017) oder auch Eugen Ruge im Roman Metropol (2019). Sie auf heutige Zustände im ehemaligen Stammland des Sowjetsystems zu beziehen, legten sie nicht ganz so nahe wie jetzt Köhlmeier mit seinem Roman. Denn der erscheint zu einer Zeit, da Russland wieder Krieg führt gegen eine angebliche nazistische und imperialistische Bedrohung, als welche die Ukraine ausgemalt wurde, und da Stalin erneut vielfach verehrt wird. Fast am Schluss hat dieser bei Köhlmeier ebenfalls einen Auftritt: Er kommt aufs Schiff und rechnet dort in Anwesenheit der künftigen Architektin mit seinem Vorgänger Lenin ab, denn der habe nicht verstanden, was die Menschen wirklich nötig hätten. Hier ist die Unwahrscheinlichkeit des angeblichen Erlebnisberichts auf die Spitze getrieben, zugleich aber auch die größte Wahrhaftigkeit und Folgerichtigkeit der Romanerzählung erreicht.

Dass diese im Leser lange nachklingt, bestätigt die Kraft dieses konzentrierten Buches, das eindringlich Fragen der Macht und ihrer Folgen aufzuwerfen versteht.

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