Paulaner Derblecken in Bayern

Wer stellt sich heute den Propheten und Prophetinnen?
Foto: Privat

Zu den mich nachhaltig irritierenden kulturellen Errungenschaften Bayerns gehört das Derblecken (von Zähne blecken, Zähne zeigen), meint mit feinem Witz und manchmal auch derben Spott jemanden, in diesem Fall: Politiker von Rang, aufzuziehen und ihnen den Spiegel vorzuhalten. Inzwischen gehört die Live-Übertragung der Starkbierprobe auf dem Münchner Nockherberg zu den festen Terminen im meinem Kalender – wer live dabei sein darf, benötigt übrigens keine alpine Kletterausrüstung, denn der Nockherberg bezeichnet nur das geländegängige Isarhochufer, der Name Nockher geht auf eine Bankiersfamilie zurück. Nockherberg, das ist für mich: Eine wunderbare Erholung vom alltäglichen Leben in einer ausgenüchterten Wissenschaftssprache. Im eingeblendeten Saal herrscht eine kräftige heitere Atmosphäre. Trachten verhindern eine konsumistisch getränkte Slim-fit-Ästhetik. Und ich liebe die leicht übergewichtige Blasmusik: mächtig viel Blech. Hier feiert zugleich hochvital die Demokratie: Politiker werden durch Schauspieler-Double mit sich selbst konfrontiert und müssen die Aufführung mit sichtbarem Humor nehmen. Wer derbleckt wird und humorresistent reagiert, erlebt sein persönliches Waterloo, denn der wird ordentlich verlacht.

Der ursprünglich religiöse Hintergrund der ganzen Veranstaltung bleibt sichtbar: die Fastenpredigt. Viele, nicht alle, Schauspieler oder Kabarettisten, die bisher in die Rolle des Fastenpredigers auftraten, trugen den Mönchshabit. Fastenpredigten sind Buße-Predigten, die Klage über den sittlichen Zustand der Gesellschaft führen und Einhalt gebieten, um dem unheilvollen Treiben und der moralischen Selbstbesoffenheit ansichtig zu werden. (Zur Erinnerung für Protestantinnen: Martin Luther hat lange gezögert, ob er nicht die Buße zu den Sakramenten rechnen dürfe.) 

Von Haus aus Bettelmönche

Für Nicht-Bayern ein kleiner Ausflug in die Historie, die ein langjähriger Autor der Fastenpredigt, Hannes Burger, ehemaliger Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Wien und Prag, in seinem Buch Politiker derblecken aufblättert. Burgers Texte wurden übrigens über neun Jahre vom Volksschauspieler Walter Sedlmayr vorgetragen – das Verhältnis zwischen Autor und Promi war allerdings nicht spannungsfrei, wie Richard Winkler in einem prächtig gestalteten und ausgreifenden Coffee-Table-Book Der Salvator auf dem Nockherberg verrät. Sedlmayr zählt aber bis heute zum Heldenkanon der Fastenprediger-Darsteller.

Paulaner sind von Haus aus Bettelmönche. Die „aus der Oberpfalz hergeholten Minderbrüder vom Bettelorden der Paulaner (sollten, K.H.) sich vor allem um Seelsorge und soziale Betreuung bei der armen Dorfbevölkerung kümmern, die vor den Stadtmauern und südlich der Isar siedelte. Nur zum Arbeiten und fast bis Mitte des 19. Jahrhunderts bis Einbruch der Dunkelheit durften diese Leute in die Stadt gehen – ja nicht einmal zum Löschen, wenn es brannte. Nicht in erster Linie des Geschäftes wegen, sondern weil die armen Menschen in den Dörfern Au, Giesing oder Haidhausen ohnehin wenig zu essen hatten, darum verkauften ihnen die Mönche wenigstens ein billiges, reines und nahrhaftes Bier. Nachweislich seit 1634 brauten die Paulanermönche Bier und schenkten im Kloster Neudeck ob der Au bei München auch Bier aus.“

Der von den Privatbrauereien angezettelte Streit um den öffentlichen Bierausschank der Paulanermönche wurde erst durch ein Mandat des Kurfürsten 1751 aufgehoben. Ab jetzt konnte am „Festtag des Ordensgründers, des heiligen Franz von Paula, am 2. April“ Bier öffentlich ausgeschenkt werden. Künftig kam zu diesem Termin der Kurfürst mit Hofstaat, um das „Sanktvateröl“ zu kosten. Der schnell anwachsende Ruf des Bieres verdankte sich den Künsten des Braumeisters Frater Barnabas Still, Vorbild für die 1992 eingeführte Figur des Fastenpredigers »Bruder Barnabas«. (Kurze Zwischenfrage: Warum durfte man Starkbier in der Fastenzeit trinken? Antwort: „Flüssiges bricht das Fasten nicht.“ Genau.)

