Das Herz eines Kindes

Der Filmemacher Jean-Jacques Annaud und seine religiösen Fragen
Jean-Jacques Annaud bei den Dreharbeiten zu seinem Film „Notre-Dame in Flammen“, der vergangenes Jahr in die Kinos kam.
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Jean-Jacques Annaud bei den Dreharbeiten zu seinem Film „Notre-Dame in Flammen“, der vergangenes Jahr in die Kinos kam.

Jean-Jacques Annaud sagt, Religion sei ihm persönlich gleichgültig, er habe jedoch große Achtung vor religiösen Gefühlen, womöglich vermisse er den Glauben sogar. Der große französische Filmemacher hat offenbar nie ganz mit Religion gebrochen, was auch seine Filme nahelegen. Eine Würdigung dieses Aspekts seines Werks angesichts des 80. Geburtstages von Jean-Jacques Annaud durch den Theologen und Kulturjournalisten Roland Mörchen.

Am Anfang war Notre-Dame. Jean-Jacques Annaud, vor 80 Jahren am 1. Oktober 1943 in Juvisy-sur-Orge nahe Paris geboren, genoss keine religiöse Erziehung im herkömmlichen Sinn. Der große Filmemacher war getauft, aber seine Familie sei nicht gläubig gewesen, erzählte Annaud in Interviews. Allerdings habe seine Mutter ihn oft in die Kathedrale Notre-Dame mitgenommen, um dort eine Kerze anzuzünden und Gottes Beistand zu erflehen. Was sich nach einem logischen Widerspruch anhört, ist in Wahrheit jenes Irrationale, das menschliches Verhalten oft genug antreibt. Die Besuche in Notre-Dame haben Annaud geprägt, und möglicherweise wäre sein spiritueller Lebensweg anders verlaufen, hätten ihn nicht ein unerquicklicher Religionsunterricht und dogmatische Engstirnigkeit aus der Kirche vertrieben.

Annaud absolvierte den Militärdienst in Kamerun als Mitglied einer Filmeinheit, besuchte die Filmhochschule in Paris, studierte Prähistorie, Geschichte des Mittelalters und Theater an der Sorbonne. Er drehte Werbefilme und griff bei seinem oscarprämierten Kinodebüt „Sehnsucht nach Afrika“ (1976) auf die in Kamerun gemachten Erfahrungen zurück. Schon damals interessierten ihn die großen Weltreligionen sowie Religion und Kultur fremder Völker, weil sich jeder die Frage nach dem Sinn des Daseins stellt und manch einer dabei gern allzu menschlichen Autoritäten folgt. Zum Beispiel Dogmatiker oder Erlöserfiguren wie Prinz Auda in Black Gold (2011), den scheinbar nicht einmal eine Kugel töten kann. Wie tot liegt er da und erwacht unter rituellen Gebeten wieder zum Leben, weswegen man den „Auferstandenen“ als Mahdi feiert.

Der intellektuelle Annaud hat sich mehrmals einen Atheisten genannt, aber auch zugegeben, dass die Menschen das Übernatürliche brauchen. Notre-Dame in Flammen (2022) bezeugt seinen spirituellen Sinn, und es ist schwer vorstellbar, diesen Film als das Werk eines Atheisten zu sehen. Zwar dokumentiert Annaud in einer packenden Spielhandlung die Ereignisse um den Brand der Kathedrale im Jahr 2019, ohne persönliche Statements abzugeben. Doch seine Empathie ist so deutlich zu spüren, dass sie praktisch zum heimlichen Bekenntnis wird.

Große Achtung

Wie wenig man Annaud damit etwas unrechtmäßig unterschiebt, belegen Äußerungen des Regisseurs, die an das antithetische Verhalten der Mutter erinnern. Im Gespräch mit dem Frontrunner Magazine meinte er 2022, Religion sei ihm persönlich gleichgültig, er habe jedoch große Achtung vor religiösen Gefühlen, und womöglich vermisse er den Glauben sogar. Annaud sucht gern Gebetsstätten auf und fühlt sich in Gotteshäusern emotional betroffen: „Das Geheimnis des Glaubens berührt mich, und die Tatsache, dass ein Symbol des Glaubens im Verschwinden begriffen war, berührte mein Herz.“

Was ihn da anrührte, war Notre-Dame, sowohl Touristenattraktion als auch nationales Monument Frankreichs und laut Annaud ein Glaubenszeugnis nicht bloß für Katholiken. Wie im Film gezeigt, vereinte die Brandkatastrophe Menschen aus aller Welt in Gebet und Gesang. Darunter auch diejenigen, die dem Glauben und seinen Traditionen fernstehen, stellvertretend eingeblendet im Feuerwehrmann, der die Dornenkrone Jesu retten soll und keine Ahnung hat, wie diese Reliquie aussieht.

