Aus dem Nagel Suppe kochen

Greta Thunbergs Twist von Amos hin zur Weisheitslehre
Foto: Privat

Auf den ersten schnellen Blick wirkt Das Klima Buch von Greta Thunberg wie eine überdesignte Wundertüte, als habe eine Art-Direktorin den Barcode farblich aufgepimmt. Nimmt man es in die Hand, dann ist es Kilo-Ware, erinnert an ein aufwendig gemachtes Coffee table book. Mit dem Grandseigneur der Hermeneutik, Hans-Georg Gadamer gesagt: Verstehen beginnt mit Vorurteilen, die sich aber im Vollzug des Verstehens nicht bestätigen müssen, bitteschön. Also: Es ist ein großartiges Buch. Auch das äußerliche Design hat einen dramaturgischen Kniff: inszeniert den anschwellenden Erhitzungsnotstand unserer Lebenswelt. Der rechte Rand des Buchdeckels ist feuerrot. Wer es anfasst, verbrennt sich prompt die Finger. Achtung: Nur mit feuerfesten Handschuhen benutzen – so die implizite Botschaft. Bereits der Buchdeckel ist performativ, handelt an den Leserinnen und Lesern.

Schlägt man das Buch auf, dann wirbt das Papier mit hoher Qualität, ist taktilfreundlich – und selbstredend C02-neutral produziert. Dieses Buch ist im besten Sinne des Wortes ein Gesamtkunstwerk, versammelt Schaubilder und Photographien in Magnum-Qualität, führt Wissenschaftler aus der Premier League mit international renommierten Schriftstellerinnen zusammen, holt Stimmen Betroffener ins Boot, lädt ein zum Diskurs, der auch Einwände honoriert. Das Klima-Buch ist ein klug gemachtes Lesebuch, das in fünf Teilen (mit Unterteilen) informiert und motiviert: Wie das Klima funktioniert; Wie unser Planet verändert wird; Die Folgen für uns; Was wir dagegen unternommen haben; Was wir jetzt tun müssen. Eingeführt werden die Teile und Unterteile mit knappen, konzentrierten Essays von Greta Thunberg.

Empörungshöhe abgedimmt

Und das ist überraschend: Ihr Ton hat sich geändert, die Empörungshöhe wurde abgedimmt, das prophetische Vokabular zum Teil ausgetauscht. Sie ist milder geworden. Bereits der erste Essay gibt die Tonlage vor: „Um dieses Problem (das Klima-Problem, K.H.) zu lösen, müssen wir es zunächst verstehen.“ Dann folgt die Verbeugung vor der Wissenschaft: „Die Wissenschaft ist so zuverlässig, wie sie nur sein kann.“ Erst das sechste Essay thematisiert die Zeitfrage: „Es ist viel näher, als wir glauben.“ In der Bestandaufnahme folgen dann deutliche Worte: „Wie können wir unser Vergehen ungeschehen machen, wenn wir nicht mal zugeben können, dass wir versagt haben?“ Reue wird angemahnt. Aber dann doch dieser Schlenker: „Der effektivste Weg aus dieser verfahrenen Lage ist, uns weiterzubilden.“ Und ein kleiner pädagogischer Schubser zum Schluss: „Hoffnung muss man sich verdienen.“

Thunberg erinnert daran: Zwar habe die schwedische Sprache nur wenige Worte zum weltumspannenden Vokabular beigesteuert: Smörgåsbord, Ombudsman, flyskam (Flugscham), aber eben auch folkbildning: also Weiterbildung. „Aber ich bin fest überzeugt, dass der effektivste Ausweg aus dieser verfahrenen Lage für uns darin besteht, uns und andere weiterzubilden (ein bisschen paradox, da die Idee des Schulstreiks darauf beruht, dem Unterricht fernzubleiben, aber dennoch.) Denn wer erst einmal die Situation begreift, mit der wir uns konfrontiert sehen, wer erst einmal einen Eindruck vom Gesamtbild bekommt, wird mehr oder weniger wissen, was zu tun ist. Und was vielleicht noch wichtiger ist – er oder sie wird wissen, was nicht zu tun ist.“

