Als Wolf Biermann Geschichte schrieb

Eine Ausstellung zeigt, wie ein frecher und selbstbewusster Künstler die Welt veränderte
Wolf Biermanns Konzert in der Sporthalle Köln im November 1976.
Foto: Barbara Klemm/FAZ
Wolf Biermanns Konzert in der Sporthalle Köln im November 1976.

Er war der gefährlichste Feind der SED. Sein Rauswurf aus der DDR 1976 sowie der vehemente Protest gegen diese Ausbürgerung markieren für viele den Anfang vom Ende des ostdeutschen Staates: Der Lyriker und Liedermacher Wolf Biermann eckte immer wieder an, zuerst im Osten, dann im Westen. Eine große Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin würdigt den faszinierenden Querkopf. Eine Hommage des Theologen Thomas Brose, dem Biermann schon in der DDR wichtig war.

Gleich hinter dem S-Bahnhof Friedrichstraße werden Straßen aufgerissen. Hektisch geht es dabei zu. Überall wird gebaut. Am schnellsten kommt man heute als Fußgänger über die Weidendammer Brücke mit dem eisernen Adler, Symbol von Stärke und Staatsraison. Diesen Weg ist Wolf Biermann häufig gegangen, um zu seiner bestens bewachten Wohnung in der Chausseestraße 131 zu gelangen. Der Brückengänger sah sich von dem „verhassten Vogel“ ins Visier genommen. Er wartete darauf, dass der ihn eines Tages mit seinen Krallen packen würde.

Und dass dieser Tag, als er dann kam, ein wichtiger Tag in der deutschen Geschichte wurde, das zeigt das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin in der Ausstellung „Wolf Biermann. Ein Lyriker und Liedermacher in Deutschland“. Nach einem Prolog erwartet Besucherinnen und Besucher dort ein chronologisch geordneter Rundgang, der in acht Themenräumen noch bis zum 14. Januar 2024 rund 300 Objekte auf 560 Quadratmetern Fläche präsentiert, darunter neben Abhörwanzen ein monströses „Umlauf-Karteigerät Typ KG II“, das der Staatssicherheit zur lückenlosen Überwachung ihres gefährlichsten Feindes diente. Aber da findet man auch die legendäre, im Westen produzierte Langspielplatte „Chausseestraße 131“, auf deren Cover das Wohnzimmer des so frechen wie selbstbewussten Sängers festgehalten ist. Es diente dem Regimekritiker, der ab 1965 mit einem Auftritts- und Publikationsverbot belegt war, zugleich als Bühne und Aufnahmestudio.Unter den Exponaten finden sich Familiendokumente, Plakate und 38 Medienstationen mit Film- und Tonaufnahmen, darunter Biermanns bewegendes Gespräch mit dem todkranken Freund Robert Havemann, dessen Videokassette durch den Journalisten Joachim Jauer für „Kennzeichen D“ in den Westen geschmuggelt wurde, aber auch ein Essensbehälter aus dem Zweiten Weltkrieg, in dem der Dissident seine Tagebücher verbuddelt hatte. Spannend anzuschauen sind viele Schwarz-Weiß-Aufnahmen, dabei auch eine, die den Künstler auf der Weidendammer Brücke direkt vor dem eisernen Adler zeigt. In der „Ballade vom preußischen Ikarus“ hat er später davon gesungen:

 

Als der „Nestbeschmutzer“ dann tatsächlich über den Rand des „Insellandes“ gezerrt wurde, kam das für den Regimekritiker dennoch überraschend. Der Obrigkeitsstaat zeigte seine Krallen. Kurz nach dem Kölner Konzert vom 13. November 1976 kam es zur staatlich verordneten Ausbürgerung des Dissidenten. Diese erwies sich – nach dem Mauerbau 1961 – als tiefste Zäsur der deutsch-deutschen Geschichte: „Die zuständigen Behörden der DDR haben Wolf Biermann, der 1953 aus Hamburg in die DDR übersiedelte, das Recht auf weiteren Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik entzogen“, hieß es dazu lapidar im „Zentralorgan“ Neues Deutschland.