Annaud drehte den Film vor allem, weil bei dieser Katastrophe niemand ums Leben kam. Ein Menschenleben ist für ihn unwiederbringlich und darum wichtiger als jedes Bauwerk. Kulturerbe oder Leben? Den meisten Brandbekämpfern stellte sich dieses Problem offenbar nicht. Annaud traf sich mit Feuerwehrleuten und war überrascht, dass sie bedenkenlos Kopf und Kragen auch für ein Gebäude wie Notre-Dame riskierten, weil sie ihr Tun allgemein als „Berufung“ empfanden, gleichsam als religiösen Akt. Eine Feuersbrunst zu löschen, das war professioneller Einsatz und zugleich eine Notwendigkeit – im wahrsten Sinn des Wortes.

Wie stark der Glaube ans Wunderbare im Menschen verwurzelt ist, verdichtet Annaud in einem ausdrucksvollen Bild. Ein Wassertropfen rinnt übers Antlitz der Marienstatue, als weine sie über die brennende Kathedrale, womit unterschwellig auch Wunderlegenden über Madonnenfiguren anklingen, die blutige Tränen vergießen. Mit dieser Skulptur verknüpft Annaud dramaturgisch ein kleines Mädchen, das sich während der Evakuierung von der Mutter losreißt, um noch rasch eine Kerze vor der Muttergottes anzuzünden und sein Haargummi mit einem daran befestigten Herzen dazulassen.

Annaud kommt am Schluss auf dieses Kind zurück. Die Mutter ist eingeschlafen, das Mädchen sitzt noch vor dem Fernseher und hat die Ereignisse verfolgt. Die Kamera erfasst in der nunmehr gelöschten Kathedrale die Kerze und das Herz. Wie die Muttergottes sind sie unversehrt geblieben, die Gebete des Kindes erhört worden. An dieser Stelle ist der Film verdeckt autobiografisch und ruft den kleinen Jean-Jacques wach, der selbst in Notre-Dame mit der Mutter gekniet und Opferkerzen angezündet hat.

Im Feuer sieht Annaud sowohl eine freundliche als auch eine zerstörerische Seite. Es spendet Licht, es wärmt, vertreibt wilde Tiere und schmiedet Eisen. Am Anfang war das Feuer (1981) spiegelt in der evolutionsgeschichtlichen Perspektive vielleicht Annauds säkularisierte Seite am deutlichsten. Man denkt an Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl. Der Film basiert auf wissenschaftlichen Theorien, obgleich der Erkenntnisstand in diesem Fach immer auch Falsifikationen unterworfen bleibt. Rat und Unterstützung holte sich Annaud bei dem Verhaltensforscher Desmond Morris und dem vielseitig gebildeten Literaten Anthony Burgess, der speziell für den Film die Sprachen erfand.

Verschiedene Steinzeit-Stämme bilden eher religionslose Gemeinschaften, darunter Neandertaler, die für den Speiseplan von Kannibalen nur Ekel übrighaben. Ständig droht Gefahr von Mensch und Tier, man ist aufs nackte Überleben trainiert und fixiert. Mammuts erscheinen wie irdische Götterwesen, die sich mit einem Grasbüschel als Opfergabe und einer Unterwerfungsgeste besänftigen lassen. Es gibt Initiationsriten, und wenn eine junge Cro-Magnon-Frau dem Neandertaler Naoh (statt Noah) beibringt, dass man den Geschlechtsakt nicht nur von hinten wie Tiere ausüben kann, sondern auch von Angesicht zu Angesicht, wirkt das wie ein Symbol der Menschwerdung. „Und sie erkannten einander“, sagt die Bibel.

Die richtige Auslegung

Bei „Sieben Jahre in Tibet“ (1997) zog Annaud buddhistische Experten hinzu, für Black Gold (2011) besprach er sich vorab mit Koran-Kennern. „Black Gold“ nach einem Roman von Hans Ruesch greift die frühe Ölgewinnung auf der Arabischen Halbinsel und die Frage der Rechtmäßigkeit dieser Ausbeutung auf. Religion grundiert das Leben dieser rivalisierenden Beduinenstämme. Man verrichtet seine täglichen Gebete, im Koran sucht man nach Antworten auf alle Fragen. In die erste Hälfte des Films schiebt Annaud eine heftige Debatte zwischen Prinz Auda und den verknöcherten Gelehrten seines Vaters Amar um die richtige Auslegung ein.