Neuer Lebensstil

Und genau dieses Gesamtbild soll durch eine Polyphonie von Stimmen, Graphiken und Bildern entstehen, um erste Facetten eines neuen Lebensstils zu entwerfen. Augenzeugenschaft ist gefragt. Ricarda Winkelmann, Professorin für Klimasystemanalyse an der Universität Potsdam, erinnert jenen Augenblick, als sie zum ersten Mal den Weißen Riesen, dieses majestätische Eisschild der Antarktis betrat, der aktuell abzutauen droht. „Diesen Augenblick während meiner ersten Forschungsexpedition in der Antarktis werde ich niemals vergessen. (…) Die Polargebiete sind effektive Frühwarnsysteme für das Voranschreiten des Klimawandels – und diese Frühwarnsysteme schlagen nun Alarm.“ Die Folgen sind längst spürbar, etwa in der Karibik. „Mit wenigen Ausnahmen leisten kleine Inseln den geringsten Beitrag zum Klimawandel. Aber sie tragen die Hauptlast der Folgen. Dabei geht es nicht um das Verschwinden von Inseln in der Zukunft. Es geht um bedrohte Lebensgrundlagen, um eine Verzögerung der Entwicklung und um ein die Generationen übergreifendes Erbe, das heute verweigert wird.“ So Michael Taylor, Professor an der University of the West Indies in Mona. Damit ist die Gerechtigkeitsfrage auf der Agenda.

Handlungsmodelle von Betroffenen im Globalen Süden können Denkhilfen geben, wie man künftig agieren muss. Nomadische Hirten in der Nähe des Tschadsees etwa gehen so vor: „Seit längerer Zeit schon kümmern wir uns um die Natur nicht allein um unser selbst willen, sondern auch für die kommenden sieben Generationen. So werden in unserer Gesellschaft Entscheidungen getroffen. Vor jeder wichtigen Entscheidung sollte man sich fragen, was die letzten sieben Generationen in dieser Situation getan hätten und welche Auswirkungen die Entscheidung auf die nächsten sieben Generationen haben wird. Auf diese Weise sorgt man bei jeder wichtigen Entscheidung für eine die Generationen übergreifende Gerechtigkeit.“ Ein inspirierendes Modell unter vielen.

Keine Einheitsbotschaft

Auch im globalen Norden gibt es Versuche, den konsumorientierten Lebensstil umzuwidmen zu einem „1,5°C-Lebenstil“. Hier ein Sechserpack an Vorschlägen: „1. Vermeide Müll. Behalte deine elektronischen Geräte mindestens sieben Jahre lang. 2. Mache deinen Urlaub in der Nähe: Beschränke deine Kurzstreckenflüge auf einen innerhalb von drei Jahren. 3. Iss grün: Wechsle zu einer pflanzlichen Ernährung, und vermeide Abfälle. 4. Kleide dich im Retrolook: Kaufe höchstens drei neue Kleidungsstücke im Jahr. 5. Fahre auf die neue Art. Benutze möglichst keinen privaten PKW. 6. Verändere das System: Tu etwas, um das größere System zu ändern.“ So Kate Raworth, Senior Associate am Evironmental Change Institute der Oxford University.

Margaret Atwood, die Grand Dame dystopischer Romane, stellte sich die Frage (und ihr wurde die Frage von Leser*innen gestellt), warum sie keine Utopien in Romanform schreibe. Antwort: „Als Romane sind literarische Utopien eine Herausforderung – sie klingen leicht wie Stundenpläne und amtliche Berichte.“ Inzwischen versucht Atwood auf einer interaktiven Online-Lern-Plattform Material für einen utopischen Roman zu sammeln, der „ein wenig Hoffnung“ gibt und damit auch eine Renaissance utopischer Romane und Lebensentwürfe auf den Weg bringt.

Entscheidend wird sein, jenes Narrativ der Umwelt- oder besser: Mitwelt-Krise breitenwirksam zu vermitteln. Aber: „Es gibt keine Einheitsbotschaft, die für alle funktioniert. (…) Wir müssen koka soppa på en spik, wie wir in Schweden sagen, ‚aus einem Nagel eine Suppe kochen‘, also mit dem auskommen, was wir haben. Und was wir haben ist Moral, Empathie, wissenschaftliche Erkenntnisse, Medien – und in einigen glücklichen Teilen der Welt – Demokratie.“ Nachdrücklich verteidigt Thunberg die Moral. „Manche sagen, wir sollten die Moral nicht heranziehen, weil es Schuldgefühle auslösen könne und Schuld kein idealer Weg sei, Veränderungen zu bewirken.“  Gegenfrage: „Wie sollen wir über eine existentielle Menschheitskrise, die durch Ungleichheit, Ausbeutung von Arbeitskräften und Natur, Landraub, Genozid und übertriebenen Konsum entstanden ist, sprechen, ohne die Moral zu erwähnen?“ An einer sittlichen Kausalität will Thunberg unbedingt festhalten. Auffallend auch das Lob der Demokratie. „Gerechtigkeit und Gleichberechtigung sind für die Bewältigung der Krise entscheidend – das schließt automatisch jede Form von Diktatur aus.“ Aber auch das gilt: „(W)enn die Menschen in den Dingen, die ihr Leben grundlegend prägen, nicht gut informiert und gebildet sind, lässt sich die Demokratie leicht manipulieren.“ Deshalb auch ruft Thunberg dazu auf, Politik und Medien sollten sich an den Fakten, die die Wissenschaft erhebt, halten, sie nicht umlügen und sich zum Büttel von Konzernen machen, die greenwashing betreiben. Die Professionsethik wird auch in den Schlussteilen des Buches nachhaltig angemahnt. Auch gut geschulte und vor allem unabhängige Journalist*innen braucht man dringend an Bord.