Überall Spitzel

Ich erinnere mich, wie mir eine Schulfreundin in jenen tristen Wochen im Chemieunterricht einmal ins Ohr flüsterte. „Hast du mitbekommen, dass jetzt überall Spitzel unterwegs sind?“ Ihr älterer Bruder, der bereits das DDR-Gymnasium besuchte, hatte ihr erzählt, dass Mitschüler wegen „Unterstützung der ‚Biermann-Petition‘ jetzt von der Erweiterten Oberschule fliegen“. Es waren Nachrichten wie diese, die uns, eine Handvoll Schülerinnen und Schüler, meist aus der evangelischen Jungen Gemeinde, und mich, den einzigen Katholiken der Klasse, in jener bleiernen Zeit in Aufregung versetzten. Denn Biermanns „Ermutigung“ gehörte zur Notration unserer bedrängten Seelen: Du, lass dich nicht verhärten / In dieser harten Zeit.

Tatsächlich war nach dem 13. November, an dem der Liedermacher mit der Klampfe erstmals nach elf Jahren Auftrittsverbot wieder öffentlich gegen das Unrecht der Welt ansingen konnte, nichts mehr so wie zuvor. Das ging mir, dem knapp Vierzehnjährigen, durch den Kopf, als ich sein legendäres Konzert mit 8 000 Gästen in der Kölner Sporthalle – in einem separaten Raum der Ausstellung kann man es nochmal auf sich wirken lassen – damals im Fernsehen erlebte. In Erinnerung blieb mir, dass der Widerspenstige dabei ein großes Wagnis einging: Der 1936 in Hamburg geborene Sohn einer kommunistischen Familie, der als Sechzehnjähriger in den Osten übergesiedelt war, machte die deutsche Teilung zum Thema – und verletzte damit ein Tabu. Denn das SED-Regime war seit den 1970er-Jahren längst dabei, an einer neuen, nicht mehr gesamtdeutschen „Sichtweise“ der Geschichte zu stricken, um die längst auf höherer welthistorischer Ebene angelangte „sozialistische Nation DDR“ ein für alle Mal von der zurückgebliebenen „bürgerlichen BRD“ abzukoppeln.

Wer das heutige DHM noch als „Museum für Deutsche Geschichte“ (1952–1990) kennengelernt hat, dem kann es geradezu fantastisch erscheinen, dass der damalige Staatsfeind Nr. 1 heute im Pei-Bau direkt neben dem Zeughaus seine eigene Ausstellung erhält. Bekanntlich legte der Arbeiter-und-Bauern-Staat größten Wert darauf, sich selbst als Summe einer Geschichte von Klassenkämpfen darzustellen. Die in der „Urgesellschaft“ begonnene Menschheitsgeschichte hatte ein herrliches Ziel. Die Entwicklung lief, wie ich verdutzten Freunden aus dem Westen bis 1989/90 mit dialektisch geschultem Vergnügen anhand der Dauerausstellung erläuterte, „von der Urgeschichte bis zur Befreiung vom Faschismus“ und „zur Gründung der DDR“. Was Deutschland betraf, war geschichtsdidaktisch also alles klar. Aber der Fortgang der Entwicklung sah dann ganz anders aus.

Dass das Regime nämlich, ohne es zu ahnen, mit Biermanns Rauswurf den Startschuss für den eigenen Untergang gegeben hatte, war im November 1976 selbst dem ausgebürgerten Protagonisten nicht bewusst. Aber spätestens dreizehn Jahre später wurde es für alle sichtbar: als dem mit Rost bedeckten Eisenvogel die Krallen ausfielen und der „in Haut, Brust und Bein“ eingewachsene Stacheldraht im Mai 1989 zuerst an der österreichisch-ungarischen Grenze und später in Berlin zerschnitten wurde.

„Wir protestieren gegen seine Ausbürgerung und bitten darum, die beschlossene Maßnahme zu überdenken“, lautet der Schlusssatz der „Erklärung Berliner Künstler vom 17.11.1976“. Zwar hatte das Politbüro mit scharfen Reaktionen westlicher Medien gerechnet, sah sich aber nach Biermanns Ausbürgerung mit dem Protest herausragender Repräsentanten der DDR-Kultur konfrontiert. Damit fand der Burgfrieden zwischen Staatsmacht und Kulturschaffenden ein dramatisches Ende. Die „Biermann-Petition“ wurde neben Christa Wolf, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Heiner Müller und Günter de Bruyn auch von TV-Stars wie Angelica Domröse und Manfred Krug unterschrieben, die bald darauf in den Westen ausreisten.

