Raum geben

Studierende leiden besonders unter den Corona-Auflagen. Wie könnte die Kirche helfen?
Foto: Christian Lademann

„Ich glaub’, es war im Winter 2020, als das ganze Land auf uns schaute. Ich war gerade 22, studierte Maschinenbau in Chemnitz...“ Ein betagter Mann spricht diese Worte, mit denen er voller Pathos von den lange vergangenen Zeiten der Corona-Pandemie erzählt. Sichtlich bewegt und stolz verkündet er, dass seine Freunde und er das einzig Richtige damals zur Zeit der zweiten Welle getan hätten: „Nichts! Einfach nichts! Wir waren faul wie die Waschbären..!“ Im Bild sieht man währenddessen einen jungen Mann, der gelangweilt auf eine Couch fällt und an einer Getränkedose nippt.

Ich gebe zu, einen kleinen Augenblick habe ich geschmunzelt, als ich dieses Video der Bundesregierung damals gesehen habe. Im zweiten Augenblick habe ich mich geärgert. Als Repetentin an der Hessischen Stipendiatenanstalt in Marburg erlebe ich die Pandemie inmitten von 39 dieser „faulen Waschbären“, deren „Front, an der sie kämpfen“ angeblich nichts anderes sei als ihre Couch.

Ringen um Strukturen

Seit drei Semestern ist das Leben dieser jungen Studierenden weitestgehend auf Pause gestellt. Ihre Front ist nicht ihre Couch, sondern ihre Laptopbildschirme, an denen sie Tag für Tag versuchen unter widrigsten Bedingungen ihr Studium voranzubringen. Ihre Front sind die kleinen Zimmer von meist etwa 12qm, auf die ihr Leben zusammengeschrumpft ist. Ich sehe keine faulen Waschbären sondern junge Menschen, die damit beschäftigt sind zu überleben und um Tagesstruktur zu ringen in einer Zeit, in der ihnen jegliche Struktur abhanden gekommen ist.

Und dann ist da ja auch noch all das, was neben Vorlesungen, Seminargesprächen und Prüfungen auch noch zu dieser Lebensphase gehören würde. Zum Studium gehört Partner-Aquise, Knutschen bei Sonnenaufgang nach durchtanzter Nacht, hitzige Diskussionen an Kneipentischen und am nächsten Morgen das erste Seminar verpassen.

Der Deal ist unausgesprochen, aber doch irgendwie klar: die Studierenden bleiben an ihren Bildschirmen, damit mehr Präsenzunterricht an Schulen möglich ist. Wahrscheinlich war es auch ein implizites Wissen um diese gesellschaftliche Verantwortung, die dazu geführt hat, dass bisher recht wenig Protest wahrnehmbar wurde.

Soziale Vereinsamung

Von den Öffnungen erleben wir im Kontext der Universitäten gerade wenig. Die Uni-Verwaltungen orientieren Lockerungen nicht an Inzidenzzahlen, sondern am Impffortschritt in der Bevölkerungsgruppe der Studierenden. Das ist zwar aus Gründen des Infektionsschutzes nachvollziehbar, führt aber auch dazu, dass während Menschen in Biergärten zusammenkommen die Studierenden weiterhin vor ihren Laptops sitzen. Die gesellschaftliche Gruppe, deren Alltag als erstes völlig umgekrempelt wurde, wird diejenige sein, die als letzte von Öffnungen profitieren. Für allein lebende Studierende bedeutet das weiterhin soziale Vereinsamung, vor allem für diejenigen, die gerade in einer fremden Stadt ihr Studium aufgenommen haben.

Für ein Wohnheim wie unsere Hessische Stipendiatenanstalt in Marburg bedeutet es weiterhin, all die Konflikte tagtäglich auszuagieren, wenn der Alltag für 39 junge Menschen bei einem Minimum an Ausweichmöglichkeiten im selben Haus stattfindet  Wir werden den gesamten Sommer über die harten Regeln des letzten Lockdowns in Geltung haben. Masken auf den Fluren, unser Mittagstisch findet nicht statt, die Studierenden können sich nicht uneingeschränkt auf den Küchen begegnen. Teilweise leben die Studierenden bei mir im Haus in Doppelzimmern. Was es bedeutet, wenn zwei Studierende in einem Doppelzimmer gleichzeitig verschiedene digitale Seminare haben, kann man sich mit etwas Phantasie vorstellen.

Kreative Strategien

Wie in allen gesellschaftlichen Bereichen erleben wir an den Universitäten, dass plötzlich auch Menschen mit Hygiene-Management beschäftigt sind, die damit zuvor kaum etwas zu tun hatten. Das führt nicht selten zu einer gewissen Radikalität der Entscheidungen, um Risiken zu vermeiden. Langsam kommen wir meinem Gefühl nach in dieser Pandemie an einen Punkt, in der neben Risikovermeidung die Frage danach stehen muss, wie hier und da wieder verantwortungsvoll Räume eröffnet werden können und welche Begegnungen für uns als Gesellschaft einen solchen Wert haben, dass wir Ihnen Räume geben wollen.

„Raum“ ist im Hinblick auf die Universitäten das wesentliche Stichwort. Das grundlegende Problem im Hinblick auf die Gestaltung von mehr Präsenzlehre in der kommenden Zeit ist das Verhältnis von Raumbedarf zu Raumbestand. Hier sind kreative Strategien notwendig. In Marburg sind große Innenstadtkirchen, die wunderbare Orte zum Debattieren, lernen und zur Begegnung abgeben. Meine 39 „Waschbären“ wären sicher froh, wenn sie ihre plattgesessene Couch mal zwischendurch gegen eine Kirchenbank eintauschen könnten.

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Foto: Christian Lademann

Katharina Scholl

Dr. Katharina Scholl ist Studienleiterin am Evangelischen Studienseminar Hofgeismar. Zuvor war sie Gemeindepfarrerin in Hanau-Großauheim.


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