Anspruchsvoll

Über das Wesen der Kirche

Ich bin 75 Jahre alt. Hauptamtlich tätig war ich in der verfassten Kirche in unterschiedlichen Funktionen – 43 Jahre lang. Der evangelische Theologe Michael Weinrich fragt: „Welche Kirche meinen wir?“ Und er antwortet mit siebzehn Kapiteln auf 436 Seiten. Sie sind für mich die anspruchsvollste Ekklesiologie, die ich in meinen Jahren gelesen habe. Nunmehr finde ich in ihr eine Hilfe, meine Berufszeit zu überdenken und auf eine bessere Kirche zu hoffen.

Michael Weinrich, Jahrgang 1950, war Hochschullehrer in Siegen, Paderborn, Berlin und Bochum. Seine Ekklesiologie ist kein Abriss der Lehre von der Kirche. Es handelt sich vielmehr in klarer Systematik um Studien, die jeweils im Horizont der kirchlichen und ökumenischen Wirksamkeiten des Autors entstanden sind. Mithin sind hier nicht zu finden zeitlose Texte – etwa nur für Studierende, die sich aufs Examen vorbereiten –, sondern überdachte und erweiterte Niederschriften von Vorträgen, die zunächst in einer bestimmten evangelischen oder ökumenischen Zusammenkunft zur Diskussion gestellt wurden.

Eine „Bibelarbeit“ bildet den Abschluss des Buches: „Das Geheimnis der Kirche nach dem Evangelisten Lukas“. Die Emmaus-Erzählung (Lukas 24) wird ausgelegt. Diese wurde gehalten vor der Hauptversammlung des Reformierten Bundes in Emden 1998. Weinrich überschreibt sie so: „Und zum Schluss der Anfang – Anstelle eines Nachworts“. Wäre es nicht gut gewesen, dieses letzte Kapitel tatsächlich als Vorwort zu gebrauchen? Denn hier finden sich Prämissen dieser Theologie:

„Nur im Horizont der Auferstehung Jesu lässt sich ein Verständnis der Kirche finden“; „Gottes Nähe entzieht sich unserer Regie, auch wenn wir uns ausdrücklich zu ihr aufmachen“; „Der heilige Berg war immer für eine Überraschung gut. Und ohne Furcht und Zittern ist es niemals dabei abgegangen“; „Wenn es um das Leben nach dem Tode geht, dann helfen keine theologischen Diskussionen, deren Vorstellungshorizont bleibt zwangsläufig (!) auf die Welt vor dem Tod begrenzt.“

Und dann folgt zum Abschluss des Buches ein schlichter Satz. Er nennt elementar die Bedingungen, die unabdingbare Voraussetzung kirchlicher Existenz: „Setzen wir doch darauf, dass der Auferstandene auch uns selbst begleiten wird, wenn wir ihn in der Bibel suchen, so dass uns die Herzen brennen und er sich uns als lebendig erweisen wird.“

Hier wird einmal mehr deutlich: Da schreibt einer, der nicht die Kirche in den Griff kriegen will. Das Buch enthält keine Rezepte dafür, wie verfasste Kirchen und ihre Gemeinden die Mitgliedszahlen und die Kirchensteuern mehren oder nur eben festhalten können. Auch sind keine Empfehlungsschreiben zu finden, wie es gelingen könnte, Missbrauchsgeschichten zu bewältigen, Buße zu tun, neues Vertrauen zu gewinnen und die Botschaft zu elementarisieren. Aber Anhaltspunkte für dies alles sind zu lesen – über die Verheißung und Grenzen kirchlichen Redens und Handelns: „Die Bestimmung und Verheißung der Kirche gehen stets über das hinaus, was auch in der vollkommensten Gestalt (der Rezensent ergänzt: auch in der erbärmlichsten Gestalt) der geschichtlich verfassten Kirche in Erscheinung treten mag.“ Und warnend: „Theologische Mutmaßungen können schnell einen vor allem Gott gegenüber zudringlichen Charakter bekommen, zumal Theologen ja ohnehin immer leicht dazu neigen, über Gottes Handeln und Planen deutlich besser Bescheid zu wissen, als er uns zu wissen mitteilen wollte.“

Weinrichs Axiom für die ganze Ekklesiologie besteht darin, dass er die „immer wieder neu zu hörende Anrede Gottes“ erwartet und wahrnimmt, aber auch Gottes Schweigen respektiert – und fürchtet.

Für mich sind die vier wichtigsten Kapitel „Kirche der Freiheit – Freiheit der Kirche. Perspektivenwechsel“ (Kapitel 5); „Die Kirche als Volk Gottes an der Seite Israels“ (Kapitel 4) und die beiden Kapitel zum Bilderverbot: „Die Profanisierung der Bilder“ und „Die Wahrheit des Bilderverbots“ (Kapitel 13 und 14). Wegen dieser von Weinrich herausgearbeiteten Aktualität des zweiten Gebots lohnt es sich, weiterhin „reformiert“ zu sein

Kritik: Leider ist das Buch teuer. Trotzdem lohnt sich der Kauf. Des Weiteren müssen vier englische Texte übersetzt werden. Das ist mir zu mühsam. Rosemarie Weinrich – Ehefrau des Autors – hat durchaus dann und wann recht, wenn ihr Mann im Vorwort deren „Verwunderung“ darüber mitteilt, „dass es auch bei einigermaßen klar erscheinenden Problemkonstellationen so vieler Worte und teilweise komplizierter Gedankenverschränkungen bedarf“.

Der Rezensent bleibt gespannt und ungeduldig, wie Michael Weinrich „die ökumenischen Konsequenzen und Konkretionen dieser Ekklesiologie in einem bald folgenden weiteren Band zur Diskussion stellen wird“

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Rezensionen