In der Ausstellung werden an weiteren Stationen „Wolf Biermann in der Bundesrepublik“ sowie seine Beziehungen zur „Bürgerrechtsbewegung in der DDR“ thematisiert. Der Künstler, der anfangs Schwierigkeiten hatte, im Westen heimisch zu werden und Lieder über Umweltschutz, über die Grünen, über Rechtsextremismus und Gorleben schrieb, erkannte in den 1980er-Jahren, dass er durch seine Fixierung auf die „alte Heimat“ noch lange über seine Zeit in der DDR hinaus dem Konzept „lieber Diktatur des Proletariats als Demokratie“ verpflichtet gewesen war. Dies alles änderte sich jedoch, wie die Ausstellung anschaulich macht, als die Mauer fiel: Hatte man den ewigen Störenfried noch daran gehindert, an der Kundgebung am 4. November 1989 mit Hunderttausenden auf dem Alexanderplatz teilzunehmen, gab er bereits am 1. Dezember ein umjubeltes Konzert in Leipzig und unterstützte Anfang 1990 die Besetzung der Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße.

Ermordeter Vater

Die Schau im DHM zeigt aber nicht nur den Polit-Rebellen, sondern rückt gegen Ende mit „Wolf Biermann und die Juden“ ein Thema in den Fokus, das im Leben des Sechsundachtzigjährigen immer mehr an Bedeutung gewonnen hat: seine jüdische Herkunft. Nicht dass Biermann selbst ein religiöses Bekenntnis ablegte, aber bereits mit seiner Übersetzung von Jizchak Katzenelsons Poem (1994) über den Aufstand im Warschauer Ghetto sowie mit wiederholten Besuchen in Israel knüpfte er an die Geschichte seines Vaters, Dagobert Biermann, an, der als Jude und Kommunist in Auschwitz ermordet worden war und dessen vergrößertes Passfoto gleich am Eingangsbereich der Ausstellung zu sehen ist.

Der gelernte DDR-Bürger empfand sich lange Zeit als „religiös unmusikalisch“ (Max Weber). Er erkannte später aber an, dass Religion nicht Opium, sondern Ermutigung und Kraft zum Widerstand gegen Unrechtsverhältnisse sein kann: „Nimm nur die Schwarze Madonna von Tschenstochau! Diese katholische Freiheitsgöttin kämpfte auf Seiten der Gewerkschaft Solidarność in Danzig … Und genauso ermutigte der Glaube an Gott auch eine tapfere Schar echter Christen in der DDR zur Insubordination. Solche echten Protestanten und Katholiken wurden von der Partei bevorzugt … verfolgt. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Christenmensch in der DDR zum Menschenschweinehund mutiert, war kleiner als im Westen. Ich erlebte, daß wirklich treue Hirten und echt fromme Schafe – was Wunder! –, daß diese gläubigen Menschen meine natürlichen Verbündeten waren im Kampf gegen den Stalinismus“, schrieb Biermann in dem 2021 erschienenen Band Mensch Gott! Erst nachdem der einstige Kommunist seinen „Kinderglauben“ verloren hatte – so ist im gleichen Band nachzulesen –, konnte er sich für andere Länder und Glaubensweisen öffnen, für Frankreich und Israel: Dies Höllen-Heimweh trieb mich weg vom Vaterlande / Ins Land der Troubadours, wo Wein wächst wie die Lieder / Es trieb mich auch ins Land der Väter, fern am Rande / Traf dort drei Tausend Jahre alte Freunde wieder. Sein Interesse für das „Land der Väter“ hat wiederum vor allem mit dem eigenen Vater zu tun, von dem die Mutter täglich erzählte.„Allein in meinem kurzen Menschenleben fraß ich / Zwei Diktaturen, schluckte mehrere Epochen“, schreibt der Dichter selbstbewusst. Durch die aktuelle Berliner Ausstellung kann er sich in dieser Überzeugung bestätigt fühlen. Aber wichtiger als Selbstlob ist dem Künstler, dessen „Ermutigung“ längst Platz in einem schwedischen Kirchengesangbuch gefunden hat, die Erinnerung an den ermordeten jüdischen Vater. Der Sohn hat ihm ein Denkmal gesetzt:

Um meinetwillen – Erez Israel

Ach was! doch nicht um Himmels willen, nein:

Um meinetwill’n gibts Israel, den Staat

Damit auch Schlosser Dago Biermann weiß

Wo er nach Auschwitz noch ’ne Bleibe hat

Mir lebn ejbig – doppelt ewig! Denn

Mein Vater überlebt ja auch in meinem Lied


 

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