Im Faschismus verboten

Der Name Salvator als Marke, da sind sich die Fachleute nicht einig, ist entweder eine Verschleifung von »Sankt-Pater-Bier« oder geht zurück auf eine Stiftung »Salvator-Beneficium«, von der die Paulaner einen Bauernhof erwarben. Wegen des starken Erfolgs des Salvator-Biers brauten prompt auch die anderen Großbrauereien ein Salvator-Bier, erst 1896 verbot das kaiserliche Patentamt in Berlin diese Plagiate. Zu einer langjährigen Unterbrechung der Paulaner-Starkbierprobe kam es nach 1939. Faschismus und kritische Selbstbildhinterfragung gehen gar nicht zusammen. „Gar keinen Spaß haben nämlich die braunen Machthaber im sogenannten Dritten Reich verstanden. Deshalb hat die Brauerei nach der Salvator-Probe 1939 – und auch weil die Kriegszeiten eh zu ernst waren – für elf Jahre den Salvator-Ausschank ganz eingestellt.“

Erst in den fünfziger Jahren konnte die Tradition erfolgreich fortgesetzt werden, später wurde die Fastenpredigt ergänzt durch ein Polit-Musical. Ab 1987 bekam – reichlich verspätet – die »Bavaria«, die weltliche Patronin des Freistaates, einen Stammplatz im Programm. Frauenrollen wurden jetzt häufiger besetzt. „Ein Paradebeispiel dafür“, wie bekannte Hits adaptiert wurden, „war das nach der Melodie des alten Bill-Ramsey-Schlagers konzipierte Lied, mit dem die Merkel-Darstellerin Corinna Duhr 2000 sich als neue Generalsekretärin der von Helmut Kohls Schwarzgeldskandal erschütterten CDU vorstellte: »Ich bin die Zuckerpuppe aus der Schwarzgeldtruppe von der Christlichen Union. Ich bin die Ossie-Biene mit der Poker-Miene aus der Bimbes-Bastion.«

Mönchtum und Prophetie

Nochmals: Der Bettelorden der Paulaner war zuständig für die Armen und Ausgegrenzten, die sich nur stundenweise in der Stadt München aufhalten durften. Entsprechend übte die Fastenpredigt kräftige Gesellschaftskritik. Zwar zählt nach traditionellem Verständnis durch die Erbsünde jeder Mensch zur Korruptionsgemeinschaft, aber es sind nachdrücklich die Großkopferten aus Politik und Wirtschaft, die Großclans der Sünder, die zur Buße aufgerufen werden. An dieser Stelle wird eine enge Verbindung zwischen Mönchtum und Prophetie gut sichtbar. Auch im säkularen Gewand bleibt die Stoßrichtung die gleiche. Die moralische Insolvenz aller Anwesenden ist durchgängig Thema. Ein ganzes Polit-Jahr bietet ein Buffet von Steilvorlagen, die genüsslich abgearbeitet werden. Es regiert noch die männliche Metaphorik, wenn davon geredet wird, die Großkopferten bekämen den Bart ab, würden rasiert, rasiert, ja, aber nicht politisch hingerichtet.

Dramaturgisch ideal ist eine Tonhöhe und Tonschärfe, die die  Mitte hält zwischen drohender Verkumpelung zwischen den Bloßgestellten und den Vortragenden und drohender Feindseligkeit. Der Fastenprediger und die Singspieler und Singspielerinnen haben kein Adressatenproblem, denn diejenigen, die derbleckt werden, sind gleich doppelt präsent, als reale Politiker und Wirtschaftsvertreterinnen und als deren Double. Darin unterscheidet sich diese Veranstaltung von Kabarettformaten – vom Soloprogramm bis heute-show –, die Abwesende „abwatschen“. Die Zuschauerin vor dem Fernseher ist beim kathartischen Prozess hautnah dabei, erlebt mit – kann sich auch spielerisch mit der derbleckten Person identifizieren –, wie die affektive Zumutung durch das Double beim Original durch Mimik und Gestik verarbeitet wird. Fraglos sind hier diejenigen Politiker und Politikerinnen deutlich im Vorteil, die selbst einen Hang zum Spiel und zur Verkleidung haben wie der aktuelle bayerische Ministerpräsident Markus Söder, dessen lustvolle Verkleidungs-Auftritte während der Fastnacht in Franken bundesweit bekannt sind.

Die Intuition, das Derblecken neu zu deuten, kam mir bei der Lektüre des Klassikers zum Thema Prophet bei Klaus Koch, der staunend über die Gesellschaft in der babylonisch-persischen Zeit anlässlich einer Symbolhandlung des Propheten Jeremia schreibt: „Und die Gesellschaft, die sich mit solchen Propheten eine einzigartige kritische Instanz erlaubt, läßt ihn gewähren.“ Es ist auch für den Zustand in unserer Gesellschaft und einer lebendigen Demokratie eine beruhigende Gewissheit, dass wir uns in Bayern eine ins Spiel übersetzte mönchisch-prophetische Instanz leisten, die die Großkopferten und uns alle derbleckt. Das Derblecken zeichnet eine schönes Parallelbild (oder Gegenbild?) zur anstehenden Wiesn 2023.

 

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


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