Hoffnung muss man sich verdienen

Aber woher holt Thunberg ihre Hoffnung? Die Antwort überrascht. „Für mich ist Hoffnung nichts, was einem geschenkt wird, sie ist etwas, was man sich verdienen, was man schaffen muss. Sie ist nicht passiv zu bekommen, indem man dasteht und drauf wartet, dass jemand anderes es unternimmt. Hoffnung heißt, etwas zu tun, aus seiner Komfortzone herauszutreten.“ Angetrieben wird diese Hoffnung durch ein optimistisches Menschenbild. Da ist Thunberg wunderbar eindeutig: „Die Zerstörung der Biosphäre, die Destabilisierung des Klimas und die Vernichtung unserer gemeinsamen zukünftigen Lebensbedingungen sind keineswegs vorherbestimmt und unausweichlich. Sie liegen auch nicht in der Natur des Menschen – wir sind nicht das Problem. Das alles passiert, weil man uns, dem Volk, unsere Lage und die Konsequenzen dessen, was gerade geschieht, noch nicht völlig bewusst gemacht hat. Wir wurden belogen. Wir wurden unserer Rechte als demokratische Bürger:innen beraubt und im Unklaren gelassen. Das ist eins unserer größten Probleme, aber es ist auch unsere stärkste Quelle der Hoffnung – denn Menschen sind nicht böse, und wenn wir das Wesen der Krise einmal begreifen, werden wir sicher handeln.“ Abschließend wendet sie sich an alle potentiellen Verbündeten und möchte nur einen einzigen Rat geben: Sagt, was Sache ist.“

Worin also besteht der Twist?

Verglich die damalige Fraktionschefin der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, Greta Thunberg in einer prächtigen Kanzelrede von 2019 in der Salvator-Kirche in Duisburg noch mit dem sozialkritischen Propheten Amos, dann hat sich die Zuordnung in den letzten wenigen Jahren noch einmal deutlich verschoben. Richtig bleibt: Greta Thunberg betont die Moralität, sprich: die sittliche Kausalität, man muss von Schuld sprechen, die uns in diese Situation gebracht hat. Und die Konsequenz, die eintritt, wenn man das Verhalten nicht ändert, ist noch dramatischer als zu biblischen Zeiten, denn es geht nicht um den Untergang eines Königs und seiner Clique, auch nicht um den Untergang eines Staates, sondern um den Untergang und die Bewohnbarkeit unseres Planeten Erde.

Aber anders als Amos und die anderen Schriftpropheten, hält Thunberg sich von einer überzogenen Sündenlehre frei. Weil der Mensch von Natur aus gut ist, wird er bei richtiger Einsicht, auch richtig handeln. Das ist griechisch gedacht. Und weit von Paulus und auch Luthers Rede vom notorisch versklavten Willen entfernt. Allerdings hat auch Thunberg eine traditionelle Rede von Sünde im Gepäck: nämlich die Lüge, hier platziert im Gespinst der Nähe von Politik und Kapital. Aber sie überzieht nicht, glaubt nicht an eine totale Verdunkelung (des Willens), sondern baut auf Aufklärung durch Weiterbildung, sprich Paideia. Nicht zufällig spricht sie abschließend von einem Rat. Bereits das Alte Testament schafft hier Ordnung, dass nämlich dem Priester die Weisung, dem Propheten das Wort und dem Weisen der Rat zugeordnet ist. (Jer 18,18). Darin besteht der Twist. Thunberg ist beides: (säkulare) Prophetin und Weisheitslehrerin, plädiert also für eine Hybridform, die angemessen scheint, um die kurzatmige Prophetie und die langatmige Demokratie in eine Balance zu bringen: ein prophetischer, grüner Pragmatismus. Ist das also die Lösung?

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


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