Wahrnehmen!

Aktuell: Kirche und Macht

Über Macht in der Kirche wird angesichts des Missbrauchsskandals derzeit mehr gesprochen: Es wurde Zeit! Denn völlig zu Recht merkt Michael Klessmann gleich im ersten Satz seines jüngsten Buches an, dass das Thema bis dato in Kirche und Theologie wie ein „Stiefkind“ behandelt wurde. Er bietet dazu eine überzeugende These an: Durch die „negative Moralisierung“ von Macht in der Verkündigung Jesu sei sie im Christentum nur mit sehr spitzen Fingern angefasst worden. Gerade das verschleiere aber, dass in allen kirchlichen Vollzügen selbstverständlich Macht eine Rolle spiele. Das Buch will den Machtdynamiken in den kirchlichen Handlungsfeldern zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen, denn gerade verschwiegene und subtile Macht erscheint problematisch. Die Wahrnehmung von Machtstrukturen hingegen helfe, reflektiert mit ihnen umzugehen.

Klessmann setzt bei den Ambivalenzen von Macht an, entsprechend neutral und unaufgeregt klingt seine Ausgangsdefinition: Macht besteht in den „gestaltenden Fähigkeiten menschlichen Handelns“ (Anthony Giddens). Im Durchgang durch die Theoriebildung in Theologie und Nachbarwissenschaften entwickelt das erste Kapitel ein Instrumentarium von Machttypen, von denen im Weiteren besonders die Begriffe der „Deutungsmacht“, der „Pastoralmacht“ (nach Michel Foucault) und die Idee der „Figurationen“ von Macht (nach Norbert Elias) zentral werden, die Macht als Beziehungsphänomen aufschlüsselt.

Das zweite Kapitel nimmt die religiöse Erfahrung der Macht des Heiligen (nach Rudolf Otto) in den Blick, ihre Verarbeitung in Metaphern und Gottesbildern, im Glauben, in der religiösen Tradition bis hin zu Sekten und Psychokulten. In den folgenden Kapiteln werden unter den Gesichtspunkten von Macht und Ohnmacht die Felder Ekklesiologie und Kirchentheorie, Amtsverständnis, Liturgik, Predigt und Seelsorge historisch wie systematisch rekonstruiert.

Klessmanns souveräne und nie unnötig komplizierte Verarbeitung zentraler Aspekte und Theorien macht das gut lesbar und klar verständlich: Wer etwa seine Auseinandersetzung mit dem Deutungsmachtanspruch der Predigt gelesen hat, hält oder hört die nächste Sonntagspredigt hoffentlich anders und bewusster. Mit Blick auf die Ausgangsthese liegen die besonders erhellenden Pointen vor allem in den Kapiteln zu Amt und Dienst in der Kirche. Eindrücklich hält das Buch hier gerade den Pfarr- und Leitungspersonen den Spiegel vor, so etwa: Die eigene Rolle als Dienst zu verstehen und sine vi, sed verbo (CA XXVIII) auszufüllen, befreit nicht davon, Leitung wahrzunehmen. Bedenklich erscheinen die gängige Dienstmetapher und die egalitäre Rede von der Geschwisterlichkeit, wenn sie die faktische Pastoralmacht des Pfarramtes und die nötigen Leitungs- und Machtstrukturen in der Kirche oder gar narzisstische Persönlichkeitsanteile im Amt verdecken. Wenn Klessmann einen „gereiften Narzissmus“ für Pfarrpersonen einfordert und auf die Verlockungen der Macht des Helfens hinweist, mag das für manche Ohren durchaus herausfordernd klingen.

Auf sechs Seiten thematisiert Klessmann dann auch explizit die sexualisierte Gewalt und den damit verbundenen Machtmissbrauch in der Kirche. Das ist auf den ersten Blick erstaunlich wenig, auf den zweiten Blick aber stimmig, denn das ganze Buch – mit seinem Ziel, die Wahrnehmung für die ambivalenten Figurationen von Macht und Ohnmacht in der Kirche zu schärfen – lässt sich letztlich als Beitrag zur Tiefenstruktur der aktuellen Debatten lesen.

Das Buch endet mit einigen teils auch unbequemen Anregungen zu einer machttransparenten Kirche: etwa auf Deutungsmacht bewusst zu verzichten, die theologische Fragerichtung umzukehren und radikal von den Menschen zu den Inhalten zu denken oder eben mit der Dienstrhetorik machtsensibler umzugehen. Das Buch ist so ein wichtiger Beitrag zur rechten Zeit.

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Foto: Michael Greder

Hendrik Meyer-Magister

Dr. Hendrik Meyer-Magister  ist Studienleiter für Gesundheit, Künstliche Intelligenz und Spiritual Care an der Evangelischen Akademie Tutzing.


 

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