Vor dem Hintergrund eines drohenden Kriegs erhitzen sich die Gemüter über der Frage, ob Allah das Öl zu fördern erlaube oder nicht. Schließlich ist es Auda, dem die Aufgabe zufällt, unter den Stämmen eine integrative Kraft zu sein und gemäßigt mit der Zeit zu gehen. So versöhnt er modernen Wohlstand mit den nicht nur antiquierten Werten seines Vaters, wonach es andere Segnungen als das Geld gibt und die größte Gabe für den Menschen die Liebe ist.

Scholastische Spitzfindigkeiten gehören auch in den Kontext der Beststeller-Verfilmung Der Name der Rose (1986), für deren Vorbereitung sich Annaud bei Benediktinermönchen einquartierte. Die Affinität zu Umberto Ecos Roman ist verständlich bei einem Filmemacher, der mit tiefem Gefühl vor dem Glauben steht, aber Schwellenangst hat. Kritiker kreideten Annauds Adaption an, dass sie weit hinter die Ansprüche des Romans zurückfalle. Tatsächlich ist der Film wahlweise eine Verknappung oder eine Verdichtung, die sich auf die äußere Handlung eines Mittelalter-Krimis stützt und den erkenntnistheoretischen Furor Ecos zurückstellt. Abstrakte Gedankenwelten, zumal in einem von wissenschaftlich-literarischer Bildung überwucherten Buch, lassen sich nun einmal nicht verfilmen.

Der Name der Rose spielt 1327, zu einer Zeit also, in der verbissene Frömmigkeit und die Sorge ums Seelenheil unrühmliche Kapriolen schlugen. Die Inquisition, wenn auch oft im guten Glauben, schnüffelte wie ein Spürhund herum. Die kollektive Zusammenführung ganzer Landstriche unter eine gottesstaatliche Idee begann allmählich zu bröckeln. Die Zersplitterung in Wanderprediger, teils radikale Ordensbewegungen und Volksfrömmigkeit kratzte an der politischen Machtfülle des Klerus. Schon zuvor hatten die Schriften des Aristoteles in den Köpfen von Albertus Magnus und Thomas von Aquin neue theologische Gedanken angestoßen, was nicht ohne Widerspruch geblieben war. Im Roman wie im Film versteckt der blinde Jorge de Burgos das letzte Exemplar der aristotelischen „Poetik“ mit dem (tatsächlich verschollenen) Kapitel über die Komödie, die den Ernst des Glaubens ins Lächerliche ziehen könnte. Die Seiten versieht Jorge zusätzlich mit tödlichem Gift.

Der philosophisch-theologisch gebildete Franziskanermönch William von Baskerville, reif gespielt von Ex-007 Sean Connery, vertritt als eine Art Sherlock Holmes die Sache der Vernunft. Er geht apokalyptisch anmutenden Mordfällen in einer Benediktiner-Abtei nach und ist dem Inquisitor Bernardo Gui ein Dorn im Auge. William, dessen Nachname auf Arthur Conan Doyles populären Detektivroman Der Hund der Baskervilles anspielt, ist mitnichten ein James Bond des Mittelalters, wie viele angesichts der Rollenbesetzung mit Connery vorab befürchteten. Die „Lizenz zum Töten“ haben hier die Inquisitoren, und statt akrobatischer Stunts braucht es großes Kombinationsgeschick, wobei der um Demut ringende Verstandesmensch William einsehen muss, wie fehlbar auch Logik sein kann. Und wieder endet alles im Feuer: Es brennen Menschen und Bibliotheken.

Filme als Fabeln

Man kann Annauds Filme als Fabeln verstehen, die menschliches Verhalten beleuchten, was ganz klassisch auf seine Tiergeschichten zutrifft. Lange vor dem Tiger-Abenteuer Zwei Brüder (2004) und Der letzte Wolf (2015) zeigte das Der Bär (1988). Darin lässt gerade die ungezähmte Kreatur den rachsüchtigen, um sein Leben winselnden Jäger in einem Akt der Gnade am Leben. Diese Begegnung mit dem Tier verändert den Mann, sodass er nicht mehr in der Lage ist, das Gewehr auf den sich trollenden Bären abzufeuern. Er hindert sogar seinen Gefährten daran, den tödlichen Schuss abzugeben.

Wie später im Epos Sieben Jahre in Tibet über Heinrich Harrer, der sich im Land des jungen Dalai Lama zum guten Menschen bekehrt, erzählt Annaud von einer inneren Wandlung, einer Umkehr, womit sich der sonst naturalistische Film Der Bär kurz vor Schluss unmissverständlich als Gleichnis zu erkennen gibt. Annaud endet mit einem Zitat von James-Oliver Curwood, auf dessen Roman Der Bär basiert. Es wirkt wie ein nachgestelltes Motto, das auch die Blutgerichte aus Der Name der Rose meinen könnte: Der größte Nervenkitzel liege nicht im Töten, sondern darin, leben zu lassen.

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